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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

459–466

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Moeller, Bernd

Titel/Untertitel:

Acht Bände "Die Geschichte des Christentums"*

I.

Im Jahre 1993 habe ich in der ThLZ die ersten drei Bände dieses Werkes, die damals vorlagen, besprochen1. In den seither vergangenen Jahren sind acht weitere Bände erschienen - von den insgesamt 14 geplanten liegen also 11 vor, und damit bei weitem das meiste. Ja, genauer angesehen ist die Darstellung
der Kirchengeschichte im engeren Sinn nunmehr bereits abgeschlossen; denn was fehlt, sind "nur" der Anfang und das Ende- jene Bände freilich, an denen im besonderen Maß das Ganze hängt und seinen Sinn erfährt und die man denn auch noch einmal mit Spannung erwarten wird. Bis zu ihrer Vollendung vermag diese "Geschichte des Christentums" Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Das allerdings ist auch zu wünschen. In meiner früheren Rez. habe ich bereits von den riesigen Dimensionen, auf die hin das Werk angelegt ist, berichtet, aber auch von der lauten und schrillen Begleitmusik der Werbung, mit der es ins Leben trat. Heute, im Zeichen der Fertigstellung, hingegen kann man eher davon irritiert sein, dass es recht still geworden ist um dieses Werk, und man mag zwar vielleicht nicht die großen Worte auf den Schutzumschlägen (die inzwischen sehr viel zurückhaltender geworden sind), aber doch deutliche Spuren in der fachlichen Diskussion der Kirchenhistoriker und Historiker vermissen, jedenfalls in Deutschland.

Denn was auch immer von den Inhalten im Folgenden noch, zustimmend oder kritisch, zu sagen sein wird - dass es sich bei diesen 11 Bänden Kirchengeschichte um eine höchst respektable und beachtenswerte wissenschaftliche Leistung handelt, kann nicht bestritten werden, und dies lässt sich heute mit größerer Sicherheit feststellen als in der Anfangsphase. Das damals verkündete, höchst anspruchsvolle Programm ist in den vergangenen Jahren wenn nicht unverändert, so doch in den Grundlinien ausgeführt worden, der Gesamtaufriss mit der klaren Benennung und Abgrenzung jedes Bandes, wie er von Anfang an bekanntgegeben wurde, hat keine Veränderung erfahren, und der Abschluss wurde zwar nicht 1997 erreicht, ist aber heute in Sicht. Zwar ließ sich die Absicht, den Umfang der einzelnen Bände auf je etwa 1000 Seiten festzulegen, nicht ganz verwirklichen, die meisten sind dicker geworden, und bereits heute hat man es insgesamt mit fast 12000 Seiten Text zu tun, im Großformat und eng bedruckt. Doch sind die Proportionen, soweit ich sehe, an keiner Stelle aus den Fugen geraten. Überall kann man, wenn man die Seitenzahlen der einzelnen Abschnitte nachrechnet, die ursprüngliche Planung durchscheinen sehen und bis in die Einzelheiten verfolgen, wie genau der Bauplan des Ganzen angelegt war und durchgehalten worden ist. Das ganze Werk ist von enormer Disziplin durchwaltet, und es herrscht die Schönheit der Symmetrie, die man, wenn man sich die gewöhnlichen Erfahrungen mit Gemeinschaftswerken in unserem Wissenschaftsbetrieb (zumal in Deutschland) vor Augen stellt, zunächst nur bestaunen und bewundern kann und allenfalls im zweiten Schritt auch ein wenig bedenklich finden mag.

Diese Disziplin resultiert hauptsächlich aus einer bewundernswerten organisatorischen Leistung, die wohl vor allem den beteiligten Verlagen - Desclée in Paris für die französische, Herder in Freiburg für die deutsche Ausgabe - zuzuschreiben ist. Doch ist das Werk auch dadurch begünstigt worden, dass sich der Kreis der französischen Hauptherausgeber seit dem ersterschienenen Band VI (1991) nur darin verändert hat, dass nach dem Tod von Charles Pietri dessen Witwe Luce Pietri, Professorin an der Sorbonne, neu eingetreten ist. Den Namen dieser Hauptherausgeber - neben Luce Pietri Jean-Marie Mayeur, André Vauchez und Marc Venard, allesamt Professoren in Paris- begegnet man in jedem Band mit Ausnahme von Band X (s. u.), sie haben einen großen Teil der Texte verfasst und die Einzelbände auch herausgegeben. Neben diesen Herausgebern waren freilich noch sehr viele weitere Personen tätig, als Autoren, Bearbeiter, Übersetzer und Redaktoren, alles zusammengenommen dürften es Hunderte sein, deren Zusammenwirken einzuleiten, zu beaufsichtigen und abzustimmen war. In einzelnen Bänden ist die Zahl dieser Personen riesig - in Band III z.B. zähle ich neben 17 französischen Autoren 19 deutsche Bearbeiter, dazu sechs weitere Übersetzer sowie eine für die Verlagsredaktion, eine für die Bildredaktion und eine für das Register verantwortliche Person. Die Vorstellung, wie es gelungen sein mag, diese Heerscharen zur Verfertigung eines so kohärenten Werkes zusammenzuführen, strapaziert die Phantasie.

