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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

388–390

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wicke-Reuter, Ursel

Titel/Untertitel:

Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung bei Ben Sira und in der Frühen Stoa.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XII, 338 S. gr. 8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 298. Lw. ¬ 108,00. ISBN 3-11-016863-4.

Rezensent:

Georg Sauer

"Die vorliegende Studie wurde vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg im Frühjahr 2000 als Dissertation angenommen" (VII). Sie zeichnet sich durch eingehende Arbeit an den Texten des Ben Sira-Buches ebenso wie an den z. T. fragmentarischen Überlieferungen der Frühen Stoa aus. Dabei steht von Anfang an der durch die Thematik gegebene Inhalt der Texte mit deren theologischen und philosophischen Aussagen vor einer text- und literarkritischen Untersuchung im Mittelpunkt der Darlegungen. Sie bestimmt auch die Reihenfolge der Behandlung der einschlägigen Texte.

Der Gang der Deduktionen stellt sich daher wie folgt dar: Die "Einführung" (1-12) geht unter I. den geistes- und theologiegeschichtlichen Zusammenhängen im Zeitalter des Hellenismus des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts nach und stellt die wichtigsten Positionen der Beurteilung der Stellung Ben Siras in der wissenschaftlichen Debatte dar. Im Besonderen werden Th. Middendorp und M. Hengel einander gegenüber gestellt. Die Vfn. vermisst bei der bisherigen Behandlung der Frage nach dem Einfluss des hellenistischen Geistes auf Ben Sira "die Gegenüberstellung ganzer Vorstellungszusammenhänge", die erst "zu einem tieferen Verständnis von Ansatz und Ziel des Sirachbuches" führen können (7). Als wesentlichsten Themenkreis für eine solche Gegenüberstellung erkennt die Vfn. II. "die Frage nach dem Verhältnis von Determination und Freiheit, göttlicher Providenz und menschlicher Verantwortung und, damit eng verknüpft, nach der Ursache bzw. dem Urheber des Bösen" (7 f.). Auch zu diesem Punkt führt die Vfn. frühere Positionen vor: G. Maier, G. L. Prato u. a. Bei all diesen Untersuchungen ist aber nach dem Urteil der Vfn. zu wenig der Hintergrund in Übernahme oder Ablehnung zur stoischen Philosophie gewürdigt worden. So kommt sie unter III. (12) zu einer kurzen Vorschau auf den Gang der weiteren Untersuchung.

Im 1. Kapitel legt die Vfn. den Grund für alle weiteren Vergleiche, indem sie eingehend die stoische Position darstellt: "Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung in der Frühen Stoa"( 13-54). Die stoische Physik ist der Ausgangspunkt für das Verständnis des Verhältnisses des Menschen zur Welt und zu sich selbst und ist daher als Theologie zu interpretieren. In eingehenden Darlegungen wird die stoische Welterklärung vor Augen geführt. Mit der Zitation des Zeus-Hymnus des Kleanthes schließt das Kapitel (53 f.).

Nun beginnen die Untersuchungen der Ben Sira-Texte: Kapitel 2: "Ein Hymnus auf die Vorsehung Gottes: Sir 39,12-35" (55-105). Kapitel 3: "Die Verantwortung des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes: Sir 15,11-16,14" (106-142). Kapitel 4: "Der Mensch als Werk der Vorsehung Gottes: Sir 16,17-18, 14" (143-187). Kapitel 5: "Weisheit und Gesetz" (188-223). Kapitel 6: "Der souveräne Schöpfer und das Problem des Bösen: Sir 33,7-15" (224-273).

Die methodische Vorgehensweise ist in all diesen Kapiteln die gleiche: Nach Vorüberlegungen zur Problematik und Vorgeschichte der wissenschaftlichen Diskussion der einzelnen Themen folgt die Übersetzung der Texte mit eingehender textkritischer Behandlung. Wo angezeigt, werden auch literarkritische und formgeschichtliche Fragen geklärt. Danach wird in sorgfältiger Einzelexegese Wort für Wort, Schritt für Schritt die Aussage unter systematischen Gesichtspunkten erhoben und zum Schluss einem Vergleich mit der Frühen Stoa zugeführt.

Eine konzise "Zusammenfassung" (275-285), die auch inhaltliche Weiterführungen enthält, beschließt den thematischen Teil des Buches. Ein Abkürzungsverzeichnis (286), ein nach Sachgebieten gegliedertes Literaturverzeichnis (287-326) und ein Stellenregister (327-338) bilden den Beschluss.

