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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

502–505

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kossmann, Ruth

Titel/Untertitel:

Die Esthernovelle. Vom Erzählten zur Erzählung. Studien zur Traditions- und Redaktionsgeschichte des Estherbuches.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2000. X, 400 S. gr.8 = Supplements to Vetus Testamentum, 79. Geb. ¬ 116,00. ISBN 90-04-11556-0.

Rezensent:

Harald Wahl

Lange in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s hielten sich die persische Königin und auch ihr jüdischer Onkel Mordechai vor allem vor der deutschsprachigen Exegese in ihren Gemächern versteckt. Kein einer (west)deutschen Feder entspringender Kommentar, keine Dissertation, ja nicht einmal ein wesentlicher Forschungsbericht widmete den beiden Prototypen jüdischer Existenz in der persischen Diaspora eine gewisse Aufmerksamkeit, um so die Neugier einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu wecken. Allerdings zeichnete sich bei der Megilla innerhalb des geteilten Deutschlands ein gesondertes Forschungsinteresse ab. Es ist das bleibende Verdienst des Leipziger Alttestamentlers Hans Bardtke und des Naumburger Exegeten Arndt Meinhold, mit ihren grundlegenden Studien die Megilla davor bewahrt zu haben, dass sie ganz im Staub der Regale versinkt.1

Erst in den letzten eineinhalb Dekaden ist international eine gewisse Renaissance der Erforschung des Büchleins zu notieren. Den Auftakt machte die 1984 erschienene Studie von David J. A. Clines The Esther Scroll. In ihr untersuchte Clines erstmals grundlegend das Verhältnis der drei schriftlichen Überlieferungen (M, griechische Kurzfassung = A und griechische Langfassung der Septuaginta mit den Zusätzen = B), die nicht nur quantitativ, sondern auch theologisch erheblich divergieren. Die von Clines angestoßene Diskussion erlangt mit der Studie von Ruth Kossmann ihren vorläufigen Höhepunkt. Auf über vierhundert Druckseiten versucht die von Edward Noort, Groningen, betreute Dissertation ganz dem Untertitel entsprechend die Genese von einer mündlichen Erzählung bis hin zu der uns vorliegenden komplexen Textfassung traditions- und redaktionsgeschichtlich nachzuzeichnen.

Machen wir uns also auf den steinigen Weg Vom Erzählten zur Erzählung, der, hermeneutisch betrachtet, genau umgekehrt ein Weg von der textlichen Endgestalt der Erzählungen über die Redaktionsstufen hinweg zu einer schriftlichen Vorlage ist. Dabei konzentriert sich K. auf die Kap. 1-7* der textlichen Überlieferung, die Kap. 8-10* sowie die späten griechischen Zusätze (A-F) schließt sie zunächst aus. Methodisch führt die Beobachtung und Beschreibung stilistischer und literarischer Eigenheiten der Texte dazu, "ursprünglich selbständige Erzähleinheiten auszumachen und gegebenenfalls zu rekonstruieren" (3).

Mit einer gewissen Präferenz für den A-Text stellt sie die drei Überlieferungen synoptisch nebeneinander (34-41.76-78. 104-107.115.139.150-151.156-157.161-163.177-178,187- 189, 207-208). Diese Synopse ermöglicht nun, die einzelnen Motive, Theologumena und rhetorischen Figuren deutlich voneinander zu konturieren. "Erst ein Vergleich dieser drei Versionen ermöglicht eine Diskussion um Unterscheidungskriterien, wirkliche Naht- und Bruchstellen und der inneren Kohärenz der jeweiligen Quellen" (30). In einem weiteren Schritt hebt sie dann "die aus diesen Einzelerzählungen entwickelte Komposition der Esthererzählung von dem überlieferten Esth-Text" ab, "um schließlich die Aspekte offenzulegen, die dazu führten, daß aus der Erzählung ein dem biblischen Kanon zugeordnetes, literarisches Werk, das Esth, geformt wurde" (3).

Im Vergleich der drei Texte findet K. drei voneinander unabhängige Erzählungen: Die Vasti-Erzählung (VE), die Haman-Mordechai-Erzählung (HM) und die Haman-Mordechai-Königin-Erzählung (HMK). Die VE umfasst Kap. 1,1-3,1* (Synopse, 34-41). Diese Hochzeitserzählung berichtet von der ungehorsamen Königin Vasti, die auf den Rat des nur im A-Text erwähnten Bougaios (49-55) hin abgesetzt wird. An ihrer Stelle wird die auch von Bougaios favorisierte Esther gekrönt (Textrekonstruktion, 68-69).