Neben allem anderen war die Übertragung des Ganzen aus dem französischen Original in die deutsche Ausgabe - und diese allein interessiert uns in dieser Rezension - zu bewältigen. Wieweit diese Übertragung gelungen ist, ist nicht in einem Wort zu sagen und wird uns noch beschäftigen. Jedenfalls aber ist auch sie mit beträchtlichem Aufwand ins Werk gesetzt worden. Die zahlreichen Übersetzerinnen und Übersetzer, die beschäftigt wurden, haben sich in die Texte geteilt und diese in manchen Fällen auch bearbeitet, zusätzlich aber gab es für jeden Band zumindest einen deutschen Hauptverantwortlichen und zumeist noch weitere Bearbeiter für die einzelnen Abschnitte. Allerdings ist das Ausmaß der Tätigkeit dieser deutschen Mitarbeiter in den verschiedenen Bänden ungleich, und vielleicht ist es Absicht, dass auf den Titelblättern bei einigen Bänden von deutschen Herausgebern, bei einigen von deutschen Bearbeitern, bei einigen von deutschen Bearbeitern und Herausgebern die Rede ist. Manchmal findet man ein eigenes Vorwort für die deutsche Ausgabe, in dem der deutsche Herausgeber dann in einem Fall angibt, nur für die Übersetzung die Verantwortung zu übernehmen (Bd. IV), während er anderswo (Bd. XI) mitteilt, er habe sich um "die bestmögliche Erschließung des französischen Originals für ein deutsches Publikum" bemüht. In Band II heißt es sogar, der französische Text sei "völlig umgestaltet und zum Teil neu geschrieben" worden (3 u. ö.), und der Band sei ein "Patch-work aus deutscher und französischer Arbeit" (Vorwort). Die Klage, für die deutsche Fassung habe zu wenig Zeit zur Verfügung gestanden, wiederholt sich häufig.

Soviel zunächst an allgemeinen Mitteilungen über das Werk. Ich versuche nun, von jedem einzelnen der Bände (in der Reihenfolge der Chronologie, nicht des Erscheinens) einen zumindest knappen Eindruck zu vermitteln, bevor ich abschließend noch einmal auf das Ganze zurückkomme.

II.

Der Band II, der unter dem Titel "Das Entstehen der einen Christenheit" das Zeitalter vor und nach der Konstantinischen Wende behandelt, hat, wie gesagt, in der deutschen Fassung eine besonders starke Umarbeitung erfahren. Folgt man den Angaben im Vorwort und in den die einzelnen Abschnitte eröffnenden Anmerkungen, dann sind hiervon vor allem Texte der Herausgeber Charles und Luce Pietri selbst betroffen, als deutsche Autoren haben sich vor allem der Historiker Gunther Gottlieb und der Kirchenhistoriker Christoph Markschies betätigt; von "völliger Umarbeitung und Ergänzung des Manuskripts" ist gelegentlich die Rede (271). Der Band behandelt in konventioneller Einteilung zunächst die Kirche im Reich des 3. Jh.s sowie das Zeitalter Konstantins und das des Theodosius, wobei die decische Christenverfolgung nicht mehr als Christenverfolgung gilt, der arianische Streit nach 325 nicht mehr als "arianischer" Streit und manche Akzente auffällig gesetzt sind - z. B. wenn der Priszillian-Affäre fast 30 Seiten eingeräumt werden. Besonders lehrreich erscheint mir sodann die zweite Hälfte des Bandes, wo unter den Titeln "Eine neue Christenheit" und "Die Regionalisierung der Christenheit" die konkreten Verhältnisse der Kirche in aller Breite geschildert werden und deren Vereinheitlichung besondere Aufmerksamkeit findet. Auffallend spät und beiläufig allerdings kommt das Mönchtum in den Blick.

