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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

441–444

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

1) Kern, Udo 2) Mühling-Schlapkohl, Markus

Titel/Untertitel:

1) Liebe als Erkenntnis und Konstruktion von Wirklichkeit. "Erinnerung" an ein stets aktuales Erkenntnispotential.

2) Gott ist Liebe. Studien zum Verständnis der Liebe als Modell des trinitarischen Redens von Gott.

Verlag:

1) Berlin-New York: de Gruyter 2001. X, 295 S. gr. 8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 109, Geb. ¬ 94,00. ISBN 3-11-016865-0.

2) Marburg: Elwert 2000. 369 S. m. zahlr. Abb. gr.8 = Marburger theologische Studien, 58. Kart. ¬ 29,80. ISBN 3-7708-1139-9.

Rezensent:

Wolf Krötke

Wenn von "Liebe" gesprochen wird, kann von ganz Verschiedenem die Rede sein. Dafür sind die Untersuchungen von U. Kern und M. Mühling-Schlapkohl ein eindrücklicher Beleg. Auf der einen Seite wird ein weiträumiges Panorama gezeichnet, das die Vieldimensionalitat der Liebe zum Ausdruck bringt; auf der anderen geht es auf höchst spezielle Weise um die "Formulierung eines kohärenten und sachlich angemessenen Gottesverständnisses, das auf der Prädikation Gottes als Liebe beruht" (M.-S., 3). In jenes Panorama gehört auch die Glaubenseinsicht hinein, dass Gott die Liebe ist (vgl. K., 93-121). Doch so wie M.-S. sie darbietet, hat sie mit K.s Darbietung kaum etwas zu tun.

Das hat zunächst darin seinen Grund, dass es K. nicht um einen Begriff der Liebe als solchen geht. Er trägt vielmehr Phänomene zusammen, die auf durchaus unterschiedliche Weise "Liebe" heißen. Um die Relevanz der Liebe für ein das Rationale überschreitendes Erkennen aufzuweisen, wird z. B. eine ganze Fülle von Verwendungen des Liebesbegriffs aus verschiedenen Zeiten aufgerufen: Platons Erosverständnis (10), Augustins Bewertung der Agape (11), die Sicht des Verhältnisses von Liebe und Vernunft bei Marsilius Ficinius, Meister Eckhart, B. Pascal, J. W. v. Goethe, P. Tillich, G. W. F. Hegel, L. Feuerbach, im Neuen Testament und bei vielen anderen (vgl. 10-22). In ähnlicher Weise wird durch das ganze Buch hindurch (mit manchmal sogar seitenlangen Zitaten) einem vielstimmigen Reden von der Liebe Raum gegeben. Die "ontologische Bedeutung" der Liebe (22-37), ihre Unentbehrlichkeit für die Entwicklung von Personalität und Zwischenmenschlichkeit (vgl. 39-92), ihr Zusammenhang mit der Leiblichkeit und der Sexualität, dem Gefühl und der Geistigkeit (vgl. 146-180) oder ihre Funktion als "Kommunikationsmedium" (vgl. 181-192) erscheinen im Spiegel dessen, was immer schon von der Liebe gesagt und gedacht wurde. Auch der unübersehbaren Tatsache "entfremdeter Liebe" wird durchaus Rechnung getragen (vgl. 122-145). Doch demgegenüber und vor allem angesichts der "Eiszeit" (272), die eine Rationalität ohne Liebe schafft, ruft K. zur "Nutzung" des "Potentials der Liebe für die Erkenntnis und Gestaltung von Weltwirklichkeit" (270) auf. Dieses Potential ist mannigfach, wie im Schlusskapitel mit Berufung auf so verschiedene Denker wie u. a. auf Kierkegaard und Hegel, Meister Eckhart und Kant, Fichte und Max Scheler, Sartre und T. de Chardin aufgelistet wird (vgl. 217-272). Um nur einiges zu nennen: Jenes Potential "erbaut" und führt zur Orientierung an Wirklichkeit und Wahrheit. Es verändert und bewahrt. Es versöhnt und lässt (auch angesichts des Todes) hoffen. Es enthält "kosmische Energien" und macht frei zum "Fundamentalspiel" des Lebens (265).

