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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

403–407

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Witulski, Thomas

Titel/Untertitel:

Die Adressaten des Galaterbriefes. Untersuchungen zur Gemeinde von Antiochia ad Pisidiam.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 260 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 193. Geb. ¬ 52,00. ISBN 3-525-53877-4.

Rezensent:

Michael Bachmann

Die vorzustellende Arbeit, bei P. Pilhofer entstanden und im Sommersemester 1998 in Greifswald als Dissertation angenommen, greift die in den vergangenen Jahren offener geführte Diskussion darüber auf, ob Paulus das "den Gemeinden Galatiens" (Gal 1,2) zugesandte Schreiben an in der im 3. Jh. v. Chr. durch Kelten besiedelten Landschaft Galatien wohnhafte Gläubige gerichtet habe ("Landschaftshypothese" bzw. "nordgalatische Hypothese") - dies im deutschsprachigen Raum weiterhin die Mehrheitsmeinung - oder an solche im Süden der römischen Provinz Galatia, die 25 v. Chr. gebildet worden war und weit mehr als jenes Gebiet umfasste, kurzzeitig sogar mit Pamphylien bis an die Mittelmeerküste reichte ("Provinzhypothese" bzw. "südgalatische Hypothese", vertreten in jüngerer Zeit z. B. von R. Riesner, 1994, J. M. Scott, 1995, und C. Breytenbach, 1996). Der Vf. gesellt sich dabei letztlich der (zumal im angelsächsischen Bereich starken) Gruppe derjenigen Exegeten zu, die hinsichtlich des Adressatenkreises für diese südlichen - von Paulus (und Barnabas) schon auf der sog. ersten Missionsreise (Act 13 f.) erreichten - Gebiete votieren, ohne doch die bislang vorgebrachten Argumente für zwingend zu halten (11.222). Den Schlüssel zur Lösung des Problems gebe vielmehr der Passus 4,8-20 an die Hand, der erstens literarkritisch vom Rest des Schreibens (von "Gal ,A'" [12 u. ö.]) zu trennen und "als ein ursprünglich eigenständiger Brief bzw. als ein Teil eines ursprünglich von dem neutestamentlichen Gal zu unterscheidenden Briefes" (ebd.) aufzufassen sei (= Gal "B" [so indes nicht bei W.]) und zweitens voraussetze, "daß die Bekehrung der Adressaten dieser Verse zum Christentum einer öffentlichkeitswirksamen Präsenz und Praxis des römischen Kaiserkults unter ihnen zeitlich vorausgegangen" sein müsse (223). Da es zu einer solchen Praxis in der Landschaft Galatien indes schon "mit der Weihe des Tempels der Roma und des Augustus 19/20 n. Chr., also zeitlich weit vor einer eventuellen paulinischen Mission in diesem Gebiet" gekommen sei, während sich für das pisidische Antiochien ein entsprechender, den Kaiserkult vorantreibender Impuls "etwa auf das Jahr 50 n. Chr., also zeitlich nach der dortigen paulinischen Mission [...] datieren" lasse (ebd.), könne man zunächst für Gal "B" einen südgalatischen Adressatenkreis- genauer: "die im Süden der Provinz Galatia gelegene Kolonie Antiochia ad Pisidiam" (224) - erschließen, dann aber "aus redaktionstechnischen Erwägungen" (ebd.) auch für Gal "A", sofern der anzunehmende "Redaktor [...] die beiden Briefe in Archiven von Gemeinden im Süden der Provinz" aufgefunden (ebd.) und den kürzeren in den längeren "inkorporiert" (12) haben werde. Dies in der "Einleitung" (11 f.) und in der "Zusammenfassung" (222-224) klar umrissene Programm wird in vier Hauptteilen ausgeführt.