Der III. Band, etwas unspezifisch betitelt mit: "Der lateinische Westen und der byzantinische Osten" und ebenfalls von Luce Pietri herausgegeben, setzt ein mit einer umfangreichen Erzählung der Dogmengeschichte von der "Union" von 433 bis Chalcedon - fast 100 Seiten von unersprießlicher Langweiligkeit (Christiane Fraisse-Coué), denen eine etwas belebtere Schilderung des Konzils und seiner Rezeption folgt (noch einmal 100 Seiten, Pierre Maraval) und zwischendurch ein für die deutsche Ausgabe nachgelieferter kurzer Text von Thomas Böhm (103-107), aus dem der unerfahrene Leser endlich ersehen kann, worum es bei dem Ganzen eigentlich geht - eine auffallend andere Behandlung der Sache als im vorausgehenden Band. Es schließen sich eine Darstellung der abendländischen Kirchengeschichte und eine des Zeitalters Justinians an und dann erneut umfangreiche Schilderungen des kirchlichen Lebens, unter denen nach meinem Urteil die Beiträge zur Geschichte des Mönchtums von Bernard Flusin (584-646) diesmal durch besondere Qualität hervorstechen, ferner unter den Länderbeschreibungen diejenigen zu Afrika von Yves Modéran. Doch wird man auch an anderer Stelle immer wieder durch lehrreiche Darlegungen überrascht, beispielsweise das ganz aus den Quellen gearbeitete Kapitel über die Bischofskirchen von Françoise Monfrin (1013-1043).

In Band IV wird, erneut unter unspezifischem Titel ("Bischöfe, Mönche und Kaiser [642-1054]"), "die Reihe der dem Mittelalter gewidmeten Teile der ,Geschichte des Christentums' eröffnet" (Vorwort). Doch beginnt er mit einer breiten, fast 400 Seiten umfassenden Schilderung der Kirchengeschichte von Byzanz in diesem Zeitalter aus der Feder eines einzigen Autors, Gilbert Dagron, einem Text, dem an Lebensnähe, Reichhaltigkeit und Kompetenz, soweit ich sehe, nichts in deutscher Sprache gleichkommt. Es folgen, etwas weniger souverän und einheitlich, 200 Seiten über die "Kirchen im muslimischen Reich" [!], und erst dann setzt das "Mittelalter" ein - ein großes Kapitel über "Die Christenheit im Westen", ein kürzeres über "Die neue Christenheit" (gemeint sind Nord- und Osteuropa sowie der Balkan). Auch hier treten jeweils einzelne Autoren stark hervor, Pierre Riché für den Westen, Jerzy Kloczowsky für Norden und Osten, wobei dem deutschen Leser auffällt, dass bestimmte, bei ihm als berühmt und wirkungsreich geltende Ereignisse (etwa die Synode von Whitby 664 oder auch diejenige von Sutri 1046) nur ganz nebenbei erwähnt werden, auch dem Schisma von 1054 größere Bedeutung abgesprochen wird (die Historiker "ließen sich [...] von den theatralischen Begleitumständen des berühmten Bannspruches [...] leiten" - 874), andererseits aber auch neuere Fragestellungen wie z. B. diejenigen Angenendts kaum zur Geltung kommen. Wiederum sind, wie mir scheint, die besten Abschnitte die, in denen es um die "Kultur" geht - die "neue christliche" (669-681), die "religiöse" (747-773).

