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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

409–412

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Freund, Stefan

Titel/Untertitel:

Vergil im frühen Christentum. Untersuchungen zu den Vergilzitaten bei Tertullian, Minucius Felix, Novatian, Cyprian und Arnobius.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2000. 430 S. gr.8 = Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums, NF 16. Kart. ¬ 67,40. ISBN 3-506-79066-8.

Rezensent:

Gerhard Anselm Müller

Dichterzitate sind für die lateinischen Kirchenschriftsteller ein selbstverständliches Element literarischer Gestaltung: Von der Praxis des Grammatik- und Rhetorikunterrichts sind sowohl ihre eigenen Bildungserfahrungen als auch die ihres Publikums geprägt. In besonderer Weise gilt dies natürlich für apologetische Schriften, mögen diese primär an Heiden gerichtet sein oder an Christen, denen modellhaft Rüstzeug für den Kontakt mit Paganen gegeben werden sollte. Um die Haltung der Kirchenschriftsteller zu paganen Autoren, namentlich zu Vergil, und die Rezeption derselben einzuschätzen, genügt es nicht, explizite Äußerungen und direkt markierte Zitate zusammenzustellen und auszuwerten. Dies würde für die vorlaktanzischen Autoren auf ein zu einseitiges Urteil der Geringschätzung oder Ablehnung hinauslaufen. Auch programmatische Absetzungen (wie bei Tertullian, 29-33) dürfen nicht in dem Sinn wörtlich verstanden werden, dass man nach Elementen literarischer und rhetorischer Bildung nicht suchen müsse. Die rhetorisch-literarisch hochgebildeten Autoren schreiben für ein Publikum, das u. U. gerade zurückhaltend markierte Bezüge auf die (paganen) Klassiker goutiert.

Die Eichstätter Dissertation von Stefan Freund, "Vergil im frühen Christentum", gelangt hier zu einem weitaus differenzierteren Urteil. F. untersucht Vergilzitate bei Tertullian, Minucius Felix, Novatian, Cyprian und Arnobius, also der als Autorenpersönlichkeit greifbaren christlichen Schriftsteller lateinischer Prosa der vorkonstantinischen Epoche. Die Auswahl ist nachvollziehbar, da in der Dichtung Vergilrezeption unter ganz anderen Vorzeichen steht und eine Phase direkter, wörtlicher und umfangreicher Zitierung paganer Klassiker, eben auch Vergils, mit Lactanz einsetzt, die durch dessen Klassizismus und theologische Einbindung der Dichtung inauguriert ist. Allenfalls einen Blick auf die zeitnahen pseudocyprianischen Schriften könnte man vermissen.

Der Vf. erarbeitet sich aus der modernen Literaturtheorie, genauer der Intertextualitätstheorie1, einen Zitatbegriff, mit dem er auch unscheinbare Referenzen genau beschreiben kann. Die Anleihe, mit Anpassungen an die in der Klassischen Philologie gegenüber den modernen Philologien anderen Gegebenheiten, erweist sich als innovativ: Die gewonnene Begrifflichkeit ist klar und sachangemessen, erfordert allerdings die Bereitschaft, sich auf sie einzulassen (das zitierte Werk heißt "Prätext", das aufnehmende "Folgetext", das übernommene Element "Zitatsegment"). Aus der knappen, zielsicheren und instruktiven Darlegung zur Zitattheorie (20-22) entwickelt F. schlüssig eine in der gesamten Arbeit durchgängig eingehaltene Vorgehensweise (22-28). Der erste Schritt bestand in einer möglichst vollständigen Sammlung von bisher entdeckten und annotierten Similien - hier leistete die ältere Forschung Erstaunliches, neigte aber andererseits zu einer Überdehnung in Richtung auf rein mechanische Ähnlichkeit ohne intendierten Bezug oder inhaltliche Komplexion. F. hat diese Parallelen kritisch gesichtet und etliche Stellen ausgesondert (falsifiziert), die er dankenswerterweise in einem Anhang (IV.1) auflistet und kommentiert. Den so ermittelten Bestand der echten Vergilbezüge untersucht F. dann im Einzelnen, geordnet nach den Autoren und innerhalb dieser chronologisch bzw. nach Werkgruppen. F. untersucht zu jeder Stelle die Deutlichkeit und die Gestalt des Zitatsegments, sowie Veränderungen an ihm, seien es Einpassung in das Satzgefüge, Prosifikation (z. B. durch die Wahl von Synonymen), inhaltliche Adaption oder bewusste Verfremdung. Besonderes Augenmerk gilt der Markierung: der zitierende Autor kann die Wahrnehmung eines Zitates dem Leser überlassen, sie nahelegen, sie zwingend vorgeben oder sogar darüber reflektieren; die entsprechenden Markierungsstufen reichen von unmarkiert über implizit und explizit markiert bis hin zu thematisiert (25).2 Unter den verschiedenen Mitteln der Markierungssteuerung seien neben den möglichen Veränderungen am Zitat noch die Position im Folgetext (an exponierten Stellen wie einem Proömium oder der Zusammenfassung eines Arguments, innerhalb von "Zitatennestern" oder an Stellen, die poetische oder mythologische Themen behandeln) und die expliziten Hinweise auf eine Referenz hervorgehoben, letztere in steigender Deutlichkeit z. B. als Hinweis auf das bloße Vorkommen eines Fremdelements, als Hinweis auf ein Dichterzitat oder als eindeutige Zuordnung durch Nennung des Namens (oder eindeutige Periphrase). Viel Einfühlung in die unterschiedlichen Rezeptionshorizonte erfordert die Frage nach dem Referenzpunkt eines Zitates: Es kann als Bezug auf eine einzelne Vergilstelle, auf Vergil oder Dichtung allgemein, auf das Epos als Gattung, auf pagane Kultur etc. verstanden werden. Fruchtbar ist die Frage nach der argumentativen Funktion des Zitats im Kontext, mit den Kategorien Autoritätszitat (für eine solche Inanspruchnahme Vergils als innerchristliche Autorität sind allerdings komplexe Interpretationsvorgänge notwendig, Vergil christlich zu lesen oder Christliches in vergilischer Form auszudrücken), Argumentationszitat (eine Kritik der vergilisch ausgedrückten Position muss sich dabei nicht gegen Vergil richten) und Schmuckzitat. Der größte Teil der untersuchten Stellen fällt in letztere Kategorie, für die aber ebenfalls verschiedene Funktionen im jeweiligen Kontext zu beobachten sind.

