Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2002

Spalte:

426–428

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Van't Spijker, Willem

Titel/Untertitel:

Calvin. Biographie und Theologie. Übers. von H. Stoevesandt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. VIII S., S. J101-J236 gr.8 = Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, 3 Lfg. J 2. Kart. ¬ 28,00. ISBN 3-525-52338-6.

Rezensent:

Wilhelm H. Neuser

Der Vf. legt auf nur 136 Seiten, die allerdings eng gesetzt sind, die neueste Calvinbiographie vor. Er verarbeitet darin die jüngste Calvinforschung und trägt selbst neue Ergebnisse bei. Der Rez. sieht seine Aufgabe darin, auf Einzelheiten aufmerksam zu machen, die diese Biographie von den früheren unterscheidet; die Grundzüge der Biographie Calvins setzt er voraus. Wie üblich geht der Vf. chronologisch vor.

Zuerst wird die politische und religiöse Situation in Frankreich dargestellt. Die Rivalität zwischen Kaiser Karl V. und Franz I. von Frankreich machte Letzteren zu einem möglichen Partner der deutschen Protestanten. Es beginnt die schwankende Politik Franz I., der sich einmal mehr dem Papst, dann wieder mehr den Protestanten zuwendet. Calvin sieht sich ihr auch über den Tod des Königs (1547) hinaus konfrontiert, sowohl in den frühen Jahren in Frankreich, als auch in Genf. Da der König den Humanismus unterstützte, konnte er beiden Seiten zuneigen. Calvins Denken wird durch diese Situation geprägt und er versucht, wie zuvor Zwingli, literarisch auf sie einzuwirken. Dieser treffenden Charakterisierung folgt die Schilderung des französischen religiösen Humanismus. Leider gibt der Übersetzer die schwer zu übersetzende Bewegung des "evangelism" mit "evangelisch" wieder und verbaut so das sachgemäße Verständnis dieser französischen Bibelbewegung. Der Vf. ergreift die Gelegenheit, Calvins Auseinandersetzung mit ihr, der er selbst anfänglich angehörte, in der Schrift "Duae epistolae" (1537) zu beschreiben.

Im zweiten Kapitel wird Calvins früheste Entwicklung erörtert. Der Vf. hebt die niederländische Frömmigkeitsbewegung der devotio moderna hervor, die Calvin beeinflusste und die auf seinem Weg zur Reformation wichtig wurde. Wo ist dieser Einfluss aber quellenmäßig greifbar? Im Übrigen hält der Vf. sich zurück, aus den wenigen Quellen allzuviel herauszulesen, auch nicht aus dem Kommentar zu Senecas Schrift De Clementia (1532).

Im Kapitel über Calvins Bekehrung ist die "subita conversio" als theologischer Begriff verstanden: Eine längere religiöse Entwicklung kommt zur definitiven Entscheidung. Warum aber dann eine "conversio ad docilitatem"? Und hatte die Universitätsrede vom 1. November 1533 wirklich "evangelischen" Charakter? Die Bekehrung wird mit den meisten Calvinforschern auf Ende 1533/Anfang 1534 datiert. Insgesamt ist der Vf. hauptsächlich daran interessiert, den religiösen Inhalt dieses Schrittes Calvins herauszuarbeiten.

Der Institutio wird sodann ein eigenes Kapitel gewidmet. Zwei Urteile des Vf.s sind bemerkenswert: Calvin habe für Zitate ein photographisches Gedächtnis besessen und, während für Luther Römer 1,16 f. zentrale Bedeutung gehabt habe, sei es für Calvin Römer 8 gewesen. Als biographischer Beitrag wird der Bekanntenkreis Calvins in Basel sorgfältig zusammengestellt. An diesem Punkt wird die Forschung noch weiter tätig werden müssen, um das Denken des frühen Calvin aufzudecken.