Mit Band V wird das Zeitalter der "Machtfülle des Papsttums" erreicht (1054-1274), und es ist dieser Aspekt, dem er den Titel verdankt; auch fällt auf, dass der Herausgeber, André Vauchez, sich in seinem Vorwort sogleich auf den bereits früher erschienenen (und besprochenen) VI. Band bezieht2 und hervorhebt, beide seien "aus dem gleichen Geist heraus konzipiert und mit der gleichen Intention erarbeitet", während der deutsche Herausgeber, Odilo Engels, eine gewisse Distanz erkennen lässt. Nichtsdestoweniger beginnt auch dieser Band mit einem wenn auch kurzen Abschnitt über Byzanz, bevor die Papst- und Kaisergeschichte - von unterschiedlichen Autoren, unter denen Michel Parisse herausragt, dargestellt - das Feld beherrscht. Ab S. 391 folgt ein Kapitel "Der gelebte Glaube" (über Orden, Bildung, Ketzerei), ab S. 555 aber erneut die Papstgeschichte, nunmehr im 13. Jh. "Weil die Religion wichtig, der Glaube an das ewige Leben lebendig und der Wunsch nach Erlösung beständig war, besaß die Kirche [...] die Mittel, Macht auszuüben, Gehorsam zu verlangen und den politischen Gang wie das soziale Verhalten zu beeinflussen", so werden die Themen zusammengeführt (534). Ein besonders interessanter Abschnitt (Evelyne Patlagean - 716-753) behandelt sodann die Herrschaft der Lateiner im Orient nach 1204 aus der Sicht der Byzantiner. Und schließlich kommen, spät und diesmal ungewöhnlich knapp, die inneren Verhältnisse der Kirche zur Sprache, wobei die Entstehung der Bettelorden, diejenige der Universitäten und die Hochscholastik rasch abgemacht, bei den Erstgenannten der Bezug zur Armutsbewegung kaum gesehen, Thomas von Aquin auf drei Seiten abgefertigt wird. Der Herausgeber, Vauchez, auf den diese Abschnitte zurückgehen, beschließt den Band mit einem Schlusswort, das Anklänge von ekklesiologischem Triumphalismus enthält, immerhin aber einräumt, die Machtsteigerung des Papsttums im 13. Jh. könnte "in negativem Sinne als überzogen bewertet" werden (946).



Die zufälligen Umstände des Zustandekommens dieser Rez. führen dazu, dass wir dem Band über den Triumph der Kirche sogleich den über ihre Krise in der Reformation anzuschließen haben (Band VII, "Von der Reform zur Reformation [1450- 1530]"). Dadurch fällt der eigentümliche thematische Zuschnitt dieses Bandes besonders ins Auge, den die beiden Herausgeber, Marc Venard für die französische und Heribert Smolinsky für die deutsche Ausgabe, in ihren Vorworten begründen: Sie rechnen mit der "epochalen Einheit" des vor- und des frühreformatorischen Zeitalters (IX). Diese wird einerseits in dem religiösen Grundzug der Zeit gesehen - "vielleicht war das Leben der Menschen im christlichen Raum zu keiner Zeit so von Religion durchdrungen wie damals", sagt Venard (V), wobei er bis zur Mitte des 18. Jh.s vorausblickt -, andererseits in ihrem Reformeifer - "Die Reform war die brennende Sorge der gesamten Christenheit gewesen, lange bevor sie mit der Reformation eine radikale Wende nahm" (so F. Rapp [355]). Dieser letztere Autor zeichnet auch von der Reformbedürftigkeit der Kirche ein anschauliches Bild, insbesondere in seiner lebhaften, teilweise witzigen Schilderung des Papsttums (69-141), widmet aber vor allem, im Verein mit anderen Verfassern, den religiösen Zuständen des 15. und frühen 16. Jh.s eine weit ausgedehnte (fast 100 Seiten!) kundige und ganz überwiegend freundliche Beschreibung.

So kann Venard von einer "Stabilität der etablierten Kirche" sprechen (439), auch von der "glücklichen Renaissance" (513) - ideale Zustände, in die dann freilich der Aufbruch Luthers dramatisch hineinfuhr; doch wird dieser als "die Antwort auf das wachsende Bedürfnis nach religiöser Erneuerung" gewürdigt, während die Hilflosigkeit der Kirche ihm gegenüber darauf zurückgeführt wird, "daß sie eingebunden war in einen Reformprozeß, auf den sie all ihre Hoffnung gesetzt hatte" (676 - Venard/ Smolinsky) - ein angesichts der Intransigenz des Papsttums möglicherweise etwas zu schönes Bild. Die eigentliche Darstellung der frühen Reformationsgeschichte (679-843) liegt großenteils in den Händen von Marc Lienhard und ist vorzüglich. Sie mündet in einen Schlussabschnitt über den beginnenden Widerstand "der lateinischen Kirche in ihrer römischen Ausprägung" ein ("Ist die Einheit der Christen noch zu retten?", 844- 879), in dem Venard schließlich zu der Feststellung kommt, dieser Widerstand habe, indem er von der Kirchenreform zur Gegenreformation hinüberführte, "die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der lateinischen Christenheit [...] in den Hintergrund" treten lassen (878)3.