An den Beginn eines jeden Kapitels stellt F. einen knappen Überblick zur Forschungslage, zum Verhältnis des jeweiligen Autors zur paganen Dichtung allgemein und zu Vergil. Der ausführlichen Einzelbeschreibung folgen Auswertungen, jeweils in der sachgegebenen Reihenfolge "Zitatsegmente: Formen und Veränderungen", "die Zitate im Folgetext: Formen und Veränderungen", "Die Zitate im Prätext: Herkunft und Thematik", "Vergil bei [dem jeweiligen Kirchenschriftsteller]: Funktion und Bewertung". Ein Schlussabschnitt arbeitet in Einzelcharakteristiken "Linien der Individualität", sowie in einer Gesamtauswertung "Linien der Kontinuität" heraus. Auch hier greift F. auf das oben ausgeschriebene Frageraster zurück, das nur auf den ersten Blick schematisch wirkt. Gerade dieses regulierte Vorgehen ermöglicht dem Leser einen raschen vergleichenden Zugriff, auch wenn bei linearer Lektüre des Gesamtwerkes sich wichtige Aussagen wiederholen.

Selbstverständlich gibt es einen "Graubereich": Die Unterscheidung eines Anklangs an von Vergil geprägtes Sprachrepertoire und unbewussten, zumindest unbeabsichtigten Rückgriffen ("Textberührung") von intendierten Bezügen mit hoher Erkennbarkeitsschwelle bleibt in Einzelfällen immer Entscheidungssache,3 vor allem vor dem Hintergrund der allgemeinen Poetisierung der lateinischen Prosa der Nachklassik. Unabhängig von den Entscheidungen bezüglich der jeweiligen Einzelstellen sind die Interpretationen Freunds nicht nur von Bedeutung für die sprachgeschichtliche Sicht auf das Eindringen vergilischen bzw. poetischen Sprachmaterials in die Prosa auch der christlichen Latinität, sondern ergeben auch das Gesamtbild einer intensiveren und zumindest neutralen Rezeption Vergils.

