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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

424–426

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Tamburini, Filippo, u. Ludwig Schmugge [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Häresie und Luthertum. Quellen aus dem Archiv der Pönitentiarie in Rom (15. und 16. Jahrhundert).

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2000. 231 S. gr.8 = Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, N.F. 19. Kart. ¬ 46,40. ISBN 3-506-73269-2.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

1991 wies der Zürcher Mediävist Ludwig Schmugge im ARG auf die Supplik eines Martin Luther im Archiv der römischen Pönitentarie hin, in der um Dispens vom Makel einer unehelichen Geburt nachgekommen wird. Er rechnete mit der Möglichkeit, es könnte sich um den späteren Reformator handeln. Ebenfalls im ARG widerlegte K. Borchardt 1996 mit einem weiteren Quellenfund in diesem Archiv diese Vermutung. Mit diesem Vorgang, auf den die Hrsg. selbst aufmerksam machen, ist das Feld der Möglichkeiten und Grenzen für die Quellengruppe, die sie mit ihrer Edition erschließen, abgesteckt. Um das römische Supplikationsmaterial sachgemäß nutzen zu können, ist eine sorgfältige Interpretation "im Zusammenspiel mit den lokalen Quellen" notwendig (13). Auf diese Problematik sowie auf das zunehmende Interesse der internationalen Forschung für die seit 1983 zugänglichen Supplikenregister des obersten päpstlichen Buß- und Gnadenamtes geht Schmugge in seinem Vorwort ein. In einem Nachtrag würdigt er noch einmal die vorher bereits erwähnten Verdienste seines Mitherausgebers, des am 22.12.1999 verstorbenen Alt-Archivars der Sacra Penitenziera Apostolica, Don Filippo Tamburini. Leider wird T.s ausführlichere Introduzione ohne Übersetzung wiedergegeben.

Die knappe Einleitung zu den ersten Dokumenten und die ausführlichen Regesten zu allen 81 Nummern werden in Deutsch und Italienisch gebracht. In Nr. 1 und 2 werden 1279 und 1286 Kaufleute von der Exkommunikation wegen sarazenischer bzw. katharischer Irrtümer befreit. Ebenfalls wegen zeitweiligem Anschluss an die Sarazenen in Granada mussten Ende des 14. Jh.s einige Ordensbrüder sich um Strafbefreiung bemühen (Nr. 4c). Mehrere Petitionen aus dem 15. Jh. betreffen Kontakte zu Hussiten, einmal auch zu Waldensern und zu Juden. 1507 bat ein Kanoniker aus Bergamo um Aufhebung der Kirchenstrafe, die er sich wegen seiner Lust an lästerlichen Reden gegen Gott, die Sakramente und den päpstlichen Zehnten zugezogen hatte. In mehreren Gesuchen von 1516 um Wiedererlangung der geistlichen Rechte spiegeln sich Klosterstreitigkeiten wider. Ein Ilsenburger Benediktiner hatte aus Gewissensbedenken die Messe nicht mehr zelebriert (Nr. 12b). Eine Ausnahme unter den Dokumenten ist die Bitte des Lyoner Buchhändlers Cyriacus Hochberg 1518 um eine Drucklizenz für die Werke des Hieronymus (Nr. 19). Die Folgen der Reformation werden in den Dokumenten erst 1522 greifbar. Ein Gundelfinger Priester hat lutherische Bücher gelesen und lutherische Irrtümer gepredigt und möchte in den Schoß der römischen Kirche zurückkehren (Nr. 21). Die weiteren Dokumente stammen aus der Zeit bis 1586, ungleich verteilt auf die einzelnen Jahre. Erst spätere Jahre sind mit einer etwas größeren Anzahl vertreten, 1539 mit acht und 1540 sowie 1546 mit jeweils sieben Petitionen. Als Herkunftsbistümer kommen mehr als einmal vor: Augsburg fünfmal (1523, 1539, 1540), dreimal Florenz (1539, 1546, 1554), Konstanz (1522, 1534, 1540), Lüttich (1523, 1535, 1546) und Speyer (1528, 1535, 1546), zweimal Cambrai (1539, 1540). Unter den Gründen für die Exkommunikation steht der Anschluss an lutherische Lehren an erster Stelle, bei Priestern und Ordensmitgliedern (Nr. 21, 31, 37, 43, 54, 56, 60, 65) wie bei Laien (Nr. 36, 46, 55, 57, 72, 75). Unter büßenden Laien befinden sich 1540 die adlige Venezianerin Froscarina Venier und ihr Sohn, die lutherische Schriften gelesen hatten sowie 1552 der adlige Täufer Johannes Georg Patrisci von der Insel Cherso. Ein weiteres wichtiges Petitionsthema ist die Erlaubnis für Priester und Ordensleute, aus Sicherheitsgründen weltliche Kleidung tragen zu dürfen und sich bei Verwandten aufzuhalten, solange die feindliche Stimmung in der reformatorischen Bevölkerung anhält. Seltener ist die Bitte um Erlaubnis, lutherische Bücher zu besitzen, um sie zu widerlegen (Nr. 58 und 77).