Der erste (13-45) geht wichtigen Argumenten nach, die für die nordgalatische Hypothese einerseits, die südgalatische andererseits vorgebracht werden. Dass die erstere Aufstellung bislang nicht über den Status von Annahmen hinausgekommen sei, wird insgesamt ausführlicher begründet (13-36): zumal durch Anfragen an die Interpretation, die in Act 18,23 zum Ausdruck gebrachte "Stärkung aller Jünger" erlaube es, für Act 16,6 Gemeindegründungen gleichsam zu ergänzen (s. bes. 15-35); durch interessante Beobachtungen zur außerneutestamentlichen, nach W. nicht auf die Landschaft Galatien beschränkten Verwendung von Galatia und Galatai (bes. 18-21); durch einen ebenfalls aufschlussreichen Überblick über die geographische Regionen betreffende Terminologie des Apostels Paulus, bei dem "alle diese Ausdrücke zumindest auch als offizielle Bezeichnungen römischer Verwaltungseinheiten" (32) verstanden werden könnten, ausgenommen nur e Spania (Röm 15, 24); durch den (kaum verifizierten [s. bes. 34 Anm. 120]) Hinweis auf - immer noch sehr dürftige (s. Riesner, 1994, 252 f.)- Indizien für eine gewisse jüdische Präsenz in der sonst "heidnischen" Landschaft Galatien (bes. 34; vgl. indes 43 f.). Was die Provinzhypothese angeht, beschränkt sich W. - nicht eben einleuchtend (und unter Übergehung insbesondere von Riesner, 1994, 250-259) - auf zwei Autoren, auf W. M. Ramsay und C. Breytenbach (36-44); Ramsay freilich stütze sich zu sehr auf die "Sekundärquelle" (41) Apostelgeschichte und interpretiere Act 16,6 in nicht überzeugender Weise (bes. 41 f.), und Breytenbach halte, ohne dass dies notwendig sei, das "Vorhandensein jüdischer Synagogengemeinschaften im Umfeld der jungen christlichen Gemeinden" (43) für unabdingbar und allein mit den für Südgalatien vorliegenden Daten vereinbar (bes. 43 f.).

Über bislang allenfalls durch "bloße Wahrscheinlichkeit" (44) charakterisierte Annahmen hinauszugelangen, ist Intention der nachfolgenden drei Hauptteile; sie wollen "die sog. südgalatische Hypothese stichhaltig begründen", ja, "unter methodischer Absehung von der Sekundärquelle Apg [...] verifizieren" (45). Das scheint schon unter methodischen Gesichtspunkten heikel, muss doch die Geschichtswissenschaft froh sein, zu Wahrscheinlichkeitsurteilen finden zu können. Überdies kommt W. hier zu einer insgesamt wenig einleuchtenden Konstruktion und damit m. E. nicht einmal zu "bloßer Wahrscheinlichkeit".

Der zweite Hauptteil (46-81) betrachtet den Galaterbrief im Blick auf die angesprochenen Adressatenkreise: Während Paulus, W. zufolge, "in Gal 4,8-20 [...] den Rückfall der Galater in ihr vorchristliches Heidentum konstatieren muß" (s. bes. 4,9), bemühe er sich - bekanntlich - ansonsten, "eine im Rahmen des Christentums verlaufende judaistische Fehlentwicklung der galatischen Gemeinden zu verhindern" ([54-]55). Die üblichen Versuche, die Aussagen von 4,8-20 mit denen des übrigen Briefes im Blick auf dieselben Gemeinden zusammenzuhalten - der Terminus stoicheia (tou kosmou) (4,3.9) als Mittel der Parallelisierung, ja "Gleichsetzung" (62) judaistischer und heidnischer Praxis oder als Hinweis auf eine besondere jüdische "Kalenderfrömmigkeit" ("Parallelisierungs-" und "Additionshypothese")- überzeugen W. ebensowenig wie W. Lütgerts (1919 vorgelegte) These, Paulus habe es in Galatien gleichzeitig sowohl mit Judaisten (s. bes. 5,2 f.; 6,12 f.) als auch mit Libertinisten (s. bes. 4,9-11; 5,13) zu tun ("Zwei-Fronten-Hypothese"). So bleibt noch die (u. a. von J. C. O'Neill, 1992, vertretene) "Interpolationshypothese", von W. zusammen mit der sozusagen temporal gespreizten "Zwei-Fronten-Hypothese" (s. bes. 68) zur "Redaktionshypothese" umgeformt und im Sinne der Einfügung der paulinischen Verse 4,8-20 in einen anderen Paulus-Brief vertreten; der Redaktor habe lediglich die - "die Subjekte der Knechtschaft" (doulousthai) innerhalb der "echten" Paulinen nur hier (statt mit dem Dativ) "durch die Präposition ypo mit anschließendem Akkusativ" zum Ausdruck bringenden - Worte ypo ta stoicheia tou kosmou von 4,3 hinzugefügt, um "Gal 4,8-20 begrifflich mit dem Vorangehenden" zu verknüpfen (75). "Das theologische Motiv dieser Komposition [von Gal "A" und Gal "B"] bestand", so W., "darin, im Namen des Paulus die jüdische Religion und den Kaiserkult - als Paradigma für sämtliche heidnischen Kulte - gleichzusetzen" (222 f.; vgl. 219). Die folgenden beiden Hauptteile fassen dann gerade auch den römischen Kaiserkult in den Blick.