Die HM ist einer höfischen Weisheitserzählung verwandt, die den Konflikt zwischen Haman und Mordechai schildert (Synopse, 76-78, 104-107, 115, 139). Durch die Aufdeckung des Komplotts (2,21-23*) und die gewährte Ehrung begünstigt der König den höfischen Juden (6,1-14*). Der entfachte Neid Hamans und sein Sturz ist das basale Motiv dieser Hoferzählung, die unter dem weisheitlichen Motto "Hochmut kommt vor dem Fall" steht (120-121). Redaktionell ist sie vor allem um 5,10-14* (115-117) erweitert (Textrekonstruktion, 144).

Als dritten Text macht K. die HMK aus. "Anders als die HM und die VE ist die HMK deutlich schwieriger aus dem Gesamttext des Esth herauszulösen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Grundthematik des HMK, die Ehrverweigerung Mordechais viel bedeutungsvoller für den Verlauf der gesamten Esth ist, als der Konflikt der HM, der im Neid Hamans gegenüber Mordechai begründet ist" (145). Dennoch lässt sich ein gewisser Erzählzusammenhang erkennen, der im wesentlichen die Texte 3,1-6*, 4,1-17*, 5,1-9*, 5,9-14*, 7,1-10*, 8,1-3* dieser Hoferzählung umfasst (Synopse, 150-51, 156-157, 161- 163, 177-178, 187-189, 207-208). Mordechai weigert sich, vor dem erhobenen Haman niederzuknien. Der beleidigte Statthalter plant sodann, den Juden wegen der ihm verweigerten Ehrerbietung zu töten. Esther kann die Gunst des Königs gewinnen und die von Haman und seiner Familie beschlossene Hinrichtung Mordechais abwenden. Als die Königin das perfide Komplott aufdeckt, lässt der König Haman exekutieren und erhebt den loyalen Mordechai zum Statthalter (Textrekonstruktion, 211-212).

Literarisch in exilisch-nachexilischer Zeit verknüpft, bilden die drei einzelnen Erzählungen (VE, HM und HMK) die Grundlage der Esthererzählung (Pre-Esth), wie sie redigiert dann in Kap. 1-7* abgebildet ist (Textrekonstruktion, 254-256). Von ihr ist wiederum die für M und A gemeinsame semitische Vorlage (Proto-A) abhängig (322-323). Die Esthererzählung wurde dann von einer Jüdischen Redaktion (JüdRed) zweifach bearbeitet. Zunächst trägt die JüdRed in die noch pagane Hoferzählung ethnisch-religiöse Motive nach. Sie betont die Herkunft und die Verwandtschaft der beiden Protagonisten (Element A) und begründet in Kap. 7-8* die Verfolgung des jüdischen Volkes (Element B). Der älteste Zeuge für die um die sogenannte "Jehudim"-Schicht in seleukidischer Zeit zu einer jüdischen Diasporaerzählung erweiterten Pre-Esth ist der A-Text (310-313). Die zweite Redaktion, die sogenannte "Purim"-Schicht, arbeitet in makkabäischer Zeit die jüdische Diasporaerzählung von Proto-M durch das angefügte Kap. 9* zur Ätiologie für Purim aus und ergänzt das Motiv der Rache an den Feinden (322-323). Schließlich trägt sie mit den eingeschobenen Zeitangaben in 3,7.12.13; 8,9.12 ein chronologisches Gerüst (Element C) nach. Diese Ausgestaltung von M wirkt sich über ihre Rezeption in B schließlich auch auf die nochmalige Redaktion von A aus (328-330, Synopse, 333-342).

