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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

429–432

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wieden, Susanne bei der

Titel/Untertitel:

Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 1999. X, 475 S. gr.8 = Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers, 7. Lw. ¬ 80,50. ISBN 3-412-12298-X.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Mit der massenhaften Verbreitung, die den Drucken von Lutherpredigten des Jahres 1522 zuteil wurde, hat sich bereits in den Anfangsjahren der Reformation eine den ganzen (süd-)deutschen Sprachraum durchziehende lutherische "Lesergemeinde" (62.446) konstituiert. Zu diesem Schluss kommt die aus einem Göttinger Graduiertenkolleg erwachsene, von Bernd Moeller betreute, methodisch und sachlich gleichermaßen innovative Dissertation, die Susanne bei der Wieden unlängst vorgelegt hat.

Der einschlägige Bestand an Predigtdrucken ist beachtlich: Von dem Kanzeldienst, den Luther zwischen Anfang März, dem Ende seines Wartburgaufenthalts, und Anfang November 1522 versehen hat, sind in 187 Einzeldrucken und sechs Sammeldrucken insgesamt über 90 Predigten auf uns gekommen (6 f.). Dieser Textbestand fand bislang wenig Beachtung, weil die Überlieferungslage außergewöhnlich komplex ist (der treue Rörer nahm erst zu Weihnachten 1522 seine Protokolldienste auf) und die Aussicht, die ipsissima vox Lutheri rekonstruieren zu können, entsprechend gering. W. geht einen anderen Weg: Sie hält die Suche nach einem aus späteren Überformungen und Ergänzungen extrahierten authentischen Luthertext für obsolet und fragt stattdessen nach dem Reiz, den die vielfach verlegten und verkauften Predigtdrucke ausübten, und nach deren spezifischer Rolle im frühreformatorischen Kommunikationsprozess (62-68). Selbst wenn man den Versuch, Nachschriften von Lutherpredigten auf ihren Authentizitätsgehalt zu befragen, nicht grundsätzlich als ein "methodisch verfehltes Unterfangen" (31) disqualifizieren möchte, lässt sich die Entscheidung, die Textgestalt der Predigtdrucke als Ausgangspunkt ihres immensen literarischen Erfolgs ernstzunehmen, vorbehaltlos akzeptieren. Zurecht erinnert W. an die Folie der überlieferten spätmittelalterlichen Predigten, die nicht "aktuelle und ephemere Kanzelrede festzuhalten" suchten, sondern "als volkssprachliche Erbauungsschriften abgefaßt" wurden (30 f.). Das Untersuchungsjahr 1522 ist gut gewählt: Von der Wartburg nach Wittenberg zurückgekehrt, musste Luther seinen religiösen, theologischen und kirchlichen Neuaufbruch jetzt erstmals innerhalb eines "innerreformatorischen Kraftfeld[s]" (40) vertreten. Demgemäß bietet W. eine präzise, differenzierte Schilderung der neuartigen Predigtsituation Luthers (38-45) - übrigens auch eine minutiöse Rekonstruktion seiner damaligen Predigtreisen (45-56) -, deren Wert durch die an einer Stelle unterlaufene Vermengung sozialer und theologischer Deutungskategorien (44 f.) nicht wirklich getrübt wird.

Die von W. intendierte überlieferungsgeschichtliche Analyse aller gedruckten Lutherpredigten von 1522 setzt eine gesicherte Druckfolgebestimmung unabdingbar voraus. Zwar ist dies schon mehrfach versucht worden, beginnend mit der von Johann Schott in Straßburg gedruckten Sammelausgabe (1522/ 23), am ausführlichsten in WA 10,3 (1905). Längst sind jedoch auch die Grenzen eines nur textimmanent operierenden Druckvergleichs sichtbar geworden (69-73). Mit ihrem methodischen Neuansatz greift W. das von der englischen und amerikanischen Shakespeare-Forschung entwickelte Verfahren der "analytical bibliography" auf. Diese "ermittelt durch einen photomechanischen Vergleich scheinbar druckidentischer Exemplare typographische Varianten und erklärt deren Entstehung aus den technischen Bedingungen des jeweiligen Drucks" (75). Dem gewählten Verfahren zuträglich ist im vorliegenden Falle der Umstand, dass der Druck der Lutherpredigten von 1522 fast ausschließlich in kleineren Offizinen entstanden ist, die, unter notorischem Mangel an Papier, Drucktypen und Zeit stehend, in der Regel satzanaloge Nachdrucke herstellten (79-89).