Die Arbeit ist äußerst material- und gedankenreich. Diesem Reichtum entsprechen auch die differenzierten Ergebnisse, die bei den einzelnen Problemen erzielt werden. Dies alles würde ein eingehenderes Referat verdienen als es im Rahmen einer Rezension möglich ist. So sei nur auf zwei Schwerpunkte verwiesen. Der eine bezieht sich auf die Gesamtschau der Haltung Ben Siras. Der Vfn. liegt am Herzen zu zeigen, dass Ben Sira weder einseitig dem Hellenismus zugetan oder gar verfallen ist, noch als traditioneller Jude andererseits eine reine Gegenposition einnimmt. Diese simplifizierende Betrachtungsweise dürfte mit diesen Untersuchungen als erledigt gelten. So kann z. B. bei der Frage nach dem Urheber des moralischen Übels (Sir 15,11f.) nicht einfach eine "antihellenistische Tendenz" festgestellt werden (142); vielmehr bemüht sich die Vfn. um ein genaueres Bild, indem sie "auch die Gegenargumentation im ,hellenistischen' Denken beheimatet" sieht (ebda.). Ferner: Bei der Behauptung, die Sir 16,17 zitiert, dass "sich die Götter bzw. Gott um die irdischen Geschicke nicht kümmern" (181), gehen Ben Sira und die Stoa zusammen in der Abwehr der epikureischen Anschauung, allerdings mit verschiedenen Argumenten, vgl. S. 29 und 181-187.

Besonders eingehend und mit scharfsinnigen Beobachtungen gestützt wird zweitens die Frage nach der Determiniertheit für gut oder böse im Sein des Menschen im 6. Kapitel behandelt. Mit Recht sieht hier die Vfn. eine Gefahr der Engführung, wenn man sich nur auf die Verse 33,7-15 stützt. Nur "durch gründliche Motiv- und Begriffsuntersuchungen, [...] für die der Sprachgebrauch und der theologische Kontext des Sirachbuches den Bezugsrahmen bilden" (226), lässt sich eine Antwort finden. "Die Lösung liegt in der Erkenntnis, daß alles in der Welt polar in Gegensätzen geordnet ist" (268), wobei nicht "jedes Moment der unmittelbaren Bestimmung des Menschen durch Gott negiert" wird (269).

Einwände gegen einzelne Ausführungen könnten da und dort erhoben werden, z. B. bei der Textkritik und bei der Übersetzung. Viele Beispiele zeigen, dass frühere Übersetzer und Kommentatoren bei ihren Entscheidungen von verschiedenen Voraussetzungen herkommen und daher auch zu differierenden Ergebnissen gelangen. So ließe sich z. B. fragen, ob die Übersetzung von 'olam in 39, 20a mit "Ewigkeit" (75) wirklich vorzuziehen ist gegenüber "Weltzeit". Kennt Ben Sira schon eine "Zeit ohne Zeit" = Ewigkeit? Er denkt noch im Duktus des aus den alttestamentlichen Schriften bekannten Hebräisch, wie dies etwa in Ps 90,2 bezeugt ist. Für ihn besitzt "Weltzeit" m. E. noch nicht "als Konnotation den apokalyptischen Gedanken aufeinanderfolgender Äonen" (ebda., Anm. 106).

Eine Schlussnotiz, die an den Anfang zurücklenkt, wo die Vfn. die Reihenfolge der zu behandelnden Themen festlegt: Die Stoa kommt von der Physik her zum Menschen, definiert also den Menschen als Teil der Natur, in die Natur eingebunden. Im Einklang mit der Natur zu leben, ist höchstes Ziel. Von dieser Sicht her war die Reihenfolge der Themen und Texte gewählt worden. Die Untersuchung begann folgerichtig mit Sir 39, 12-35, also mit einem Abschnitt, der sich mit der Schöpfung der Welt befasst. Nun stehen bei Ben Sira Aussagen, die sich mit dem weiteren Lebenskreis des Menschen in Gesellschaft und Welt beschäftigen, im zweiten Teil des Buches (Kapitel 25-50). Ben Sira denkt und argumentiert aber umgekehrt vom Menschen her. Hier, im engeren Kreis von Einzelperson und Familie, sind die entscheidenden Voraussetzungen zu suchen. Der Mensch im Umkreis dieser Lebensbezüge ist jedoch Gegenstand der Aussagen im ersten Teil des Buches (Kapitel 2-23). So stehen die Texte, die die Vfn. in dieser Hinsicht behandelt, in diesem ersten Teil: Sir 15,11-18,14. In dieser unterschiedlichen Wertung und Reihenfolge ist zweifellos ein weiterer gewichtiger Unterschied zum stoischen Welt- und Menschenverständnis zu sehen.