Der umfangreiche dritte Teil (82-175) hat es vor allem mit dem schon so oft erörterten Ausdruck stoicheia (tou kosmou) von 4,3.9 (82-152) und den kalendarischen Daten zu tun, von deren Beobachtung 4,10 spricht (152-175). Was die "Elemente (der Welt)" angeht, so betont W. den Zusammenhang mit der Wendung hoi physei me ontes theoi von 4,9; diesem Konnex werde weder die "materiell-stoffliche" noch die "ethisch-zuständliche Interpretation" der stoicheia gerecht (98-114; 115-127). Da überdies die "angelologisch-dämonologische Interpretation" auf Grund des Vergleichsmaterials für das 1. Jh. n. Chr. ausgeschlossen werden könne (84-97), seien hier bei stoicheia - dem philonischen Sprachgebrauch (VitCont 3; Decal 53 f. [f.].) nicht unähnlich (s. bes. 133 f.; vgl. 225-228 [Anhang 1: Texte in Übersetzung]) - die heidnischen Gottheiten im Blick, denen diese Charakterisierung eigentlich nicht zustehe (128-152: "atheistische Interpretation" [s. bes. 128; Anm. 269]); Paulus, der sich damit zunächst auf die nach 4,9 von den Galatern früher verehrten "Götter" beziehe, könne den - so sonst nicht belegten - "Terminus [...] durchaus anwenden, wenn es darum geht, den theiotatos kaisar in seiner Bedeutung für den kosmos und für das Leben in ihm begrifflich zu fixieren" (150; vgl. 146). Entsprechend meint W. für die kalendarischen Angaben von 4,10, auch weil ihm die weithin übliche Deutung auf jüdische Verhältnisse hin - nicht zuletzt des Fehlens des Terminus "Sabbat" wegen - fehlzugehen scheint (s. bes. 155), einen Bezug auf die Einführung des julianischen Kalenders (und die damit in Zusammenhang stehende Umbenennung von Monaten) "als wahrscheinlich" erachten zu sollen (bes. 163 f.; vgl., was die Kalenderinschrift von Priene anbetrifft, auch 229-231 [Anhang 2]) und - selbst bei den ÎÈÚÔ (s. 165 f.) - auf eine mit dem Kaiserkult verbundene "Kalenderfrömmigkeit" ([167-] 168).

Der vierte Hauptteil (176-221) ist wegen des hier verarbeiteten Materials zum römischen Kaiserkult, auch und gerade im (Norden und) Süden der Provinz Galatia, nicht zuletzt im pisidischen Antiochien (vgl. 5 [ferner 184, Anm. 47 und 194 samt Anm. 111.115]: persönliche Kontakte des Verfasser zu St. Mitchell und M. Tas'lialan), mit Gewinn zu lesen, kommt aber ebenfalls nicht ohne vage Vermutungen aus. Obwohl nämlich der Kaiserkult in der Provinz Galatia, wie erwähnt, schon deutlich früher einsetzte und obwohl die Weihe des Augustustempels im pisidischen Antiochien möglicherweise auf Grund einer (freilich alles andere als sicheren) Rekonstruktion einer dort einst am Propylon befestigten Inschrift möglicherweise bereits um die Zeitenwende herum anzusetzen ist (s. bes. 194 f.), meint W. doch - auch das wurde eingangs schon angesprochen - urteilen zu können: "Die kultische Kaiserverehrung in öffentlichkeitswirksamer Form setzte in Antiochia ad Pisidiam etwa in der Zeit um 50 n. Chr. ein" (215). Dafür macht er die zur Zeitenwende noch nicht abgeschlossene (Bau-)Geschichte jenes Tempels geltend sowie ferner recht allgemeine Erwägungen über den langsamen Aufschwung der Kolonie Antiochia (194- 204), vor allem indes eine weitere, komplett erstmals 1924 von W. M. Ramsay veröffentlichte und wenig beachtete Inschrift (s. bes. 204 f. [samt Anm. 179]), nach der ein Priester namens L.Calpurnius Longus das erste munus der Stadt eingerichtet hat- eine Inschrift, hinsichtlich derer L. Robert (1940) freilich einen Zusammenhang zwischen Fest und priesterlichem Amt des L. Calpurnius Longus in Frage gestellt hatte (s. 211) und für die Ramsay zwar eine Datierung gegen 50 n. Chr. erwogen (s. 214), aber zu Gunsten einer späteren Ansetzung verworfen hatte (s. 212 f.: frühes 2. Jh. n. Chr.; ähnlich D. M. Robinson [1925]: unter Domitian).