Von den reichen Ergebnissen kann hier nur Weniges vorgeführt werden: Während Tertullian unreflektiert, d. h. ohne Achtsamkeit auf Veränderungen oder Markierung Vergil pragmatisch in instrumenteller Polemik als Quelle für Allgemeingültiges und Proverbielles zitiert,4 findet Minucius Felix zu einem viel bewussteren Verfahren: Er meidet deutliche Markierungen und ist bedacht, den Rhythmus streng in die Prosa zu überführen. Im zitierten Material haben Vergilzitate eine Sonderstellung; Minucius Felix erzeugt mit ihnen eine Atmosphäre, die die gebildete Oberschicht ansprechen soll.5 Das einzige namentliche und wörtliche Zitat des gesamten Bestandes erfolgt in 19,2 (eine geschickte Montage aus georg. 4,221 f. und Aen. 1,743), in einem durch weitere theologisch relevante und zum Teil durch Auslassungen an die christliche Lehre angepasste Zitate aufgeladenen Kontext. Generell bevorzugt Minucius Felix jedoch nichtwörtliche Zitate (kurze Junkturen, strukturelle Perzeption), die von der Eingangsperiode an einen color Vergilianus erzeugen. Der souveräne (d. h. hier zurückhaltende) Umgang mit Markierung fordert die Leser heraus, die die Hinweise in unterschiedlicher Tiefe verstehen. Indem Minucius Felix mit vergilischen Formulierungen christliche Inhalte zum Ausdruck bringt, denkt er sich Vergil als intellektuelle Hinführung für sympathisierende Heiden und (auf die Modellfunktion des Dialogs für Christen hin gewendet) als intellektuelle Selbstvergewisserung für gebildete Konvertiten. Novatian und Cyprian gebrauchen Versatzstücke vergilischer Sprache, z. B. Naturbilder, Affektschilderungen oder Metaphern, mit einer Vorliebe für die Eclogen und die Georgica. Cyprians Sprache ist gerade bei der Artikulation von Religiosität oder religiösem Erleben vergilisch geprägt. Auch er verzichtet auf explizite Markierung und setzt so gründliche Vergilkenntnis voraus. Arnobius zitiert Vergil erstaunlich häufig, mit geglätteten Übergängen und in verfremdeter Gestalt, meist nur durch Häufung markiert. Vergil bietet ihm die klassische Versprachlichung römischer Religiosität und römischen Gottesverständnisses, die er - oft in parodistischer Kontrastierung - systematisch in seiner Polemik einsetzt.

Interessant sind die Vorlieben der einzelnen Kirchenschriftsteller für die unterschiedlichen Sphären von Vergils dichterischer Sprache (Proverbielles, Historisches, Natur). Durchgängig ist es Vergils Sprechen von der religiösen und kultischen Dimension der Welt, die auf die Kirchenschriftsteller wirkt, in der Ablehnung der von Vergil beschriebenen paganen Religion, aber - und das ist das für diese Autoren überraschendere Ergebnis - auch in der positiven Aufnahme und christlichen Auffüllung einzelner Wendungen. Vergil wird in diesen Übernahmen als "kultureller Intertext" (362) vorausgesetzt und "in seiner dichterischen Leistung, die Grundbezüge des Menschen zu Gott und zur Lebenswelt sprachlich zu fassen" (ibid.) anerkannt. Dieses Spezifikum der vergilischen Dichtung rechtfertigt neben der generellen Bedeutung dieses "römischen Nationaldichters" die Beschränkung hinsichtlich der herangezogenen Prätexte. Um so mehr würde man sich ähnlich sensibel und genau gearbeitete Untersuchungen für andere Autoren wünschen.6

Hervorgehoben seien noch aus der "Thematischen Einordnung" die gerafften und zutreffenden Ausführungen zu "Vergil als Repräsentanten paganer Kultur" (14-19). Indizes sowohl der zitierten Vergilstellen als auch der Stellen der christlichen Autoren runden das Werk ab.

Fussnoten:

1) Zu nennen ist der von U. Broich und M. Pfister herausgegebene Sammelband ,Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien', Tübingen 1985; für das Kriterium der Markierung ferner J. Helbig, ,Intertextualität und Markierung', Heidelberg 1996.

2) Das Instrument der Markierung ist auch flexibel genug, um verschiedene Bildungsschichten im Leserkreis differenziert anzusprechen. F. verwendet in seiner Arbeit die Bezeichnung ,entmarkiert' für die stilistische Entscheidung, ein Zitat zu prosifizieren (z. B. 170, wo er dennoch die Intention der Erkennbarkeit annimmt). Der Rez. würde ,entmarkiert' für bewusste Verschleierungsstrategien (etwa eines Plagiats) reservieren und hier eher von einem unmarkierten Bezug sprechen. Ein intakter poetischer Rhythmus würde implizit markieren, wäre er nicht wie in der von F. gedachten Skala unmarkiert.

3) F. nimmt gelegentlich großzügig Stellen auf, um sie dann in der Diskussion vorsichtig als color poeticus zu werten, z. B. 62 zu praescius oder 112 zu aura adspirans.

4) Eine Eigenheit Tertullians ist der Rückgriff auf die vorvergilische und lokale Didotradition.

5) Für die Hochschätzung Vergils und die Bewusstheit der Zitierung spricht, dass nur der Christ Octavius Vergil zitiert, der Heide Caecilius auf dieses Mittel hingegen verzichten muß (102 sq.).

6) Lucrez und Ovid kommen bei Arnobius in den Blick (259-262); sie werden auch von Lactanz stark rezipiert, fallen aber beide bei Augustin nahezu völlig aus. Andere Autoren sind Lucan (128), Horaz oder die Satiriker. Zu beachten ist generell die Frage nach Zwischenquellen (für ältere Dichter etwa Cicero, 104 sq., so bei dem - stoisch gedeuteten - Homerzitat bei Minucius Felix, p. 131-133) bzw. nach der Vermittlung von Interpretationsansätzen über Kommentarliteratur (für Arnobius 346).