Im IX. Band, der wiederum von Venard herausgegeben und von ihm stark bestimmt ist, geht es um "Das Zeitalter der Vernunft (1620-1750)", das freilich unkonventionell eingeleitet wird, indem ihm erst einmal das 17. Jh., "von Krisen und vielfachem Unglück geprägt" (1131), vorausgeht, dem erst in den 1680er Jahren die "große Wende" gefolgt sei (175). Hauptsächlich orientiert sich dieser Band - und diese Grundauffassung des Zeitalters - an Frankreich, dessen Zustände breit geschildert werden - eine für deutsche Leser lehrreiche, aber insgesamt doch die Proportionen verzerrende Betrachtungsweise: Der Jansenismus wird auf 60 Seiten (348-408 - Monique Cottret) abgehandelt, die lutherische Orthodoxie und der Pietismus zusammen auf neun Seiten (411-420 - Bernard Vogler)! Weiterhin kommt wie gewohnt auch die ganze übrige Welt reichhaltig zur Darstellung, manches in ungewöhnlicher Beleuchtung: Nach Dominique Deslandres soll es in diesem Zeitalter auf dem amerikanischen Kontinent "drei gelebte christliche Religionen" gegeben haben, "die konfessionell gespaltene Religion der Europäer und zwei andere Religionen, die aus der geistigen Vermischung europäisch-indianischer und europäisch-afrikanischer Vorstellungen hervorgegangen waren" (613).

Ganz überwiegend sind es die alten, die "vormodernen" Gegebenheiten, die in diesem Band geschildert werden. Das gilt auch noch für den großen Schlussteil "Das Christentum im Kulturraum der alten Christenheit", in dem wiederum Frankreich und der Katholizismus dominieren (in dem kleinen Kapitelchen über "protestantische Spiritualität" von Venard [866- 884] stimmt nur wenig; einiges wird von Patrice Veit unter "Geistliche Musik" nachgeliefert [1064-1085]). Das "Zeitalter der Vernunft" kommt erst ganz spät in den Blick.

Die Ambivalenzen des IX. verstärken sich noch im X. Band (über "Aufklärung, Revolution, Restauration [1750-1831]"), auf weite Strecken werden sie hier zum Ärgernis. Als Herausgeber zeichnet Bernard Plongeron, von dem auch fast 600 Seiten und damit etwa drei Viertel des Textes stammen. Dieser aber handelt weit überwiegend von Frankreich, und er ist in einem ganz ungewöhnlichen Maß an der französischen Forschung und an deren Fragestellungen orientiert - in bestimmten Passagen erscheint er fast wie eine Kampfschrift gegen deren moderne Tendenzen, die für nichtfranzösische Leser nur schwer aufzuschließen ist - man denkt, diese waren bei der Abfassung auch wohl nicht im Blick! Singulär im Rahmen der "Geschichte des Christentums" ist, dass der deutsche Bearbeiter Bernhard Schneider mitten in dem Band diese Probleme in einer kurzen und höchst kritischen "Einführung zur deutschen Textfassung" (233-235) seinerseits zur Sprache bringt (ohne sie freilich aus der Welt zu schaffen): Die Fixierung Plongerons auf Frankreich, die Problematik des von ihm konstruierten Begriffs "Christliche Aufklärung", die sprachliche Kryptik mancher seiner Beiträge. Noch manche weiteren Defizite und Merkwürdigkeiten ließen sich benennen: Die Überhöhung einzelner Ereignisse wie z. B. des oft erwähnten Jesuitenverbots, das "eine für die Christenheit [...] grundlegende Entscheidung" gewesen sein soll (166), die erneute Zurücksetzung nichtfranzösischer und nichtkatholischer Sachverhalte (neben dem Pietismus verschwindet z. B. auch der Methodismus beinahe im Nichts), die Nichtachtung der großen Denker des Zeitalters - Kants Kritik der reinen Vernunft kommt ebensowenig vor wie Lessings Nathan, Goethe und Schiller werden kaum, Schleiermacher nur ganz unzulänglich erwähnt, aber auch über das, was Voltaire oder Rousseau dachten, erfährt man nichts Rechtes. Auch wenn es Abschnitte gibt, die belehrend sind, und der Blick auch hier auf die ganze Erde gerichtet ist, kann doch der Band insgesamt kaum befriedigen, ja das ganze Werk wird durch das offensichtliche Missverhältnis zur Aufklärung, das sich hier breitmacht, in Mitleidenschaft gezogen.