Blickt man zurück, so wird man zwar nicht bestreiten können, dass die Dissertation wichtiges forschungsgeschichtliches, epigraphisches und archäologisches Material verarbeitet, teils auch bereitstellt, und dass sie insofern die Lektüre lohnt. Aber das Ziel, ohne Rückgriff auf die Apostelgeschichte die "südgalatische Hypothese stichhaltig zu begründen", ist m. E. schwerlich erreicht worden. Das wird derjenige noch besonders bedauern, der - wie ich - dieser Annahme eher positiv gegenübersteht. Man kann indes die grundsätzliche Frage nach dem Adressatenkreis des Galaterbriefs doch wohl von den methodischen Problemen dieses Buches trennen. Abgesehen davon, ob z. B. bei der Fokussierung auf eine Stadt wie das pisidische Antiochien die "Sekundärquelle" Apostelgeschichte wirklich außen vor bleibt (s. bes. 176) und bleiben kann, sehe ich vor allem drei Problemfelder - die im Wesentlichen dem vierten, dritten und zweiten Hauptteil der Arbeit zuzuordnen sind.

Zum einen dürften die Möglichkeiten der Deutung inschriftlicher Zeugnisse und anderer antiker Hinterlassenschaften überdehnt sein, wenn weithin diejenige Interpretationsvariante gewählt wird, die zu Paulus und zu den zuvor schon sachlich wie zeitlich voneinander abgehobenen "Briefen" Gal "A" und Gal "B" passen könnte. Zum anderen scheint es traditionsgeschichtlich heikel, z. B. den Ausdruck stoicheia (tou kosmou) (4,3.9) und die kalendarischen Angaben von 4,10 mit dem römischen Kaiserkult in Verbindung zu bringen, obwohl es - nicht nur bei den kairoi - an deutlichen terminologischen Interferenzen fehlt und obwohl, wie zumal D. Lührmann 1980 (in der Festschrift C. Westermann, dort 428-445, bes. 433.440) hervorgehoben hat, die beiden in 4,9 f. verknüpften Momente ähnlich schon in Weish 7,17-19 und bei Philo, Op 52-55 verbunden sind, und zwar mit Bezug auf Tora und Schöpfung (Gen 1,14[-19]!). Schließlich und vor allem ist der vorliegende Text des Galaterbriefs schwerlich ernst genug genommen worden. Auch wer sich literarkritische Optionen nicht grundsätzlich versagen will, sollte doch das Prinzip einer gewissen Priorität der Synchronie vor der Diachronie respektieren. Zwei Beispiele für eine sich davon dispensierende Großzügigkeit müssen genügen: (i) Dass in 4,3 die stoicheia (logische) "Subjekte" der Verknechtung seien, scheint angesichts des ypo mit Akkusativ und angesichts der vergleichbaren Formulierungen des Kontexts (s. 3,10.22.23.25; 4,2.4.5.21; 5,18) ausgeschlossen; so dürfte Paulus selbst und nicht ein Redaktor den Dativ vermieden haben, damit man an "Gott" als "logisches Subjekt" denkt (Ch. Burchard, Festschrift J. Becker, 1999, dort 41-58, 46 [samt Anm. 29]; ähnlich schon Th. Zahn z. St.). (ii) Eine gewisse Parallelisierung - nicht: eine "Gleichsetzung" - von angestrebter Tora-Orientierung (u. a. Beschneidungswunsch) und (Rückkehr zu) heidnischer (Anschauung wie) Praxis (ist nicht nur, wie soeben angesprochen, traditionsgeschichtlich vorbereitet [nicht anders als eine Entsprechung von ÛÙÔÈÂÖ und heidnischen Gottheiten], sondern) wird hier (auch) jenseits von 4,8-20 fraglos zum Ausdruck gebracht, nämlich in (4,21-)5,1; da das restitutive palin von 4,9b (vgl. 4,9c.19) außer in 5,1 überdies noch in 2,18a begegnet (s. M. Bachmann, WUNT 59, 1992, bes. 126 f.), ist die Abtrennung von 4,8-20 alles andere als überzeugend (anders: 61, Anm. 60). Paulus benutzt vielmehr diese Parallelisierung (und eben dazu den Terminus stoicheia), um die seines Erachtens eklatante Gefahr jener Tora-Orientierung drastisch vor Augen zu führen.

Vollständigkeit in der Literaturbenutzung ist heute nicht mehr erreichbar; aber das Fehlen wichtiger einschlägiger Arbeiten fällt doch auf. (So kommen z. B. die folgenden Autoren in der Dissertation nicht vor: Ch. Burchard; T. L. Donaldson; J. D. G. Dunn; H.-J. Eckstein; E. Faust [was die "Elemente" angeht]; R. N. Longenecker; K.-W. Niebuhr; E. P. Sanders; M. Widmann [letzterer als Vertreter einer "Interpolationshypothese"].) Auch ein Bibelstellenregister vermisst man. Eine erhebliche Anzahl von (Schreib-)Versehen (und sprachlichen Ungeschicklichkeiten) ist stehengeblieben, beginnend mit der ersten Zeile des Vorworts.