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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

529–531

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Krumeich, Gerd, u. Hartmut Lehmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

"Gott mit uns". Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. VI, 322 S. m. Abb. gr.8 = Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 162. Lw. ¬ 34,00. ISBN 3-525-35478-9.

Rezensent:

Martin Greschat

Der Band enthält 16 Beiträge, die aus einer 1998 veranstalteten Tagung zum Thema erwachsen sind. In einem ersten Teil geht es um die "Inneren und äußeren Feinde der Deutschen" (7-87). Durch die Gegenüberstellung zum "Kriminellen" (Peter Becker, 9-33), zum "Welschen" (Ute Schneider, 35-51), "den Polen" (Berit Pleitner, 53-72) sowie, einmal mehr, den "bösen Juden" in den Werken von Gustav Freytag und Wilhelm Raabe (Peter Schumann, 73-87) wird das Eigene, Gute, nämlich Deutsche, umso idealer modelliert und profiliert. Fraglos bedeutete der Aufstieg des Nationalismus eine mächtige Ausweitung und Steigerung der traditionellen Abgrenzung einer Gruppe von anderen mitsamt der auf diese Weise herbeigeführten Selbstdefinition. Doch die Frage, welche Veränderungen sich dabei exakt vollzogen, bis hin zur Konzeption des "Vaterlands der Feinde" (Jeismann), wird leider lediglich im Artikel von Ute Schneider angesprochen.

Die Verbindung und Verschmelzung von Nation und Religion beleuchten sieben Studien im zweiten Teil des Buches ("Die Deutschen, ihr Gott und ihre Vergangenheit", 89-230). Hartmut Lehmann schildert die "langanhaltende Wirkung der Lutherdeutung" Treitschkes (91-103). Diese beruhte, erfahren wir, auf einer von der Theologie losgelösten, umfassend "deutschen" Interpretation des Reformators. Das ist überzeugend. Aber Lehmann überzieht den historischen Befund, wenn er diese Deutung erst nach 1945 langsam sich auflösen sieht. Karl Holls Lutherbuch (1923) und die damit einhergehende "Lutherrenaissance" haben jedenfalls Gerhard Ritter und Paul Althaus mindestens so sehr geprägt wie Heinrich von Treitschke.

Die Stilisierung Friedrichs des Großen mittels des Chorals von Leuthen zum protestantischen Helden behandelt Bernhard R. Kroener (105-134). Dass dazu ein "aggressiver Nationalprotestantismus nach 1871" geführt habe (13) wird freilich nicht entfaltet, sondern einfach postuliert. Den Prozess der "Dämonisierung Napoleons" untersucht Erich Pelzer (135-156). Wichtig sind seine, wenn auch nur sporadischen Hinweise auf spanische, russische und englische Parallelen. Wie fern dem Autor freilich der historische christliche Kontext steht, belegt etwa seine Aussage - die noch dazu als Referat von Gerhard Kaisers Buch "Pietismus und Patriotismus" auftritt - es habe drei pietistische Gruppen gegeben, nämlich Zinzendorfs Brüderunität, die Hallenser "und die Herrnhuter" (140)!

Wie fruchtbar eine komparatistische Betrachtensweise sein könnte, zeigt der Beitrag von Daniel Mollenhauer über die Interpretation der Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870/ 71 durch französische Katholiken (157-171). Dabei handelte es sich um die Strafe für den religiösen und moralischen Abfall des Volkes von Gott und seiner Kirche, lautete die Auskunft. Diese Züchtigung erfolgte jedoch in heilsamer Absicht. Denn wenn die Bevölkerung begriff, um was es ging, und Buße und Umkehr vollzöge, würde Gott Frankreich erneut groß machen und diejenigen zerbrechen, die jetzt triumphierten. Dass diese Deutung der Geschichte in breiten Kreisen der Bevölkerung verankert war, verwundert nicht: Handelte es sich dabei doch um das traditionelle deuteronomistische Geschichtsbild des Alten Testaments, das u. a. in Deutschland nach 1945 noch eine wesentliche Rolle spielte.