Von diesen Voraussetzungen her gesehen ist der Band XI ("Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas [1830- 1914]") dann noch einmal eine erfreuliche und durchaus beachtliche Leistung. Hier findet unter der Herausgeberschaft von Jacques Gadille und Jean-Marie Mayeur das spätere 19. Jh. eine insgesamt angemessene Darstellung, an der auch der deutsche Herausgeber Martin Greschat erkennbar beteiligt ist. Mir erscheint die stark gegliederte Reihe der Länder-Darstellungen in diesem Band besonders sachverständig und eindrucksvoll, aber auch was zur Theologiegeschichte sowohl im Katholizismus (Gadille und Victor Conzemius) als auch im Protestantismus (André Encrevé und Greschat) gesagt wird, lässt sich sehen (10 Seiten Troeltsch!), und insbesondere denke ich, eine bessere Darstellung der Kirchengeschichte Frankreichs von 1860 bis 1914 als die hier gebotene (487-532) findet man in deutscher Sprache nicht. Anders als in einigen der vorangehenden Bände wird in diesem die Pluralität des neuzeitlichen Christentums mit einer gewissen Nüchternheit verzeichnet und gewürdigt - "an eine Annäherung der christlichen Kirchen [...] dachten nur wenige", so heißt es im letzten Satz (1086).

III.

Nach dem - notgedrungen zusammengerafften - Inhaltsüberblick anhand der einzelnen Bände ist abschließend noch einmal das Werk als Ganzes in den Blick zu nehmen: Was hat man von dieser "Geschichte des Christentums" zu halten?

Ich konstatiere als erstes noch einmal die erstaunliche Geschlossenheit des Ganzen. Sie schlägt sich, wie schon gesagt, im Äußeren nieder, in der durchorganisierten Präzision des riesigen Textmaterials, auch im ganz einheitlichen Erscheinungsbild der Bände. Aber sie kommt im Großen und Ganzen auch in den Texten selbst zum Ausdruck, in einer gewissen Ähnlichkeit des historiographischen Zugriffs - die Texte sind zumeist an den Fakten orientiert, positivistisch und pragmatisch, differenziert, eher pointenarm, und theoretische Reflexionen, Deutungen und Urteile, historische Analysen, aber auch lebendige Geschichtserzählung treten eher in den Hintergrund. Das hohe Niveau der neueren französischen Historiographie hat in das Werk durchaus Eingang gefunden.

Das schlägt dann auch auf die Inhalte durch. So sehr sich die Bände, wie gezeigt, im Einzelnen unterscheiden, nicht bloß weil von unterschiedlichen Zeiten die Rede ist, sondern auch weil unterschiedliche Personen darüber schreiben, lassen sich doch gemeinschaftliche Konzeptionen durch das ganze Werk hindurch verfolgen. Das Wichtigste ist, dass diese Kirchengeschichte von der Vorstellung eines einheitlichen Gegenstandes lebt. Das Stichwort "Einheit" ist ein Lieblings- und Haupt-Begriff des Ganzen, sie wird immer wieder, synchron wie diachron, konstatiert und herausgestellt oder auch vermisst und gewünscht, und mit einer gewissen, selbstverständlichen Unbefangenheit wird überall, durch die Jahrhunderte hindurch, "die" Kirche als vorhanden und beschreibbar vorausgesetzt. In ihrer Grundsubstanz ist diese "Geschichte des Christentums" eine katholische Kirchengeschichte.

Das hat auch dann zu gelten, wenn man wahrnimmt, dass allerdings dem nichtkatholischen Christentum sowie Autoren, die es repräsentieren, viel Raum gegeben ist. Ohne weiteres ist dem Werk eine "ökumenische" Gesinnung zuzuschreiben, die sich noch in einer so merkwürdigen Notiz wie der folgenden niederschlägt (III, 491): "Bezeichnungen wie ,Nestorianer' und ,Monophysiten' werden hier entsprechend geschichtswissenschaftlicher Konvention benutzt. Der ökumenische Dialog der letzten Jahre [...] hat inzwischen einen Konsens in den früher umstrittenen Fragen der Christologie ergeben [...] Unsere Verwendung der konventionellen Bezeichnungen beinhaltet keine Ablehnung dieser ökumenischen Anliegen und Bestrebungen." An nicht wenigen Stellen bemerkt man das Bemühen, der gleichsam natürlichen Annahme einer Präponderanz des Katholischen auszuweichen oder die Schilderung der Kirchengeschichte als Erfolgsstory zu vermeiden. Eine Neigung, katholische Verhältnisse von der positiven, nichtkatholische von der negativen Seite her anzugehen, zieht sich gleichwohl ebenfalls durch das Werk, und in einigen Bänden lässt sich zusätzlich eine Tendenz, das Katholische, das Christliche und das Französische ineinanderfließen zu sehen, erahnen - Beispiele wurden erwähnt.