Die damit verbundene Gefahr, wie Bischof Giovanni Francesco Verdura 1551 in Kreta in Häresiverdacht zu geraten oder unter der Arbeit tatsächlich zeitweilig abtrünnig zu werden, wie der Dominikaner Ludovicus Manna 1545 (Diözese Messina), wird ebenfalls dokumentiert (Nr. 74 und 60). Selten sind Fragen der Erbpacht (Nr. 76 und 79) und Pfründenresignation (Nr. 76) vertreten. Ein übersichtlich gestaltetes chronologisches Verzeichnis der Dokumente und ein Personen- und Ortsregister schließen den Band ab.

Bekannte Persönlichkeiten aus der deutschen Reformationsgeschichte werden in den Dokumenten relativ selten erwähnt, z. B. Nr. 22 f. der Konstanzer Generalvikar Johann Fabri 1522 im Zusammenhang mit Ehedispensen. Beide Male wird in den römischen Dokumenten erwähnt, dass er gegen Luther schreibt. Im zweiten Fall beantragt Kardinal Mattheus Schinner, Bischof von Sitten, dass Fabri die Taxe von 60 Gulden für seine Aufgabe erhalten soll. Im Register erscheint Fabri seltsamerweise auch unter seinem Geburtsnamen Heigerlin. In der Kommentierung fallen Züge auf, die auch sonst anzutreffen sind. Sie ist relativ ausführlich gehalten, nimmt Wiederholungen in Kauf und wertet besonders ältere Literatur zu den Personen aus. Ein Hinweis auf die jüngste Forschung, auch auf die Handbuchartikel, fehlt jedoch. Wiederholung und Verwendung älterer Literatur treffen auch auf die biographischen Angaben zum Augsburger Bischof Christoph von Stadion zu (Nr. 21.23 f.). Bedeutungsvoll sind die Petitionen des Humanisten Veit Amerbach vom 13. Februar 1545 (Nr. 59) und des auch publizistisch tätigen Täufers Christoph Freisleben/Eleutherobius vom 15. April 1545 (Nr. 61). Amerbach, der nach zwei Jahrzehnten Tätigkeit an der Seite der Wittenberger Reformatoren sich in Ingolstadt wieder der römischen Kirche zuwandte, bekennt, dass er aus einem teuflischen Irrtum heraus den Ideen und der Sekte des gottlosen Luther angehangen, die Eucharistie sub utraque empfangen und Werke gegen den Heiligen Stuhl verfasst habe. Mit der Exekution der geführenfrei erteilten Absolution sind die Bischöfe von Salzburg, Eichstätt und Würzburg betraut worden. Bei der ausführlichen Kommentierung fehlt ein Hinweis auf jüngste Forschung, z. B. auf die Arbeit von Günter Frank von 1997. Freisleben, der schon 1531 in Augsburg die priesterliche Absolution empfangen hatte, hat nach einem Rechtsstudium anlässlich einer Wallfahrt die Bitte um Absolution in utroque foro in Rom selbst eingereicht. Die neuere Täuferforschung (z. B. Werner Packull) ist bei der Kommentierung nicht berücksichtigt worden.

Angemerkt sei noch, dass zu prüfen wäre, ob in den Regesten der Sinn der Dokumente sachgemäß wiedergegeben wird, wenn es von Supplikanten heißt, sie hätten "lutherische Reden gehalten" (nonnulla verba lutherana), vgl. Nr. 35 f.48, ähnlich Nr. 44 und 72. Die Wiedergabe von sub utraque mit ,utraquistischer Ritus' (Nr. 59) ist zumindest missverständlich. Der Druckfehler Wittenberg statt Württemberg (Nr. 34) bleibt durch eine korrekte Angabe in der Anmerkung folgenlos.

So inhaltsreich wie bei Freisleben sind die Suppliken selten. Die Formensprache prägt die Dokumente. Die Edition gewährt Einblick in eine bislang wenig bekannte Quellengruppe und bereichert auch die Kenntnisse zu einzelnen Persönlichkeiten, aber auch zu den Folgen der Reformation für diejenigen, die am monastischen Leben festhalten wollten.