Die Situation in Genf im Jahr 1536 und Calvins Tätigkeit bis zu seiner Verbannung 1538 werden sorgfältig dargestellt. Die öffentliche Disputation mit den Täufern 1537 wird hervorgehoben und ebenso Calvins wenig beachtete Confessio de trinitate im Streit mit Caroli. Ausgangspunkt der spektakulären Verweigerung des Abendmahls zu Ostern 1538 sei der Ratsbeschluss vom 4. Januar gewesen, niemand dürfe vom Abendmahl ausgeschlossen werden, und die Einführung des Berner Staatskirchentums durch den Rat.

Auch für Straßburg, wo Calvin von 1538 bis 1541 wirkte, wird die politische Situation zuerst beleuchtet. Der Magistrat unterstützte nicht von sich aus die Reformation; diese ging vom Volke aus. Der Rat beschloss nach dem Durchbruch der Reformation 1531 die Ämter der je drei "Kirchspielpfleger" für die sieben Parochien, je einen aus dem Rat, den Zünften und der Gemeinde. Sie beaufsichtigten die Pfarrer, waren deren Helfer und traten regelmäßig zu Beratungen zusammen. Daneben tagte wöchentlich der "Kirchenkonvent" der Pfarrer. Martin Bucer verwirklichte auf diese Weise sein Ideal der Kirchenzucht. Calvin beobachtete diese Einrichtungen als Pfarrer der französischen Fremdengemeinde genau.

Die Neuausgabe der Institutio 1539 bezeugt sein fortschreitendes Schriftstudium. Während die Calvinbiographen meistens betonen, dass Calvin den Text der Institutio möglichst wenig antastete, sondern ihn nur stets erweiterte, allerdings auf diese Weise auch den Sinn korrigierte, betont der Vf. seine Lernbegierde. Denn die Vorrede endet seit 1543 mit dem Augustinzitat: "Ich gestehe, daß ich zu denjenigen gehöre, die während des Vorankommens schreiben und während des Schreibens vorankommen." Im Römerbriefkommentar verfolgte er das Ziel der perspicua brevitas - mit "klare Bündigkeit" vom Vf. treffend übersetzt. Er stellt der Exegese Calvins die Institutio als Dogmatik gegenüber und urteilt, es sei dadurch in der Reformation zu "einer verselbständigten" Dogmatik gekommen. Doch war damit über das Wesen der Institutio noch nicht das letzte Wort gesprochen (siehe unten).

Das Wirken in Genf 1541 bis 1546: Die neue Genfer Kirchenordnung "war voll und ganz in Bucers Geist" verfasst. Die Auswahl der Ältesten berücksichtigt jedoch die Genfer Verhältnisse. Da in der Kommission zur Ausarbeitung der Kirchenordnung die drei anderen Pfarrer (neben Calvin und Viret) die Kirchengewalt des Rates vertraten, kam es zu einem für Calvin bloß erträglichen Ergebnis. Es musste, wie in Straßburg, zu Spannungen zwischen Rat und Pfarrern über die Ausübung des geistlichen Regiments kommen. Die Zeit von 1546 bis 1555 ist überschrieben: Die Krise. Die bekannten Affären werden nach dem neuesten Stand der Forschung geschildert. "Bemerkenswerterweise blieb der Magistrat, auch in den Jahren, in denen die Gruppe um Perrin in der Mehrheit war, hinsichtlich der Lehrfragen auf Calvins Seite". Dies zeigen die Lehrprozesse Bolsec, Trolliet und Servet. In Disziplinarfragen war dies anders. Erst der Fall des Berthelie, der vom Kirchenrat exkommuniziert worden war, brachte 1555 die Klärung der Rechtslage: Der Kirchenrat besaß das Recht der Exkommunikation.

Übrig bleibt der Zeitabschnitt 1555-1564. Bern konnte die Rückkehr Perrins und seiner Anhänger nach Genf nicht durchsetzen. Der Berner Rat ging nun aber gegen Calvins Lehre im Wattland (vor den Toren Genfs) vor. Die Prädestinationslehre wurde als falsch bezeichnet, der Gebrauch der Institutio an der Akademie in Lausanne verboten, die Abendmahlslehre Calvins wurde als Bucerianismus abgetan. Beza und Viret verließen das Wattland und fanden Anstellung in Genf. Unseres Erachtens hätten in diesem Zusammenhang auch die regelmäßigen Pfarrkonvente genannt werden müssen, die im Widerspruch zum Berner Staatskirchentum standen und daher verboten wurden.