Zu den großen, ja, wie ich sagen möchte, einzigartigen Vorzügen dieser Kirchengeschichte gehört, dass sie wie doch wohl kein entsprechendes Werk vor ihr mit der Universalität der Kirche rechnet - neben dem "semper" wird ein "ubique" des Christlichen vorgestellt. Das gilt im geographischen, es gilt auch im sozialen Sinn: Mit Leidenschaft wehrt sich Venard im Schlusswort von Band IX gegen die Hypothesen von Le Bras und anderen, die das Christentum als ein Elitephänomen beschreiben, und in der Einleitung zu Band XI liest man, man wolle, "in Übereinstimmung mit den Zielsetzungen der neueren Geschichtswissenschaft, auch dem Leben und den Initiativen des christlichen Volkes sowie den Formen der Spiritualität breiten Platz" einräumen. Diesem Bestreben verdankt das Werk die in jedem Band anzutreffenden, reichhaltigen Mitteilungen zur Kultur und Frömmigkeit, zur - wie der Vorzugsbegriff lautet - "Spiritualität", die wenigstens im Blick auf den Katholizismus hilfreich und befriedigend sind.

Noch eindrucksvoller erscheint mir der geographische Aspekt: Diese "Geschichte des Christentums" ist darum bemüht, das Christliche in geographischer Vollständigkeit, gewissermaßen "flächendeckend", zu erfassen. In jedem Band und Zeitalter geht sie den Verästelungen der Christenheit in der ganzen Welt und sozusagen bis in jeden Winkel nach, allen orthodoxen Kirchen und Ländern, allen Missionsgebieten, nichts wird ausgelassen oder bleibt unbeleuchtet. Von dem traditionellen Europazentrismus kann in dieser Kirchengeschichte nicht die Rede sein, im Gegenteil kann man sich gelegentlich fragen, ob in dieser Hinsicht des Guten nicht vielleicht zuviel geschehen sei - für das 18. Jh. z. B. wird Lateinamerika in den Überblickskapiteln von Band X ebensoviel Platz eingeräumt wie dem gesamten nichtfranzösischen Europa.

Schließlich noch eine Bemerkung zu einem weiteren Vorzug des Werkes, der in die Augen fällt - dem Schmuck durch reiche und schöne Abbildungen. Auf die Auswahl und Qualität dieser Bilder wie auch auf die Bildlegenden ist im Allgemeinen erkennbare Sorgfalt verwendet worden, einige Bände (III, IX) schwelgen geradezu in ihrer Pracht. Weniger gelungen erscheint weithin die Einfügung der Abbildungen in den Text, und insbesondere gibt es in diesem Bereich nicht ganz unbeachtliche Fehler, die mir vor allem in den neueren Jahrhunderten aufgefallen sind: VII 93: Bilder vertauscht; IX 680: Cape Cod; X 818: Der Kaiser fehlt in der Bildlegende; XI 113 und 228: Manning und Newman "geklont"; XI 460: Franz von Lenbach; XI bei 747: Bilder vertauscht.

Dass im Übrigen die Fehlerquote in dem Riesenwerk nach meinem Eindruck relativ gering ist, sollte doch auch vermerkt werden. Ich beschränke mich darauf, ein Sachversehen und zwei Kuriositäten, die ich im Text bemerkt habe, zu nennen: In Band II werden der S. 286 ff. Melitius von Lykopolis und S. 1011 ff. Meletius von Lykopolis Genannte auch im Register getrennt geführt; in III 824 Anm. 173 gilt die thüringische Prinzessin Radegund im Frankenreich als "Geißel"; und nach IX 1138 war Marie Durand "im Turm von Konstanz" eingesperrt.4 Etwas größere Unstimmigkeiten finden sich in den zahlreichen, manchmal spärlichen und rein französischen, manchmal außerordentlich reichhaltigen Literaturverzeichnissen; ich verzichte aber auf größere Korrekturen und notiere nur, dass gelegentlich (III 1153 ff.) Computer-Notizen stehengeblieben sind und gelegentlich ein englischsprachiges (III 1303) oder auch ein deutschsprachiges Buch (X 65) in französischer Übersetzung genannt wird.