Der materiale Hauptteil der Arbeit (103-377) bietet überlieferungsgeschichtliche Einzelanalysen, in denen das genannte Verfahren erprobt wird und sich bewährt. Dabei werden für jede Predigt zuerst das Abhängigkeitsverhältnis der Drucke, sodann überlieferungsgeschichtliche Auffälligkeiten der Texte ermittelt. Die ausgreifenden, ins Einzelne gehenden Analysen erfordern auch vom Leser ein gehöriges Maß an rezeptiver Konzentration, entlohnen die erbrachte Ausdauer dann freilich immer wieder durch überraschende Einsichten in den komplexen Entstehungsprozess der Reformation.

Die überragende Bedeutung der "Invocavitpredigten" (9.-16. März 1522) sichert zugleich der ihnen gewidmeten Analyse (112-152) besondere Aufmerksamkeit. Von dieser acht Predigten umfassenden Reihe wurde zunächst nur der Text der Mittwochspredigt, die sich zur Bilder- und Fastenfrage äußerte, bei Melchior Ramminger in Augsburg gedruckt (7 Nachdrucke 1522 [149; falsche Angabe 119]). 1523 erschien dann bei Wolfgang Köpfel in Straßburg der erste Gesamtdruck der Invokavitpredigten, und zwar als Teil einer größeren Sammlung von Lutherschriften bzw. -texten zum Thema des reformatorischen Gemeindeaufbaus. Das Zustandekommen dieser Anthologie scheint durch Wolfgang Capito maßgeblich befördert oder sogar veranlasst worden zu sein, "zumal dieser Druck ausgerechnet bei seinem Neffen Wolfgang Köpfel erschien, der sich ansonsten an Luthers Predigtdruck nicht beteiligte" (148). Insofern dürfte die erste Drucklegung der Invokavitpredigten in der Tat ein Nebenprodukt der "Spannungen in der Straßburger Reformation" (149) gewesen sein. Interessant ist natürlich die Frage, weshalb ausgerechnet die Mittwochspredigt bereits vorab separat gedruckt und mehrfach nachgedruckt worden ist. Die These W.s, Luther habe seine Bilderkritik nur in gemäßigter Form veröffentlicht, laut dieser - von ihm nicht autorisierten - Predigtnachschrift jedoch eine deutlich ikonoklastische Haltung vertreten und damit ein gezieltes Rezeptionsinteresse ausgelöst (149-152), ist erwägenswert, bedürfte aber, um als hinreichende Erklärung gelten zu können, zugleich einer materialen, biographische und theologische Interpretationsarbeit verbindenden Verifikation.

Ein großer abschließender Teil (379-446) würdigt die "gedruckten Lutherpredigten des Jahres 1522 als Bestandteil der reformatorischen Kommunikation" und löst, indem er die Ergebnisse der Einzelanalysen bündelt und deutet, den einleitend (62-68) erhobenen Anspruch ein, zur Diskussion von "Reformationstheorien" einen weiterführenden Beitrag leisten zu können. Deutlich ist zunächst, dass die Nachschriften in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe zu den Predigtvorträgen Luthers entstanden sind (384). Naturgemäß regten argumentativ konzipierte Predigten die einzelnen Nachschreiber zu stärkeren Varianten an als die homilieartig den Bibeltext auslegenden Kanzelreden (379-383). Insgesamt lässt sich aus den Mehrfachüberlieferungen entnehmen, dass die Nachschreiber zwar durchaus die sprachliche Form, jedoch kaum den theologischen Gehalt der Predigten variiert haben (384). Noch zurückhaltender gingen die Drucker ans Werk: Meist übernahmen sie sogar offenkundige Fehler und Sinnentstellungen ihrer Vorlagen oder griffen allenfalls, wie Ramminger in Augsburg, in spätere Nachdrucke verbessernd ein (384-388).

Erheblich ist der Erkenntnisfortschritt, den W. für die Überlieferungswege erzielt hat. Anhand einer tabellarischen Übersicht, in der sie die von ihr ermittelten Erstdrucker zusammenstellt (394 f.), wird nachvollziehbar, dass Kopien der in Wittenberg ausgearbeiteten Nachschriften gezielt in süddeutsche Städte (v. a. Augsburg, Nürnberg) gebracht wurden, um dort alsbald im Druck zu erscheinen, und zugleich nach Straßburg, um dem dort vorhandenen privaten Sammel- und Erbauungsinteresse zu entsprechen (393-398). Die weitere Ausbreitung der Drucke vollzog sich entlang der großen Handelsrouten. Allerdings haben etliche Nachdrucker ihre Vorlagen nicht erst im Handel, sondern über Kontaktpersonen direkt beim Erstdrucker erworben, um ihr Umfeld noch vor den fahrenden Händlern mit den gefragten Lutherpredigten versorgen zu können (398 f.).

