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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

432–434

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gruebner, Birgit

Titel/Untertitel:

Gott und die Lebendigkeit in der Natur. Eine Interpretation des Dritten und Vierten Buches von Johann Arndts "Wahrem Christentum".

Verlag:

Rheinbach: CMZ 1998. 231 S. 8 = Arbeiten zur Theologiegeschichte, 4. Kart. ¬ 34,77. ISBN 3-87062-029-3.

Rezensent:

Hermann Geyer

Arndts von der theologischen Forschung bisher zu wenig beachtetem liber naturae widmet Gruebner ihre Hamburger Dissertation von 1996, deren Publikation sie noch ein knappes Kapitel zu Buch III des Wahren Christentums voranstellt. Während I und II zurücktreten, richtet G. ihre "systematische Untersuchung der Theologie Johann Arndts" (11) auf Buch III und IV, in denen sie das "theologische Anliegen" (15) der "Gottesgegenwart im Menschen" als "das Grundthema des Wahren Christentums" aber auch "geistige Mitte des gesamten christlichen Glaubens und Lebens" (21) repräsentiert sieht. Dies versteht sie zugleich als Beitrag dazu, ein "Gott, Welt und Mensch trennende[s] Wirklichkeitsverständnis" neuzeitlichen Bewußtseins zu überwinden (53). Weil ihr Gegenstand ein "seinem Wesen nach erbauliches Werk" sei, das bis heute ,wirke', ziele eine adäquate Untersuchung auf "Begegnung" bzw. "Dialog". Explizit "über die in der historischen Analyse notwendige (existentielle) Distanz hinaus" soll G.s "Verständigungsversuch" methodisch sich "dem Anliegen" des Werkes angleichen, "das unter den Bedingungen einer rein diachronen Betrachtungsweise nicht zu fassen ist" (66; Hervorh.: Rez.): D. h. "das im Arndtschen Sinn Erbauliche" soll dabei "im Horizont des christlichen Glaubens zu Worte kommen und (auch) im Horizont der Gegenwart" (75).

Daraus folgt, dass in G.s Vorhaben einer "immanente[n] Interpretation" (66), wenngleich Forschungsergebnisse referiert werden, doch die historisch-analytische, sog. "diachrone" Perspektive zurücktritt - was mit gewissen enthistorisierenden Tendenzen im Urteil einhergeht, z. B. wenn G. die vermeintliche ,Krise' der Frömmigkeit, die gemeinhin als der Anstoß zu Arndts Werk gilt, ganz allgemein "als die Not des Glaubens" deutet, die "ein anderer erbaulicher Schriftsteller" - S. Kierkegaard - analog wahrnehme (61). Die dem Gegenstand anverwandte Methode erfolgt, präzise charakterisiert, "in der Form einer homilieartigen Betrachtung des Textes, d. h. so, dass wir am Text entlang die Gedanken Arndts in ihrem Zusammenhang auf besinnliche Weise nachzuvollziehen versuchen" (15). Die so bezeichnete "systematische Reflexion" (62) folgt nach Kapiteln und Abschnitten ganz dem Duktus von Buch III und IV in einem Verfahren, in dem sich Zitation, Referat, Paraphrase und Zusammenfassung von Arndts Text, oft ohne Übergang, mit G.s eigenem ,Erbaulichen' abwechseln, wobei die Grenzen zwischen ihnen immer wieder verfließen.

Allenthalben explizieren Transformationsformeln (wie "anders formuliert/ausgedrückt"; "mit eigenen Worten gesagt" etc.) G.s Anliegen der Übersetzung in ein - zumeist kursiv gesetztes- "ich"/"mein" bzw. "wir"/"unser" gegenwärtiger Existenz. Selbstbewusster Kritik (Meyer-Abichs "unreflektiert[e] Position, 171, Jüngels "zu undifferenzierte Aussage", 50 A. 90 f., Blumenberg: "Ich bezweifle, ob das überhaupt die Frage gewesen ist", 112 A. 225) stehen mitunter recht schlichte, auf Arndt bezogen allgemein bleibende Aussagen gegenüber: "Betend also - könnte man sagen - schließt sich uns Gott als die Quelle unseres Lebens immer neu auf." (43)