Doch angesichts der diversen Begriffe von Liebe, mit denen dieses "Potential" aus den verschiedensten Kontexten heraus beschrieben wird, weiß man am Ende nicht recht, welche Art von Liebe eigentlich gemeint ist, der die Überwindung einer "seelenlosen Welt" zugetraut wird. Ist es das Lieben von Subjekten? Ist es die Liebe zu einzelnen Menschen oder zur Menschheit? Ist es die Liebe zu "Dingen"? Ist es die Liebe als Kraft oder als Ereignis? Oder ist es alles zusammen? Die Aufforderung, das Potential der Liebe "zu nutzen", macht darum etwas ratlos. Sie erweckt überdies den Eindruck, Liebe sei irgendetwas Einsetzbares oder Handhabbares. Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass K. einer utilitaristischen Betrachtungsweise der Liebe durchaus zustimmt. Sie sei "nutzbringend für die Einzelnen und die Gemeinschaft" (238). "Qualifiziert produziert Liebe", heißt es in einem ziemlich kryptischen Satz (ebd.). Das technisch-funktionale Reden vom "Taugen" (146), "Konstruieren", "Produzieren" und von der "Nutzung" der Liebe hat jedoch gegenüber den Phänomenen, die in diesem Buch auch beschrieben werden, etwas Unangemessenes. K. hat der wesentlichen Beziehung der Liebe auf die Sprache keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist jedoch aus vielen Gründen nötig - nicht zuletzt darum, damit eine funktional-technische Sprache die Absicht nicht verdirbt, für die "Potenziale" der Liebe in unserer technisierten Welt Raum zu schaffen.

Mit dem Problem von Liebe und Sprache bekommen wir es in anderer Weise auch bei der Bemühung von M.-S. um ein "dilektiologisches Gottesmodell" (9) zu tun. Sie gilt zum überwiegenden Teil der "Modellanalyse" ausgewählter Beispiele trinitarischen Denkens, die mit der Begrifflichkeit der Relationslogik vollzogen wird. Dem zur Seite tritt eine "Modellsynthese", deren Ergebnis lautet: Gott ist "ein nicht raumzeitlich individuiertes, aber nur raumzeitlich zu identifizierendes offenes Ereignis dreier extensionsdisdinkter Relate, die in einer feldkonstitutiven Relation stehen. Dieses Ereignis selbst sowie in Identität dessen Individuationsprinzip dürfte als Liebe im Sinne spezifisch geregelter Interaktion und Kooperation zu verstehen sein, genauer: als "Freundschaft" (10; vgl. 331). Diese Aussagen setzen voraus, dass eine immanente Trinitätslehre, welche die göttlichen Personen "intentional distinkt" versteht, der Relationslogik und ihren ontologischen Anforderungen nicht stand hält. Das bedeutet, die Personen sind hier eigentlich nur der Absicht nach, aber nicht real unterschieden. Die Liebe zwischen ihnen kann darum nur als ein selbstreflexiver Akt, d. h. als Selbstliebe verstanden werden und genügt dem Begriff der Liebe nicht. Ein solches Modell wird bei Augustin, K. Barth und teilweise auch bei E. Jüngel festgestellt (vgl. 66-142). Ihm wird im Grunde der schon oft wiederholte Vorwurf des Modalismus bzw. Subordinatianismus gemacht. Sein Vorzug ist aber, das es Gott "feldkonstitutiv", d. h. primär unabhängig von seiner Relation auf die Welt begreift. Diesen Vorzug teilt jedoch auch das andere Modell, das in verschieden ausgeprägter Weise bei H. v. St. Viktor, K. Th. Liebner, John D. Zizioulas, W. Pannenberg und R. G. Swinburne zu finden ist (vgl. 142-268). In ihm werden die trinitarischen Personen "extentional distinkt" begriffen, d.h. als "unterschiedliche, nicht identische Realitäten oder Entitäten" (vgl. 331). Daran anknüpfend interpretiert M.-S. die Relationen zwischen den "Entitäten" Vater, Sohn und Geist als das "Ereignis Gott", das sie zugleich ermöglicht. Dieses Ereignis sei das "Individuationsprinzip" Gottes (ebd.).

