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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

436–438

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Methuen, Charlotte

Titel/Untertitel:

Kepler's Tübingen. Stimulus to a Theological Mathematics.

Verlag:

Aldershot, Brookfield USA, Singapore, Sydney: Ashgate Publishing Limited 1998. 280 S. = St. Andrews Studies in Reformation History. Geb. £ 47,50. ISBN 1-85928-397-7.

Rezensent:

Wolfgang Achtner

Es ist bekannt, dass der Astronom Johannes Kepler von seiner Ausbildung her eigentlich Theologe war und anstrebte, Pfarrer zu werden. Nicht bekannt war bisher, ob seine theologische Ausbildung einen Einfluss auf sein astronomisches Forschen hatte, sieht man einmal von der Monographie Jürgen Hübners ab, die sich vor allem der Theologie Keplers widmet. Gab es aber in der theologischen Ausbildung und der theologischen Tradition, in der Kepler in Tübingen erzogen wurde, Motive, die sich positiv auf Keplers wissenschaftliche Arbeit als Astronom auswirkten? Dieser Frage stellt sich die Autorin.

Allein diese Fragestellung ist schon verdienstvoll, hat doch bisher weder die Kirchengeschichtsschreibung die wissenschaftliche Arbeit Keplers zu würdigen gewusst noch die Wissenschaftsgeschichte einen positiven Beitrag der Theologie zur "Scientific Revolution" in Erwägung gezogen - sieht man einmal von vereinzelten Arbeit im angelsächsischen Sprachraum ab (Merton Thesis zur Rolle des Puritanismus bei der Entstehung der klassischen Mechanik im England des 17. Jahrhunderts, das Werk Hooykaas). Auch die schematisierenden Verhältnisbestimmungen von Ian Barbour zur Beziehung Religion-Naturwissenschaft (conflict, separation, dialogue, integration) helfen bei dieser Fragestellung nicht weiter. Die Fragestellung Charlotte Methuens ist daher ein echtes Desiderat. Es verwundert auch nicht, wenn bei den bisherigen ideengeschichtlichen Annäherungsversuchen an Kepler ein wilder Eklektizismus wucherte (Hermetik, Platonismus, Cusanus). Um den möglichen positiven Beitrag der lutherischen Prägung zur Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens Keplers herauszufinden, verfolgt die Autorin sowohl die Geschichte der institutionellen Voraussetzungen im damaligen Herzogtum Württemberg, wie auch die theologischen Traditionslinien der Lehrer Keplers in Tübingen zurück bis zu Melanchthons Einfluss, der im Gegensatz zu Luther infolge seiner anders gewichteten, positiv verstandenen Rolle der Ratio im theologischen Diskurs die naturwissenschaftliche Forschung positiv zu würdigen wusste, was sich auch in seiner aufgeschlossenen Haltung gegenüber Kopernikus zeigte und in der Tatsache, dass er einen naturwissenschaftlichen Kreis um sich geschart hatte. Anhand akribischen Quellenstudiums der unmittelbaren Lehrer Keplers (Maestlin, Crusius, Liebler), die in direkter oder indirekter theologischer Tradition Melanchthons stehen, zeichnet die Autorin ein detailliertes Bild der Rolle relevanter theologischer Topoi (liber naturae, liber scripturae), methodischer und hermeneutischer Prinzipien und der Mathematik.

Dabei fällt gewissermaßen als Nebenprodukt die Erkenntnis ab, dass Melanchthon die Ethik in Analogie zur Astronomie und Mathematik sieht, weil in diesen Bereichen Ordungsstrukturen bereits verwirklicht sind, die es in der Ethik erst noch zu verwirklichen gilt. Es wird darüber hinaus deutlich, in welchem Umfang drei Wittenberger Mathematiker um Melanchthon (Rheticus, Peucer, Reinold) die Lehrer Keplers in Tübingen theologisch und wissenschaftlich beeinflusst haben. Anhand des Theologen Heerbrand, Schüler Melanchthons und Lehrer von Keplers Lehrer Maestlin in Astronomie und Mathematik, konkretisiert die Autorin diesen Einfluss anhand des alten Topos "liber naturae". Da gemäß der Tradition der natürlichen Theologie Gott in der Natur als Ordnungsstifter wirksam ist, kann die Vernunft ihn auch mit Hilfe der Sprache der Natur, der Mathematik, erkennen. Naturwissenschaft ist daher Gottesdienst. Natur wird so in der hermeneutischen Tradition lutherischer Theologie in Analogie zum liber scripturae ein zu lesender Text, der in der Sprache der Mathematik geschrieben ist.

Es gelingt der Autorin herauszuarbeiten, dass der beständige Umgang mit dem Topos "liber naturae" den Weg zu einem neuen naturwissenschaftlichen Wahrheitsverständnis ebnet. Die Diskussion um die rechte Methode und die Diskussion um die Autorität spielen dabei eine wichtige Rolle. Während die Wahrheit nämlich des liber scripturae durch die Autorität der Schrift verbürgt ist, ist die Wahrheit des liber naturae nur durch den unabschließbaren Prozess der Beobachtung approximierbar und in der Sprache der Mathematik darstellbar. Damit gebührt der Autorin das Verdienst, herausgearbeitet zu haben, dass zwei moderne naturwissenschaftliche Motive in der Wittenberg-Tübinger Tradition aus genuin theologischen Diskussionen entstanden sind: Die Mathematisierung der Natur aus der Methodendiskussion - auch wenn Keplers Platonismus sicher auch eine Rolle gespielt hat - und die Betonung der Beobachtung als grundlegendes methodisches Prinzip aus der Autoritätsdiskussion.

Im abschließenden Kapitel stellt die Autorin Kepler in diese theologiegeschichtliche Tradition und diskutiert anhand der Quellenlage bisherige Thesen, Kepler ideengeschichtlich einzuordnen. Dabei entbehren nach ihrer Einschätzung immer wieder vermutete hermetische Traditionen jeder Grundlage. Es ist vielmehr die von Melanchthon neu bewertete natürliche Theologie, die Kepler theologisch motiviert hat, Naturwissenschaft als Gottesdienst zu betreiben. Und es ist das methodische Rüstzeug der Mathematik und das der Beobachtung, die Kepler zu einer Schlüsselfigur bei der Transformation theologischen Denkens zu wissenschaftlicher Forschung hat werden lassen. Damit ist der Autorin gelungen, einen bisher nicht beachteten theologischen Traditionsstrom ans Licht zu bringen, der zum Entstehen modernen naturwissenschaftlichen Denkens beigetragen hat.

Das Buch mit seinem ungewöhnlichen kirchengeschichtlich-wissenschaftsgeschichtlich-theologiegeschichtlichen Forschungsansatz ist ein gelungenes Beispiel für interdisziplinäres Arbeiten - in Sonntagsreden oft gefordert, im Alltag der Forschung selten praktiziert - und sollte zur Pflichtlektüre eines jeden Kirchengeschichtlers, Wissenschaftshistorikers und historisch interessierten systematischen Theologen werden. Es hat eine Übersetzung ins Deutsche verdient.