"Gott und der Mensch gehören also zusammen. Genauer gesagt, es gehört zu beiden, es ist beiden wesentlich, miteinander verbunden zu sein." (52) Die Gestirne "sind, könnte man sagen, Himmel in ausgezeichneter Weise" (109) u. s. w. Arndt, den G. von Luthers Rechtfertigungslehre, deren Rezeption durch Ph. Nicolai sowie der sog. "Deutschen Mystik" (vgl. aber auch Bernhard, Angela, Ludwig v. Granada u. a.) herleitet (63), bewege sich ungeachtet der Rezeption mystischer, paracelsischer bzw. paracelsistischer u. a. Quellen so "[g]rundsätzlich [...] im Rahmen der lutherischen Theologie", "daß er es explizit nicht erwähnen muß" (s. aber 198: WCh IV/II, 12 u. 17; dazu IV/II "Beschluß", diverse Vorreden u. a.). Gelegentlich ist Arndt selbst der Kritik ausgesetzt (Gefahr eines ,Mißverständnisses' von Leiden, 46; Geringachtung der "Äußerlichkeit des Wortes selbst als eine[r] Weise der Gegenwärtigkeit Gottes", 50, - was jedoch G.s harmonisierende Sicht der Einheit von ,äußerem' und ,innerem' Wort nicht beeinträchtigt; Arndts/Raimunds Konzept der obligatio, 180-182, etc.). Dem Paradigma der Verschmelzungsmystik verpflichtet, will G. Arndts Thema der "inwendige[n] Gottesgegenwart" im Menschen und ,in der Natur' (Buch III/IV) nicht "rein ,mystisch' im Sinne einer differenzlosen Einheit von Gott und Mensch" (17, 48) deuten, da doch die "Vereinigung mit Gott [...] das wirkliche Zusammenkommen von Gott und Mensch, die lebendige und erfüllende Einheit beider im Leben eines Menschen" sei (29; Hervorh. Rez.). Dass "menschliches Bemühen und göttliche Gnade [...] zutiefst ineinander" greifen (27), und dass die "Gelassenheit" dabei im "Ineinander von göttlichem und menschlichem Wirken" bestehe (49), scheint mit Arndts ,lutherischer Theologie' ohne weiteres vereinbar.

Der im liber naturae auf eine "Übereinstimmung [...] von Gott, Mensch und Natur" gerichtete Blick führt zu dem Ergebnis, dass "der gemeinsame Sinn allen Lebens Gott ist." "Gottes Gegenwart in der Natur" bedeute, "Gott als den Geist oder, modern formuliert, als den Sinn ihres Lebens zu verstehen" (215, vgl. 171: "der gute Geist des Lebens"). Der Sinn der Vorschaltung eines Kapitels zu Buch III ergibt sich aus der Gegenüberstellung, "den Gedanken der Gottinnerlichkeit" wie für den Menschen (III), so "auch für das Leben der Natur zu denken" (IV) und beides im Zusammenhang zu sehen (vgl. dazu den wichtigen Hinweis auf I. Kant, 184 A. 309). Dabei wird "Gott als das Innere der Natur gedacht [...] in der Weise seiner [...] belebenden Liebe zum Leben" (216). Dazu in Spannung steht G.s Grundgedanke, dass "die Natur etwas Lebendiges in sich selbst ist" (217). Dieser (sichtlich von Kierkegaard inspirierten, 209) These von der relativen ontologischen "Eigenlebendigkeit des natürlichen Lebens" (180) wiederum widerspricht WCh IV/I, 6,12 f., dass allein Gottes "Odem", das "Wort der Schöpfung" als creatio continuata, die innere "Lebenskraft" in allen Kreaturen sei, bei deren Wegfall sie, die nur "Schatten am Baum" sind, "wieder zu Staub" würden und in "ihr eigen Nichts" zurückfielen (142 f.151). Der zentrale Gedanke der "Gottinnerlichkeit", zu dem eine theosophische Deutung im Sinne der anima mundi ähnlich führt, erscheint als "allgemeine Erfreulichkeit des Lebens" allerdings wieder ins allzu Erbauliche verflacht (141.177). Wenn im Horizont einer "Theologie des Arndtschen Liber Naturae" (75) ein "theologisches Verständnis der Natur" (57) aufscheint, wäre vertiefend zu fragen, wie sich die Position, dass - als "die Seele oder auch der Sinn des menschlichen Lebens" - ein aus der Schöpfung abgeleitetes "Vereintsein mit Gott zum Menschsein selbst", nicht nur zum Christsein, "gehört" (158), zur Theologie des Gesamtwerks verhält (79). Hätte sich der ,diachron' befangene Rez. u. a. zu Stichworten wie Alchemie oder ,Signatur' Genaueres gewünscht, so hat er, in einer Monographie zu Arndts liber naturae, eine detailliertere Analyse der Naturallegorese regelrecht vermisst. Das Literaturverzeichnis zeigt einen erweiterten Horizont an Fragestellungen und Autoren. Irritierend wirkt die Einordnung von Bekenntnisschriften und Luther statt unter Quellen unter "Weitere Literatur". Register wird/werden vermisst.

Versuch eines Fazits: Das Ansinnen, mit Autoren vergangener Zeiten in eine Art "Dialog" über gegenwärtige Fragen zu treten, ist als solches legitim, bedarf jedoch, gerade in hermeneutischer Hinsicht, einer stärkeren historischen Fundierung, als es in G.s vorliegender Monographie der Fall ist - was auch deren gattungsmäßige Polysemie klären helfen könnte. Die an Buch III und IV aufgewiesene doppelte "Gottinnerlichkeit" ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis Arndts.