Bis hierher ist das eigentlich nichts Neues. Gottes Göttlichkeit wird als Ereignis und Ermöglichung der Beziehungen verstanden, die zwischen den trinitarischen Personen walten. Nur ist der Personbegriff durch den der "Relate" und der Wesensbegriff durch den des "Ereignisses" ersetzt. Ungewöhnlich ist dagegen die Interpretation dieses Ereignisses als "Freundschaft". Dabei handelt es sich - wie eine Analyse des Liebesbegriffs darlegt (vgl. 269-293) - um eine geregelte symmetrische "Interaktion", in der die Relate in der Haltung der Wahrhaftigkeit zueinander stehen, sich gegenseitig ein Gut übertragen und in "Kooperation" auf ein gemeinsames Projekt bezogen sind (vgl. 291). Im Falle Gottes ist das übertragene Gut die Identität des jeweils anderen Relats. Dagegen setzt "Kooperation" zwischen dem "Erstrelat" (Vater) und dem "Zweitrelat" (Sohn) die Beziehung auf ein "Drittrelat" (Geist) voraus, das als "Projekt oder der ,condilictus' von Vater und Sohn" (307) zu verstehen ist. Das bringt jedoch trotz der Behauptung der "wechselseitigen Bedingtheit der Personen" (317) in dieses Modell eine eindeutig subordinatianische Tendenz. Um sie zu überspielen, werden die Stellungen der Personen nun ein wenig herumgeschoben.

Jede Person kann "sowohl Erst-, als auch Zweit-, als auch Drittrelat sein" (320), so dass z. B. die Auferweckung des toten Sohnes Gottes als gemeinsames "Projekt" von Vater und Geist zu gelten vermag. Doch wenn die Stellungen der Personen in der Trinität derart austauschbar sind, wie können sie dann als einzelne Relate "individuiert" gedacht werden? Antwort: Letztlich gar nicht. Denn die Parzialrelationen zwischen ihnen müssen "intentional unvollständig", voller unentdeckbarer "missing links" verstanden werden (ebd.). Ihnen kommen "prinzipiell unbekannte Eigenschaften" zu (332), welche die "verborgene Seite" der Liebe Gottes darstellen (320). Dem entspricht, dass nach diesem Modell angenommen werden muss, noch nicht einmal die jeweiligen Relate wüssten "unbegrenzt" von den "Absichten" der anderen, da Vertrauen, Treue und Wahrhaftigkeit zwischen ihnen nur angenommen werden kann, wenn jede "die Möglichkeit zum Widerspruch" hat (315). Insofern schwenkt dieses Modell auf die Vorstellung einer Prozesshaftigkeit des trinitarischen Gottes ein, wobei die Frage, ob Gott "immer perfekter" werde, als "kaum lösbar" angesehen wird (316).

Erfreulicherweise stößt der Versuch, Gott "kohärent" als "Modell" zu konstruieren, hier an Grenzen, die auch sonst in einer Reihe von Selbsteinwendungen des Autors sichtbar werden (vgl. 313-321). Denn des Eindrucks, dass die "Modellbildung" Gottes mit relationslogischen Kalküls immer mehr umschlägt in ein Zurechtreimen der Trinität, kann man sich schwerlich erwehren. Wenn das nicht aufgeht, ist es nur gut. Doch wie es nicht aufgeht, hat seinen Preis. Die Liebe, die Gott ist, weist auf eine sogar Gott selbst prinzipiell verborgene Dimension zurück. Damit wird die immanente Trinität wieder zu einem unsagbaren Vorbehalt gegenüber der Selbsterschließung Gottes, von der auch diese trinitarische (wie es mit einem Absurdwort heißt) "Dilektiologie" ausgeht (vgl. zur "erfahrbaren Trinität": 293- 297). Sie verliert den Kontakt zu dieser Selbsterschließung und verdankt sich einer davon abstrahierenden "Reflexionsleistung" (330), die deutlich hinter die Einsicht der Einheit von "immanenter" und "ökonomischer Trinität" zurückfällt. Nur so kommt es zur Charakterisierung der Göttlichkeit Gottes als "Freundschaft", die überhaupt keinen Anhaltspunkt in der biblischen Erfahrung des trinitarischen Gottes hat. In der Praxis der Verkündigung kann sie mit den tritheistischen Assoziationen, die sie hervorruft, eigentlich nur Verwirrung anrichten. Aber um diese Praxis geht es auf den akribisch beschrittenen schmalen Pfaden, welche die "modelltheoretische" Arbeit zulässt, offenkundig auch gar nicht. Aber worum geht es dann? Bloß als Spielwiese irgendeines verlogifizierten Scharfsinns kann doch der "Vorschlag" (3) dieses "Modells" trinitarischen Denkens auch nicht gemeint sein, wenn dergleichen mit dem Anspruch verbunden ist, für den "tragfähigen Grund des christlichen Glaubens" "wichtig" zu sein (332). Insofern steht man - von den trinitäts-spezifischen Fragen abgesehen - vor dieser Zuspitzung des christlichen Verständnisses der Liebe am Ende in anderer Weise etwas ratlos, als vor der weiträumigen Empfehlung ihrer "Nutzung".