Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

523 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hellmann, Martin

Titel/Untertitel:

Tironische Noten in der Karolingerzeit am Beispiel eines Persius-Kommentars aus der Schule von Tours.

Verlag:

Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2000. XXVIII, 266 S. m. Abb. gr.8 = Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte, 27. Geb. ¬ 30,00. ISBN 3-7752-5727-6.

Rezensent:

Gert Haendler

Ein Forschungsbericht "100 Jahre Monumenta Germaniae Historica 1819-1999" hatte in ThLZ 125, 2000, 453-467, auf das ehrwürdige Editionsunternehmen MGH hingewiesen. Normalerweise bieten die MGH Texte des Mittelalters, die neu gefunden oder erschlossen wurden, mitunter auch neu bearbeitete Ausgaben von schon bekannten Texten. Der hier anzuzeigende Band fällt etwas aus diesem Rahmen und zeigt, wie weit gespannt der Rahmen der MGH gelegentlich sein kann. Die Neuphilologische Fakultät der Universität Heidelberg hat die von Walter Berschin betreute Dissertation 1999 angenommen, das Cusanuswerk hat das Projekt durch jahrelange reichhaltige Förderung ermöglicht.

Der Band bringt zwar auch einen Text: Die Satiren des Persius vertreten eine stoische Moral, die dem Christentum nicht fern steht (113-186). Dem Hg. geht es jedoch vor allem um die Tironischen Noten, eine Art von Stenographie. Er sagt dazu im Vorwort: "Um den Leser möglichst unmittelbar mit der Formenwelt und dem fremden Schriftsystem der tironischen Noten konfrontieren zu können, habe ich den elektronischen Zeichensatz Liutramus entwickelt, der nach einem nur namentlich bekannten Schreiber tironischer Noten in der karolingischen Schule von Tours benannt ist". Die stenographischen Noten erlauben "dem Schreiber die Anpassung an unvorhergesehene Platzverhältnisse und garantiert dem Leser die Übersichtlichkeit, durch die insbesondere der kommentierte Text nicht im Kommentar untergeht" (3).

Eine Karte zeigt die weite Verbreitung der tironischen Noten nach der Schriftheimat der Denkmäler (21). In Italien hatte vor allem die Schule von Verona Bedeutung für den Zeitraum vom 5. bis 15. Jh. (17). Im karolingischen Frankenreich spielte die Schreibschule von Tours bekanntlich die führende Rolle. "Eine ganze Gruppe von Handschriften des 8. Jahrhunderts lassen sich gerade dadurch dem Martinskloster in Tours zuweisen, daß sie Lagenkontrollvermerke in tironischen Noten aufweisen". Schon vor den karolingischen Reformen gab es in Tours Gelehrte, die die volle tironische Schreibfertigkeit besaßen. "In der Blütezeit des Skriptoriums in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ist die mit tironischen Noten vermischte karolingische Minuskel die typische Gelehrtenschrift" (20). Das Verbrüderungsbuch von St. Gallen überliefert der Nachwelt die Namen von 15 Schreibern, die im Martinskloster von Tours gearbeitet haben (24).

Die dem Theologen bekannten "Alkuinbibeln" kommen nur kurz in den Blick: Aus diesen Bibeln werden vier Priszian-Handschriften näher genannt (37 f.). Wichtig ist für den Vf., dass die bekannte Gelehrtenschule von Tours auch von den tironischen Noten her "paläographisch greifbar" wird (39). Zur Schreibausbildung in Tours gehörte im Anfang des 9. Jh.s offensichtlich auch eine gewisse Kenntnis der tironischen Noten.

Der Abschnitt III/2 unter der Überschrift "Karolingische Theologie in einem Klassiker-Kommentar" erörtert die Stelle III/68 (182), die H. übersetzt widergibt: "[...] wie wurde uns der große Antrieb zur Barmherzigkeit gegeben? Weil wir dafür geschaffen wurden, damit ihr euch der anderen Menschen erbarmt und ihre Schwächen gegenseitig mitleidet. Und woher wird jene weiche Biegung gegeben, d. h. jenes Mitleid? Wohl aus dem Mitgefühl der Natur, denn gegenseitig müssen wir unsere Schwächen mitleiden. Barmherzigkeit ist daher eine Sache der Natur. Das Mitgefühl macht jeden Menschen jedem Menschen zum Nächsten. Die Vermehrung der Menschen geschah nämlich deswegen, damit wir uns gegenseitig helfen" (117 f.). Eine tironische Note vermerkte: "Misericordia res est naturae" (114). Der Hg. stellt dazu fest: "Das Vokabular (misericordia, motus, proximus) ruft als Hintergrund das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Luc. 10,23-37) auf" (118). Wichtig ist, dass gerade ein Samariter geholfen hat. Der Kommentar zu Persius will sagen: "Die Nächstenliebe ist demnach keine Handlungsanweisung des Meisters an seine Jünger, sondern wird jedem Menschen in der Form eingegeben, daß der im Affekt von Barmherzigkeit bewegt ist" (118).

Der heidnische Dichter Persius ist Zeuge für diese Meinung. H. sagt: "Dieser Gedanke ist zur Sentenz geworden und scheint in der karolingischen Theologie eine Rolle gespielt zu haben" (118). Als Beleg zitiert er aus einer Predigt, die Heiric von Auxerre gehalten hat. H. folgert, dass der Prediger Heiric vermutlich den Persiuskommenter "kennenlernte, studierte und verarbeitete" (118). 12 Seiten Faksimiledruck zwischen den Seiten 52 und 53 vermitteln einen optischen Eindruck der damaligen Schreibweise, umfangreiche Register beschließen den gelehrten Band (187-266). Primär wird die Dissertation kompetente Spezialisten weiterführen, aber sie wird auch andere interessierte Leser finden.