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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

491–493

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jung, Volker

Titel/Untertitel:

Das Ganze der Heiligen Schrift. Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 1999. XII, 337 S. gr.8 = Calwer Theologische Monographien Reihe B, 18. Kart. ISBN 3-7668-3633-1.

Rezensent:

Markus Matthias

In den drei Hauptteilen wird a) die Hermeneutik Calovs als Voraussetzung seiner Schriftauslegung vorgestellt und in die hermeneutische Tradition von Flacius bis Dannhauer situiert, werden b) aus Calovs Biblia Illustrata (1672-76) einzelne Exegesen zu alt- und neutestamentlichen Schriftstellen mit Bezug auf die hermeneutische Theorie analysiert und wird schließlich c) das Verhältnis von Exegese und Systematik als zwei Seiten der Theologia Biblica unter Hinzuziehung der propädeutischen Isagoge (1665) und der Systema Locorum Comm. (1655-1675) beschrieben. Die Einleitung informiert über den Forschungsstand und die Biographie Calovs, vier Anhänge und ein Literaturverzeichnis beschließen die Arbeit, die sich durch einen flüssigen Stil und präzise Zusammenfassungen auszeichnet.

(Von den aus der Literatur bekannten Todestagen [6] ist leider keiner richtig. Nach dem Kirchenbuch der Wittenberger Stadtkirche ist Calov am 28.2.1686 gestorben und am 4.3. beerdigt worden. Der Titel eines [kursächsischen] Generalsuperintendenten ist insofern missverständlich, als Calov nur für den Wittenberger Kurkreis die geistliche Aufsicht führte.)

Befragt wird die hermeneutische Tradition Calovs nach ihren schrifttheologischen (1) und semasiologischen (2) Voraussetzungen sowie den konkreten Regeln für die Auslegung (3) und ihre Applikation (4) (12-19).

Flacius (21-47) reflektiert in seiner Schriftlehre die lutherische Lehre, dass zwischen begrifflichem Verstehen und subjektiver Akzeptanz nicht unterschieden werden kann. Die Heilige Schrift ist als Gottes Wort so beschaffen, dass sie entweder Glauben schafft, indem sie verstanden wird, oder unverstanden bleibt.

Hermeneutik ist Teil der Rhetorik, nämlich die wissenschaftliche Reflexion über die Bedingungen einer gelingenden Kommunikation auf Seiten des Empfängers. Die vorausgesetzte Eigenschaft der Heiligen Schrift als Sammlung von Gottes zu unterschiedlichen Zeiten ergangenem Wort verlangt nach den die historischen Umstände der Offenbarung in Rechnung ziehenden hermeneutischen Regeln, die freilich - im Gegensatz zur historisch-kritischen Methode - davon ausgehen, dass es immer Einer und dass es immer Gott ist, der spricht.

Johann Gerhard (47-59) reflektiert das lutherische Schriftverständnis auf der Grundlage der aristotelischen Philosophie und macht die lutherische Hermeneutik damit anschlussfähig an die allgemeine Erkenntnislehre. Dazu gehört zum einen die sprachphilosophische Annahme, dass die Sprache (Wörter, Zeichen) nicht Sachen, sondern Vorstellungen (von Sachen) repräsentiert, die nicht außerhalb der Schrift, sondern in den Worten selbst liegen und nicht einmal eine Referenz zur vorfindlichen Welt haben müssen, zum anderen die Voraussetzung, dass der Erkenntnisvorgang vom Redner (Schrift) zum Hörer (Leser) als adaequatio des Denkens des Empfängers an die kommunizierte Botschaft erfolgt, was bei göttlichen Geheimnissen einer göttlichen Erleuchtung gleichkommt. Die Intention des Redners ist dabei identisch mit dem Literalsinn. Es liegt schon in diesem Begriff des Verstehens bei Flacius und Gerhard, dass es nicht um eine theoretische Erkenntnis geht, die dann in Praxis umgesetzt werden müsste, sondern dass dieses Verstehen selbst praktisch ist, insofern es mit der Erkenntnis zugleich das Heil (Glaube) vermittelt.