Während Luther in seinen Predigten des Jahres 1522 - wenn auch kaum einer "grundlegende[n] Konzeption" (404) folgend- nacheinander verschiedene Themenschwerpunkte abdeckte, konzentrierte sich das Käuferinteresse vorwiegend auf diejenigen Predigtdrucke, die persönliche Glaubenserfahrung thematisierten und freisetzten, sehr viel weniger hingegen auf die Darstellung praktisch-ethischer Konsequenzen der lutherischen Glaubenslehre (402-412). Eindrucksvoll bestätigt W. damit die Einschätzung Moellers, der schon mehrfach Luthers Rechtfertigungslehre als "Herzstück der reformatorischen Bewegung" (412) ausgemacht hat.

Nachgerade spannend liest sich der Versuch, die untersuchten Predigtdrucke im Horizont von Luthers gesamtem literarischen Wirken funktional zu verorten. Luther habe, so die hier (432-444) mit einiger Plausibilität vertretene These, vor 1520 v. a. die persönliche Frömmigkeit seiner Leser zu befördern gesucht. Mit dem Jahr 1520 sei aber das Thema der kirchlichen Erneuerung zunehmend in den Mittelpunkt seiner deutschsprachigen Publikationstätigkeit gerückt. Nach der Wartburgzeit habe sich bei Luther das frömmigkeitspraktische Interesse wieder verstärkt, nun freilich weniger auf die Christenheit insgesamt als vielmehr auf die Parteigänger der lutherischen Reformation zielend, deren programmatische Abgrenzung von den Gegnern Luthers jetzt als ein konstitutiver Bestandteil in seine poimenisch-erbauliche Schriftstellerei integriert worden sei. Der 1522 nach wie vor dominierende Bedarf an persönlicher religiöser Erbauung habe mithin von den die Schriften Luthers funktional ergänzenden Predigtdrucken vollwertig abgedeckt werden können. Diesen Versuch, den bemerkenswerten literarischen Erfolg der Predigtdrucke plausibel zu machen, wird man auch dann als stimulierend empfinden, wenn man, wie der Rez., die Frage, ob sich um 1522 wirklich derart trennscharf zwischen religiös-erbaulichen Predigten und polemisch-parteibildenden Schriften Luthers unterscheiden lässt, für weiterhin prüfungsbedürftig ansieht.

Im Übrigen gehört es zu den sympathischen Vorzügen dieser Arbeit, dass sie nicht auf alle Fragen letztgültige Antworten zu geben beansprucht. So werden zwar für das Problem, weshalb kein einziger der Predigtdrucke in Wittenberg erschienen ist, obwohl doch von einer notorischen Aus- oder gar Überlastung der Wittenberger Druckereien keine Rede sein könne (417), einige sachdienliche Beobachtungen beigesteuert - etwa der Hinweis auf das latente Desinteresse des Reformators an einer Verschriftlichung seiner situationsbezogenen Kanzelrede (431 f.) -, ohne sich jedoch dadurch zu einer übereilten Problemlösung, die sich bei näherem Zusehen als eine Scheinlösung entpuppen könnte, hinreißen zu lassen.

Insgesamt überzeugt die Studie durch außerordentliche materiale und formale Akribie. Zu monieren sind allenfalls ein paar (sehr wenige!) Druck- und Zeichenfehler, marginale Versehen (so firmiert G. Ebelings Dissertation "Evangelische Evangelienauslegung" [1942, 31991] fälschlich als "Habilitationsschrift" [20, Anm. 1]; H. Junghans ist Mitarbeiter, nicht Herausgeber der (im Literaturverzeichnis fehlenden) "Martin Luther-Studienausgabe", Herausgeber ist H.-U. Delius [16, Anm. 6.19.72]), einzelne unnötige Wiederholungen (etwa der Verwerfung einer nur immanent verfahrenden Textkritik der Lutherpredigten [3.16 f.19 f.31.62]) und eine einzige argumentative Unklarheit (weshalb soll eine von Schott vorgenommene, brisante "theologische Korrektur" [155] nicht als "bewußter theologischer Eingriff" [156] gewertet werden?).

Die Arbeit bedeutet, nicht zuletzt auf Grund ihres methodischen Neuansatzes, einen substantiellen Fortschritt der Lutherforschung. Für die gängige Lutherdeutung, die sich noch immer viel zu oft nur als die gelehrte Paraphrase einzelner, nach Maßgabe des eigenen (systematischen) Interesses ausgewählter und kombinierter Textteile vollzieht, könnte sie zu einer heilsamen, auf unbedingte methodische Sorgfalt verpflichtende Herausforderung werden. Insofern wäre der Studie zu wünschen, dass sie innerhalb der internationalen Lutherforschung findet, was Luthers Predigtdrucke von 1522 einst konstituiert haben: eine große, aufnahmewillige, zu kritischer Rezeption bereite "Lesergemeinde".