Der Vf. spricht vom "theokratischen Ideal" Calvins, ohne den Begriff näher zu erläutern. "Eine Stadt unter der Herrschaft des Evangeliums - das schwebte Calvin vor." Ist die "Herrschaft des Evangeliums" aber Theokratie? Der Vf. verweist zur Begründung auf die Verordnung des Großen Rats 1557, Verachtung der Kirchenzucht mit einjähriger Verbannung aus der Stadt zu bestrafen. Im nächsten Jahr wurden mehrere Änderungen beschlossen: Der Bürgermeister leitet den Kirchenrat nicht als Amtsperson, die Pfarrer werden an der Auswahl der Ältesten beteiligt, in der Kirche gilt nicht der rechtliche Unterschied zwischen citoyens und bourgeois, Kirchenzucht und Wiederaufnahme in die Gemeinde werden vor der Gemeinde vollzogen. Auch beschloss der Kleine Rat, sich vor dem Abendmahl der censura mo-rum zu unterziehen. Gab es zwischen 1550 und 1554 jährlich ca. 80 Kirchenzuchtsfälle, so waren es 1556 140; im Jahr 1559 wurden 300 Personen exkommuniziert. Diese vom Vf. vorgetragenen Fakten müssen sicherlich in eine Beurteilung Genfs zurzeit Calvins einbezogen werden.

Die Betrachtung der Institutio 1559 leitet über zu "Konturen der Theologie Calvins". Ein philosophisches Grundmodell ist für die Institutio nicht erkennbar. Sie ist keine Summa der Glaubenswahrheiten. Ein anderswo entliehenes Ordnungsprinzip gibt es auch nicht. Calvin schöpft nur aus der Schrift. Die Institutio ist daher auch kein in sich geschlossenes Ganzes. Jedes Stück der Lehre existiert innerhalb des existentiellen Rahmens, nämlich der Glaube wird jederzeit genährt. Der Vf. eröffnet mit diesen Beobachtungen einen neuen Zugang zum Verständnis der Institutio und stellt der Forschung neue Aufgaben.

Die "Substanz" der Theologie Calvins besteht in drei Themen: Schrift, Gnade und Kirche. Sie sind für Calvin charakteristisch. - Zunächst wird die Abwendung von der scholastischen Theologie und der Einfluss des Erasmus, Luthers und Bucers untersucht. Die Namen nennen die Personen und Schriften, die Calvin am stärksten beeinflusst haben. Es folgen die Sachthemen "Wort und Geist", "Gnade", "Erwählung", "Die Kirche als die Gemeinschaft mit Christus" und "Corpus Christri und corpus christianum". Der Rez. versagt sich, näher auf sie einzugehen. Immerhin gibt der Vf. damit eine Antwort auf die alte Frage nach Calvins "Zentrallehre".

Der Schlussabschnitt "Calvins Einfluß" skizziert die Auswirkung seiner Theologie in Westeuropa. Der Vf. endet mit der Bemerkung, dass der "Calvinismus" in vielfacher Gestalt in der Kirchengeschichte seinen Ausdruck gefunden hat.

Die hier aufgezählten Fakten und Akzente belegen, dass das Buch Calvins Leben und Denken neu erforscht und durchdacht hat und an vielen Stellen neue Einsichten vermittelt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass das Leben Calvins in die allgemeine Geschichte eingeordnet und - über die äußeren Fakten hinaus - möglichst tief in die theologischen Zusammenhänge eingedrungen wird. Damit wird das Buch Calvin gerecht.

Wiederholt wird dem Leser deutlich, dass ein Zwang zur Kürze besteht. Die Literaturangaben sind allerdings sehr ausführlich und ergiebig.