Abschließend möchte ich die Frage des Anfangs noch einmal aufnehmen: Wie mag es sich erklären, dass dieses so außerordentlich ambitiöse und aufwendige, überreiche und - trotz seiner manchmal ärgerlichen Mängel - interessante Werk zumindest in Deutschland und in dem von mir wahrgenommenen Umkreis bisher so wenig Resonanz gefunden hat? Liegt es am hohen Preis, an der Vertriebs-Strategie des Verlags (z. B. werden offenbar keine Einzelbände verkauft!), an der Konzeption? Verdient jedenfalls ist es nach meinem Urteil nicht.

Fussnoten:

* Die Geschichte des Christentums. Religion - Politik - Kultur. Hrsg. von J. M. Mayeur, Ch. u. L. Pietri, A. Vauchez, M. Venard. Deutsche Ausgabe hrsg. von N. Brox, O. Engels, G. Kretschmar, K. Meier, H. Smolinsky. (je Band ¬ 152,40)

Bd. 2: Das Entstehen der einen Christenheit (250-430), hrsg. von Ch. u. L. Pietri. Dt. Ausg. bearb. von Th. Böhm u. a. XXVIII, 1108 S. m. zahlr. Abb. u. Karten. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1996. Lw. ISBN 3-451-22252-3.

Bd. 3: Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431-642). Hrsg. von L. Pietri. Dt. Ausg. bearb. von G. Bee u. a. Ebd. 2001. XXVI, 1334 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn. Lw. ISBN 3-451-22253-1.

Bd. 4: Bischöfe, Mönche und Kaiser (642-1054). Hrsg. von G. Dagron, P. Riché und A. Vauchez. Dt. Ausg. bearb. u. hrsg. von E. Boshof. Ebd. 1994. XVIII, 982 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn., 24 Farbtaf. Lw. ISBN 3-451-22254-X.

Bd. 5: Machtfülle des Papsttums (1054-1274). Hrsg. von A. Vauchez. Dt. Ausg. bearb. u. hrsg. von O. Engels, G. Makris u. L. Vones. Ebd. 1994. XL, 968 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn., 30 Farbtaf. Lw. ISBN 3-451-22255-8.

Bd. 7: Von der Reform zur Reformation (1450-1530). Hrsg. von M. Venard. Dt. Ausg. bearb. u. hrsg. von H. Smolinsky. Ebd. 1995. XX, 892 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn., 30 Farbtaf. Lw. ISBN 3-451-22257-4.

Bd. 9: Das Zeitalter der Vernunft (1620/30-1750). Hrsg. von M. Venard. Dt. Ausg. bearb. von A. Boesten-Stengel u. a. Ebd. 1998. XVI, 1183 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn., 12 Farbtaf. Lw. ISBN 3-451-22259-0.

Bd. 10: Aufklärung, Revolution, Restauration (1750-1830). Hrsg. von H. Plongeron. Dt. Ausg. bearb. von Th. Bremer u. a. Ebd. 2000. XXIII, 880 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn., 14 Farbtaf. Lw. ISBN 3-451-22260-4.

Bd. 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830-1914). Hrsg. von J. Gadille und J.-M. Mayeur. Dt. Ausg. bearb und hrsg. von M. Greschat. Ebd. 1997. XXII, 1110 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn., 10 Farbtaf. Lw. ISBN 3-451-22261-2.

1) Bernd Moeller, Eine neue "Geschichte des Christentums" (ThLZ 118, 1993, 899-904). Es handelte sich um die Bände 6, 8 und 12.

2) Vgl. über dessen "harmonische und ,ekklesiastische' Geschichtsbetrachtung" meine frühere Rez. (s. o. Anm.1) Sp. 900.

3) Vgl. zu diesem Band zusätzlich die ausführliche Einzelrezension von Heribert Müller, "Die Geschichte des Christentums". Deutsch-französische Anmerkungen anlässlich des Bandes VII (Annuarium historiae conciliorum 29, 1997, 217-228).

4) In der das französische Original vergleichend einbeziehenden Rez. von H. Müller (s. o. Anm. 3) werden für Band VII eine Reihe von ziemlich gravierenden Übersetzungsfehlern namhaft gemacht.