Überlegungen zu "Bismarcks Religiosität" stellt Lucian Hölscher an (173-192). Zu Recht kritisiert er das Konstrukt einer "religiösen Persönlichkeit". Aber handelt es sich nicht ebenfalls um ein Konstrukt, wenn er hofft, durch die Erhellung der "politischen Funktion religiöser Äußerungen" (183) das Phänomen in den Griff zu bekommen? Müsste man hier nicht zunächst einmal exakt definieren, was mit "Religion" und "Religiosität" gemeint ist - und was nicht? Diese Frage muss noch entschiedener und grundsätzlicher an die Abhandlung von Stig Förster über die religiöse Einstellung der deutschen Offizierselite von 1870 bis 1914 gerichtet werden (193-211). Der Autor siedelt sie "zwischen Religion und Sozialdarwinismus" an. Auf der Basis eines unreflektierten Säkularisierungskonzepts konstatiert er den Niedergang "der Religion" - weshalb die Kirchen folgerichtig zur "Anpassung an den nationalistischen Trend" genötigt gewesen wären (195). Die "Religion an sich" findet Förster naturgemäß nicht (207), woraus er folgert, dass sie im Leben und Handeln dieser Offiziere keine Rolle gespielt habe. Die Berufung darauf diente also lediglich der Unterdrückung und Ausnutzung der unteren Klassen! Sorgfältig und überzeugend schildert dann Jakob Vogel die mythische Erhebung Kaiser Wilhelms I. (213-230).

Unter der Überschrift "Die Deutschen, ihr Gott und die Zukunft" stehen schließlich fünf Aufsätze (231-317). Plausibel arbeitet Gangolf Hübinger die Konzeptionen von "Thron und Altar", die "nationalistische Selbstmobilisierung" sowie die "völkische Bewegung" als spezifische Formen des deutschen politischen Protestantismus um 1900 heraus (233-247). Mit dem im Wesentlichen bekannten Material schildert Wolfgang J. Mommsen "die nationalistische Umdeutung der christlichen Botschaft" im Ersten Weltkrieg (249-261). Recht einseitig sieht Roland Haidl in der katholischen Militärseelsorge im Ersten Weltkrieg nur das Bestreben, "skrupellos" Vorteile für die eigene Konfession zu erlangen (263-271). Gerd Krumeich erwägt sodann, ob die totale Kriegführung, die sich im Ersten Weltkrieg durchsetzte, nicht in Analogie zu einem Religionskrieg gesehen werden müsse (273-283). Friedrich Wilhelm Graf fordert zuletzt von der historischen Nationalismusforschung eine ernsthaftere Berücksichtigung theologischer Fragestellungen und Ergebnisse (285-317). Seine eigenen Überlegungen zur Deutung des Nationalismus, von Integration und ausgrenzenden Feindbildern, Mobilisierung und Gewaltbereitschaft, Grenzerfahrungen sowie dem Sterben im Krieg auf Grund von konfessionell geprägten Deutungsmustern sind hier nicht zu diskutieren. Wie berechtigt jedenfalls seine Feststellung des "Theologiebedarfs" ist, belegen leider mehrere Artikel in diesem Band.

Das Buch vermittelt vielfältige wichtige Einsichten und Anregungen. Aber es enttäuscht doch auch. Die eingangs formulierten Fragen (1-6) nach dem Zusammenhang von Nation, Religion und Gewalt, der Etablierung einer nationalistischen Ersatzreligion, voranschreitender Säkularisierung oder der Instrumentalisierung der Religion für die Nation werden nur sporadisch angegangen. Die Beschreibung dominiert, die Analyse bleibt weit dahinter zurück. Als ausgesprochen defizitär muss auch das Interesse am interkonfessionellen und internationalen Vergleich bezeichnet werden. Die Literatur über die Symbiose von Christentum und Nationalismus im spanischen oder russischen Kampf gegen Napoleon kommt nicht wirklich in den Blick. Und wenn es denn primär um den Protestantismus gehen soll: Warum ist z. B. nicht von den informativen Auseinandersetzungen zwischen Anglikanern und Freikirchlern in England während des Burenkrieges die Rede? Oder von der überaus effizienten Verschmelzung von Nationalismus und Christentum in Dänemark durch das Wirken von Grundtvig? Weitere Beispiele wären unschwer hinzuzufügen. Auf diesem Hintergrund mutet die Konzeption des vorliegenden Bandes provinziell an. Als "typisch deutsch" oder "deutsch-protestantisch" erscheint dann schnell, was sich in einem weiteren Kontext womöglich ganz anders darstellen würde. Dieser Einwand basiert nicht auf irgendeinem apologetischen Interesse. Es geht vielmehr um das Ernstnehmen des Faktums, dass die Thematik, die in diesem Buch behandelt wird, eine gesamteuropäische ist, die dementsprechend auch wissenschaftlich in diesem Rahmen behandelt werden muss.