Die Folgezeit bringt zunächst keine grundsätzlich neuen Ansätze, nur neue systematische Ordnungen (Wolfgang Franz: 60-66) oder materiale Ausgestaltung und Differenzierungen (Salomon Glass: 66-77).

Einen eigenwilligen Weg geht Johann Konrad Dannhauer (77-87), der die Hermeneutik als Teil der Logik, als instrumentelles Wissen begreift, nämlich als Wissen um die formale Sinnerschließung, wovon die Anwendung strikt zu unterscheiden sei. Methodisch unterscheiden sich allgemeine und biblische Hermeneutik nicht. Problematisch erscheint Dannhauers zum Pietismus (Francke, Rambach) führende Unterscheidung von sensus literalis ([geistlicher] Sinn des Redezusammenhanges) und sensus literae ([allgemeiner] Sinn der Wörter).

Gegenüber Dannhauer bewegt sich Calov (87-128) auf orthodoxen Pfaden. Er übernimmt Luthers Unterscheidung von äußerem und innerem Verstehen (89) und setzt grundsätzlich die Erleuchtung durch den Heiligen Geist voraus (92). Calov deutet so das Verstehen der Schrift als Umkehrung der Inspiration (93). Insofern die Schrift nicht Verweischarakter hat, sondern selbst das Wort ist, dessen Verstehen zugleich den Menschen zu seinem Heil verändert, hat die Schrift diese Kraft extra usum, was Dannhauer ausdrücklich ablehnt.

Auf Grund seiner sprachphilosophischen Voraussetzungen ("verba sint mentis symbola") behauptet Calov, dass der sensus literalis grundsätzlich nur einer ist und die Aussageabsicht des Autors untrennbar mit den Worten verbunden ist. Die Worte dürfen nicht mit den historischen Fakten verwechselt und von ihnen her verstanden werden, weil so der Zusammenhang des Textes verlassen werde.

Die im ersten Teil aus Calovs theoretischen Äußerungen ermittelte Hermeneutik wird anschließend am Exempel (129- 226) verifiziert, nämlich an Exegesen zu biblischen Schlüsselstellen (Röm 8,28-30; Mt 5,1-12; Psalm 2; Gen 3,15; Hebr8). In seiner detaillierten Analyse konfrontiert der Vf. die Exegesen von Hugo Grotius und Calov miteinander und damit ebenso zwei unterschiedliche Auslegungsmethoden wie zwei konfessionelle Theologien. Während Grotius als der modernere Ausleger erscheint, der die Bibel vor dem Hintergrund allgemeiner literaturgeschichtlicher Zusammenhänge auslegt und sie damit historisiert, hält Calov an der Einzigartigkeit der Schrift fest, die es erzwingt, innerhalb des sprachlichen Kontextes der Bibel zu bleiben. Grotius ist methodologisch bedeutender, sachlich aber durch die historisch-kritische Forschung überholt. Umgekehrt verhält es sich für Calovs Schriftauslegung, die unter der Maßgabe einer Einheit der Schrift auch sinnvoll ist.

Im dritten Teil seiner Arbeit (240-308) widmet sich der Vf. der theologischen Prinzipienlehre Calovs, die das Verhältnis von Schriftauslegung und Systematik reflektiert. Es ist kein Relikt, dass Calov im Titel seines dogmatischen Hauptwerkes auf die alte Bezeichnung der "Loci" zurückgreift, denn es geht um nichts anderes als um die systematische, d. h. didaktisch geordnete Darstellung der Schriftaussagen, wobei sich diese Aufarbeitung des Wissens der aristotelischen Philosophie bedient. Die Differenz zwischen dem orthodoxen Luthertum und der calvinistischen Schule liegt nicht in der Unterscheidung von Theologie und Glaube (die auch Calov vornimmt). Entscheidend ist, dass für Calixt die Wörter der Schrift von sich auf empirische oder metaphysische Sachen verweisen, die - einmal erkannt - auch unabhängig von der speziellen Signifikation erörtert werden können. Die Schrift wird hier historisiert und intellektualisiert als Organ der Vermittlung der überlieferten Wahrheit.

Der Vf. zeigt bei der historischen Analyse theologische Leidenschaft um die gegenwärtige Möglichkeit einer biblischen Theologie.