Exkurs: Esther in Qumran? Eines der großen Rätsel um Esther hängt seit jeher damit zusammen, dass es lange als einziges Buch des Alten Testaments in Qumran nicht einmal fragmentarisch belegt zu sein schien. 1992 hat J. T. Milik die in der Höhle 4 von Qumran gefundenen aramäischen Fragmente als Hinweise auf die Megilla gedeutet (RdQ 59, 1992, 321- 399, Abbildungen 400-406). K. würdigt Miliks These in einem eigenen Kapitel, in dem sie den Zusammenhang zwischen dem rekonstruierten Proto-Esth-Text und den sechs Fragmenten (4Q550a-f) untersucht (257- 291). Ausführlich bietet sie die Fragmente und die Übersetzung in der Rekonstruktion Miliks (258-260, 269-272, 283-284). Nach Durchsicht aller sechs Fragmente kommt K. zu dem Schluss, dass, soweit erkennbar, in den Texten einige Motive auftauchen, die eine gewisse literarische Nähe zu Esther erkennen lassen, aber auch mit anderen Hofgeschichten, wie beispielsweise Achikar, verwandt sind (267-268, 287). Aus dieser nur sehr weitläufigen Verwandtschaft lässt sich für K. jedoch keine literarische Abhängigkeit ableiten, auch wenn der persische Hof der gemeinsame Ort der Handlung ist. Auch die aufgeführten Namen lassen keinen Zusammenhang zwischen den Fragmenten aus Qumran und der Megilla erkennen (260-261, 272-273, 277). Schon wegen der unsicheren und äußerst geringen Textbasis können die Interpretationen Miliks und seine These von einer in den Fragmenten konservierten Proto-Erzählung von Esther "nur als Mutmaßungen zu bewerten sein" (288). So bleibt es nach K., wie es bislang war, Qumran kennt Esther nach bisheriger Quellenlage nicht.

Schlagen wir den Buchdeckel zu und blicken zurück: In unseren Händen liegt der erste Versuch der deutschsprachigen Exegese, die drei komplexen Traditionen, die sich zu den drei Texten verdichtet haben, in ihrer Genese nachgehend zu erhellen. K. selbst gesteht ein, wie schwierig es ist, einzelne Segmente aus den vorliegenden Erzählungen herauszulösen (145). Ihre Auslegung zielt darauf hin, Erzähleinheiten und deren Redaktionen auch gegen die intendierte Komposition zu isolieren, um so die drei grundlegenden Texte bestimmen zu können. Der wissenschaftliche Diskurs, der sich den rhetorischen und stilistischen Mitteln kohärenter Texte widmet, kommt in dieser Hinsicht deutlich zu kurz (S. B. Berg, W. Dommershausen, R. L. Bergey). Insofern bleibt das redaktionsgeschichtliche Ergebnis in Kap. 1-7* mit ihren konstitutiven Grunderzählungen umstritten. Leichter ist es dagegen für die Kap. (8)9-10* nachzuvollziehen, für die bereits ein gewisser Konsens in der Forschung vorliegt. Ebenso wirft die Vorentscheidung für den A-Text als die Fassung, die einer postulierten (!) semitischen Vorlage (?) am nächsten kommt, erhebliche Fragen auf.

Wegweisend ist der synoptische Ansatz. Auch wenn die Zusätze als Appendix zur Septuaginta bei der Betrachtung weitgehend ausgeklammert sind, liegt in der Studie von K. eine für die Forschung dringend benötigte Synopse der drei Textfassungen in den ersten Ansätzen bereits vor. Erst ein linear abgedruckter synoptischer Text (möglichst mit Übersetzung), der auch den Zusätzen das ihnen gebührende Gehör verschafft, lädt die Auslegung dazu ein, die drei Traditionen als gleichwertige Geschwister in ihrer erst noch nachhaltig zu bestimmenden Abhängigkeit zu würdigen.2

Ein Stellenregister hätte der für die Rezeption überaus hilfreichen Auflistung der Autoren und Sachen gut zur Seite gestanden. Eine gewisse epische Breite bei der Darstellung vor allem der ansonsten umsichtig diskutierten Sekundärliteratur kann gelegentlich beim Leser ebenso zur Ermüdung führen wie die partiell erdrückende Sammlung exegetischer Quisquilien.

Dennoch, eine gründliche Auslegung des Buches Esther, nach welcher textlichen Tradition auch immer, wird künftig die basalen traditions- und redaktionsgeschichtlichen Einsichten dieser bemerkenswerten Dissertation nicht umgehen können. Für die wissenschaftliche Gemeinde wäre nun ein Kommentar wünschenswert, der die interdependente Komplexität der drei Überlieferungen in ihrer theologischen Essenz am Text überzeugend darstellt. Ein erster Meilenstein zu diesem Desiderat der Forschung liegt uns mit K.s Studie bereits in den Händen.

Fussnoten:

1) Ausführlich berichtet H. M. Wahl, Esther-Forschung, ThR 66, 2001, 103-130.

2) So schon H. M. Wahl, Das Buch Esther als methodisches Problem und hermeneutische Herausforderung, Biblical Interpretation 9, 2001, 36.