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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

418–420

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bodenmann, Reinhard

Titel/Untertitel:

Wolfgang Musculus (1497-1563). Destin d'un autodidacte lorrain au siècle des Réformes. Etude basée sur la biographie établie par son fils, la correspondance personnelle et de nombreux autres documents d'époque.

Verlag:

Genève: Librairie Droz 2000. 724 S. 4 = Travaux d'Humanisme et Renaissance, 343. Geb. sFr 153,60. ISBN 2-600-00455-6.

Rezensent:

Helmut Feld

Der aus Dieuze (bei Nancy) in Lothringen stammende Reformator Wolfgang Müslin, der seinen Namen in "Musculus" latinisiert hatte, wirkte in den letzten 24 Jahren seines Lebens (1549-1563) als Theologieprofessor in Bern. Seine Theologie und sein kirchenpolitisches Wirken standen lange Zeit nicht eben im Zentrum des Interesses der Reformationsgeschichtsforschung. (Es gibt z. B. bislang keine kritische Edition seiner Schriften.) Mit der Studie Bodenmanns liegt nunmehr die bei weitem umfassendste und gründlichste Untersuchung zum Leben und Umfeld des Berner Reformators vor. Hauptteil des Buches ist die kritische Edition der Biographie von Wolfgang Musculus aus der Feder seines Sohnes Abraham, deren Autograph der Vf. im Verlauf seiner Studien über Theodor Beza im Bestand des Musée Historique de la Réformation in Genf entdeckt hat. Ein weiterer wichtiger Textzeuge der "Vita" von Musculus befindet sich in der Burgerbibliothek von Bern. 1595 veranlasste Musculus' gleichnamiger Enkel Wolfgang in Basel den Druck der von seinem Vater verfassten "Vita". Der vorliegenden Edition geht eine ausführliche Einleitung voraus, in der die Abhängigkeit der genannten und einiger anderer, meist fragmentarischer Textzeugen voneinander geklärt ist. Der textkritische Apparat weist die Varianten nach. Dem lateinischen Originaltext gegenüber ist eine französische Übersetzung des Vf.s abgedruckt, an die der umfangreiche kommentierende Apparat angebunden ist.

Der Edition der Biographie (zweiter Teil des Buches) geht ein einleitendes Kapitel voraus, in dem der Vf. die Geschichte seines Interesses an und seiner Beschäftigung mit Wolfgang Musculus erzählt, sodann den Leser in Zeit und Umwelt des Reformators einführt und schließlich Rechenschaft über Voraussetzungen und Methode seiner Arbeit gibt. An die Edition schließt sich ein "Musculiana. Studien über Wolfgang Musculus" überschriebener Abschnitt an. Er enthält u. a. prosopographische Studien über die Familie des Reformators und Untersuchungen über das Verhältnis zu wichtigen Zeitgenossen und Briefpartnern. Von besonderem Interesse ist die Beziehung zu Calvin, die nicht ohne latente Spannungen war. B. spricht von "points d'ombre" (339). Er glaubt, dass sie ihre Ursache kaum in einer unterschiedlichen Auffassung der Prädestinationslehre haben, vielmehr gehe es um Differenzen bezüglich der Handhabung der kirchlichen Disziplin. Musculus nahm generell einen milderen, "toleranteren" Standpunkt ein und kritisierte mehrfach Calvins Kompromisslosigkeit und Rigorosität. Theologisch und sicher auch menschlich näher stand Musculus dem Zürcher Antistes Heinrich Bullinger, der sich nachdrücklich für seine Berufung nach Bern eingesetzt hatte (346-352).

Hierzu sei ergänzend bemerkt, dass Calvin in seinen beiden großen, in den Jahren 1552-1554 entstandenen Kommentaren zum Johannes-Evangelium und zur Apostelgeschichte mehrfach an der Auslegung Bullingers und Musculus' (ohne sie beim Namen zu nennen!) scharfe Kritik übt.

Dass Musculus auch seine Reserven bezüglich des Vorgehens Calvins und der Genfer Behörden gegen Michael Servet hatte, geht aus zahlreichen Äußerungen in der Korrespondenz hervor, die der Vf. in einem weiteren Abschnitt über die "Beziehungen zu den anderen Konfessionen" (480-491) präsentiert und sorgfältig analysiert. Von ebensolcher Gründlichkeit sind die Untersuchungen über Musculus' Sprachenkenntnisse (Griechisch, Hebräisch, Arabisch: 369-377) und sein Studium der Kirchenväter (451-458). In den Jahren 1536-1556 übersetzte er zahlreiche Texte griechischer Kirchenväter ins Lateinische, die in Basel gedruckt wurden. Ein besonderes Kuriosum ist die Erfindung einer Geheimschrift, deren sich der Reformator vor allem bei Notizen über kirchenpolitisch brisante Vorgänge bediente. Unter Benutzung entsprechender Vorstudien des Berner Historikers Théodore de Quervain (1881-1962) ist dem Vf. die Dechiffrierung dieser Geheimschrift gelungen (363-368).

An dem zuletzt genannten Abschnitt wird besonders deutlich, was auch bei anderen Themen des Buches dem Leser immer wieder in die Augen springt: Der Vf. lässt zugleich auch die "subjektive" Geschichte seiner Forschungen hervortreten. Bereits in den dem Werk vorangestellten "methodischen Reflexionen" ist angekündigt, dass es sich hierbei um einen wesentlichen Bestandteil der wissenschaftlichen Methode handelt: Der Vf. will sich mit einer deutlichen Akzentuierung seines "Ich" in den Untersuchungen "von einem mythischen Wert, genannt ,Objektivität'", distanzieren. Der kritische Leser des Buches (im konkreten Falle: ich) sieht sich allerdings nicht selten zu der Frage veranlasst, ob der Vf., so verständlich sein Anliegen an sich ist, in der von ihm intendierten Richtung nicht ein wenig zu weit gegangen ist. Gewiss neigt mancher Forscher dazu, seine eigene unzulängliche Arbeit mit der Aura der "Objektivität" zu umgeben und sich für den von ihm überschauten Bereich zum "Papst" zu machen. Aber das Streben nach Objektivität, oder sagen wir es noch etwas provokativer: die Suche nach der historischen Wahrheit auf Grund der sachgerechten Interpretation der Quellen, ist doch kein leerer Wahn - sonst wären ja auch alle Bemühungen zum Erwerb der Voraussetzungen des historischen und philologischen Handwerks vergeblich. Und die (gerade in "handwerklicher" Hinsicht!) hervorragende Arbeit des Vf.s ist ein treffendes Beispiel, dass es nicht so ist.

In einem Epilog gibt der Vf. eine Skizze seines persönlichen Bildes von Musculus. In der Tat ist dies der gemäße Platz für "subjektive" Äußerungen, intelligente Vermutungen und vielleicht auch persönliche Betroffenheit durch Personen und Ge- genstände der Untersuchung. Innerhalb der Untersuchung selbst jedoch hält der Rez. eine größere Zurückhaltung in dieser Hinsicht für angebracht.

Unbeschadet des hier geäußerten "methodischen" Vorbehalts liegt mit der Arbeit des Vf.s ein bedeutender Beitrag zur Reformationsgeschichte ganz allgemein und zum politischen und kulturellen Umfeld der Schweizer Reformation vor. Sorgfalt und Dichte der Information sind ebenso bemerkenswert wie die in sprachlicher und stilistischer Hinsicht perfekte Darstellung.