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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

399–401

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Thiselton, Anthony C.

Titel/Untertitel:

The First Epistle to the Corinthians. A Commentary on the Greek Text.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2000. XXXIV, 1446 S. gr.8 = The New International Greek Testament Commentary. Geb. US$ 75,00. ISBN 0-8028-2449-8.

Rezensent:

Klaus-Michael Bull

Der Vf., der bisher vor allem durch Beiträge zur Hermeneutik hervorgetreten ist, hat im Rahmen des New International Greek Testament Commentary eine bemerkenswerte Auslegung des 1Kor vorgelegt. - Bereits das Vorwort (XVI-XIX) lässt das überaus anspruchsvolle Programm erahnen, dem der Vf. sich stellt: Er kombiniert eine detaillierte Wort-für-Wort-Exegese mit kenntnisreichen soziohistorischen Analysen und einer bemerkenswert ausführlichen Darstellung der Wirkungsgeschichte der einzelnen Briefkapitel.

Die Kommentierung der einzelnen Briefabschnitte bietet nach Übersetzung, summarischer Einleitung und Literaturliste eine intensive Diskussion aller relevanten linguistischen, rhetorischen, soziologischen und theologischen Aspekte, die für oder gegen die gebotene Übersetzung sprechen. Oberstes Prinzip der Kommentierung ist also das Bemühen um eine Übersetzung, die ein möglichst adäquates Verstehen des Textes ermöglicht. Dabei beeindruckt das Ringen des Vf.s um jede Formulierung, das von dem Bestreben getragen ist, in der Übersetzung möglichst auch die "Obertöne" des griechischen Textes zu erfassen. Der deutschsprachige Leser stößt hier allerdings bald an seine Grenzen. Der Rez. konnte der Argumentation gelegentlich nur unter Hinzuziehung eines Spezialwörterbuches folgen.

Die Wort-für-Wort-Exegese wird durch insgesamt 41 Exkurse ergänzt, die zu speziellen Problemen (z. B. zu den "Parteien" in der korinthischen Gemeinde; zu 1Kor 14,33b-35 [hält der Vf. für authentisch] etc.) noch einmal eine gesonderte Analyse bieten.

Im Streit um die Relevanz rhetorischer Kategorien für die Auslegung der paulinischen Briefe hält der Vf. ein Plädoyer für die sinnvolle Kombination von Epistolographie und Rhetorik, da Paulus seine Briefe diktiert hat und sie öffentlich verlesen wurden (44, vgl. 149 - "rhetoric remains Paul's servant"). Dem wird man gern zustimmen.

Rhetorische Fragen gewinnen für den Vf. bei seiner Auslegung aber auch insofern an Bedeutung, als er die korinthische Gemeinde unter dem Einfluss der so genannten Zweiten Sophistik sieht. Deren Vertreter macht er insbesondere unter provinziellen Rednern aus (205). "As soon as provincial rhetoricians in such cultures as Roman Corinth came to stake everything on the approval and applause of the audience, 'truth' lost its anchorage in the extralinguistic world and became a matter of social construction or 'local' perception." (42) Dagegen setze Paulus die "re-proclamation of the cross" (43), die der Vf. unter Aufnahme der Sprechakttheorie von J. L. Austin als "transformative speech-acts" (ebd.) zu verstehen sucht. "In particular I distinguish between 'illocutionary' speech-acts, which depend for their effectiveness on a combination of situation and recognition, and 'perlocutionary' speech-acts, which depend for their effectiveness on sheer causal (psychological or rhetorical) persuasive power. This also holds for the distinction between the nature of apostolic rhetoric and the pragmatic, audience-determined rhetoric of Corinth and of a postmodern world shaped by social construction alone." (51, Hervorhebungen hier wie im folgenden original)

Seit den bahnbrechenden Untersuchungen von G. Theißen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der 1Kor nur dann angemessen verstanden werden kann, wenn die sozialen Gegebenheiten in Korinth und in der korinthischen Gemeinde berücksichtigt werden. Dem trägt auch der Vf. Rechnung. So konstatiert er gleich zu Beginn seiner Einleitung: "All of these factors underline three fundamental points for our understanding of the epistle: (1) the city community and city culture of Corinth were formed after a Roman model, not a Greek one, even if many immigrants came from Achaea, Macedonia, and the East to constitute an equally cosmopolitan superstructure; (2) the community and the city culture felt themselves to be prosperous and self-sufficient, even if there were many 'have nots' who were socially vulnerable or dependent on others; (3) the core community and core tradition of the city culture were those of trade, business, and entrepreneurial pragmatism in the pursuit of success, even if some paid a heavy price for business failures or for the lack of the right contacts or the right opportunities." (4) Wenig später fasst er seine Sicht des sozialen Klimas in Korinth mit einem Zitat von Witherington so zusammen: "Corinth was a city where public boasting and self-promotion had become an art form." (13) Diesem Geist seien auch die korinthischen Christen verhaftet. Hintergrund sei eine "honor-shame cultural orientation" (ebd.), für die sozialer Status in erster Linie eine Frage der öffentlichen Wahrnehmung ist.

Von hier aus schlägt der Vf. eine Brücke zu seiner Sicht der postmodernen Gesellschaft. Dieser Brückenschlag stellt im Grunde das hermeneutische Leitprinzip seiner Auslegung dar: "With today's 'postmodern' mood we may compare the self-sufficient, self-congratulatory culture of Corinth coupled with an obsession about peer-group prestige, success in competition, their devaluing of tradition and universals, and near contempt for those without standing in some chosen value system. All this provides an embarrassingly close model of a postmodern context for the gospel in our own times, even given the huge historical differences and distances in so many other respects. Quite apart from its rich theology of grace, the cross, the Holy Spirit, the ministry, love, and the resurrection, as an example of communicative action between the gospel and the world of given time, 1 Corinthians stands in a distinctive position of relevance to our own times." (17, vgl. 40 u. ö.) Entsprechend formuliert der Vf. seine Sicht des Hauptanliegens des Briefes: "To the degree to which Corinthian Christians imbibed secular Corinthian culture with an emphasis on peer groups and local value systems, the church had indeed become embroiled in what we have termed a postmodern pragmatism of the market with its related devaluation of truth, tradition, rationality, and universals. However, the value system is corrected not by reformulating an ecclesial polity, but by placing the community as a whole under the criterion and identity of the cross of Christ." (33) Der Brief stehe auf Grund seiner theologischen Relevanz für Christen in der heutigen Gesellschaft deshalb zu Unrecht häufig im Schatten des Römerbriefes.

Der Kommentar beeindruckt sowohl auf Grund seiner inhaltlichen Geschlossenheit als auch durch die erschöpfende Diskussion der exegetischen Details, die konsequent die sozialhistorischen Erkenntnisse zur korinthischen Gesellschaft des 1.Jh.s nutzt. Selbst wenn man die Gesamtsicht des Vf.s auf den 1Kor nicht teilt, kann man seine Einsichten nicht einfach übergehen. Insofern wird die weitere exegetische Arbeit an diesem opus magnum nicht vorbeikommen.