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Ausgabe:

April/2002

Spalte:

385–388

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schenker, Adrian

Titel/Untertitel:

Recht und Kult im Alten Testament. Achtzehn Studien.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. X, 302 S. gr.8 = Orbis Biblicus et Orientalis, 172. Lw. ¬ 42,75. ISBN 3-7278-1273-7 u. 3-525-53731-X.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Der Alttestamentler aus Freiburg (Schweiz) Adrian Schenker ist in den letzten Jahren durch zahlreiche Beiträge zu Recht und Kult im Alten Testament und auch als Herausgeber zu dieser Thematik (Studien zu Opfer und Kult im Alten Testament. FAT 3. Tübingen 1992) bekannt geworden. Deshalb wird man die unlängst erschienene Sammlung seiner Aufsätze begrüßen, auch wenn sie, bis auf einen, bereits gedruckt sind (vgl. das Verzeichnis, IX). Vorweg sei gesagt, dass der interessierte Leser nicht enttäuscht wird, denn der Vf. versteht es fast immer, "unbeachtete Aspekte" (28) eines Themas, "ein aktuelles und repräsentatives Problem" aufzugreifen, das noch nicht genügend untersucht wurde oder "in der Forschung noch keinen Konsens erzielt hat" (52). "Wer immer ihm begegnet, nimmt von ihm neue Ideen, Perspektiven und vor allem auch Freude an der theologischen Forschung mit" (178) - diese Aussage Sch.s lässt sich auch auf ihn selbst beziehen. Wie es sich für einen Schweizer im Grenzbereich zweier Sprachen gehört, sind fast alle Beiträge auf deutsch oder französisch geschrieben.

Der Band ist in drei Abschnitte aufgeteilt: I. Kategorien (3-38). Er enthält die allgemeineren Themen. II. Besondere Fragen (41-169). Bis auf den letzten verbindet hier alle Beiträge die Doppelthematik Recht und Kult. III. Wirkungsgeschichte (173-202).

I. Der Kurzbeitrag "Zeuge, Bürge, Garant des Rechts" (4-6) weist diese drei Funktionen als Aspekte des Wortes 'ed auf. Augenzeugen ermöglichen, wenn sie wahrheitsgemäß berichten, dass Recht geschieht, Bürgen treten für übernommene Verpflichtungen ein, JHWH, Richter, Könige handeln mit Entscheidungsgewalt nach dem Recht. Auch der Eid bei JHWH und dem Leben eines Menschen erklärt sich so. - Der Essay "Les sacrifices dans la Bible" (7-21) führt in die neuere religionsgeschichtliche, anthropologische und alttestamentlich-exegetische Forschung zu dem lange vernachlässigten Thema ein und verdeutlicht seine semantischen Schwierigkeiten am Beispiel des Begriffes h.at.t.ât., der in der kultischen Verwendung eine doppelte Bedeutung hat: Neben die geläufige Wiedergabe mit "Sünde" bzw. "Sündopfer" muss - wegen des Bezugs auf Fälle wie Wöchnerinnen (Lev 12,6.8) oder die Berührung einer Leiche durch einen Nasiräer (Num 6,11), wo eine Schuld ausgeschlossen ist - die Übersetzung mit "Unreinheit" treten. Entsprechend dient das Wort zur Bezeichnung von Riten mit alternativem Zweck: Entsündigung durch Opfer oder (kultische) Reinigung, wobei Sch. eine Analogie zwischen beiden Bereichen annimmt. - Thematisch schließt daran der folgende Beitrag an: "Pureté - impureté" (22-27; unedierte Langfassung des entsprechenden Artikels in: Dictionnaire critique de théologie, 1998). Die im Einzelnen rational undurchschaubaren, tradierten Klassifizierungen zwischen reinen und unreinen Dingen und insbesondere Tieren deuten auf eine symbolische Aufteilung des Kosmos in drei konzentrische Sphären: des Unreinen, des Reinen und in der Mitte des Heiligen. Wichtig: Die Unterscheidung gründet sich nicht auf hygienische, ökonomische, religiöse oder nationale Gründe (25). Das Neue Testament (Röm 14,14.20; Act 10,9-16; 11,5-10) hebt die Unterschiede zwischen reinen und unreinen Speisen wie zwischen Israel und den Heiden auf. - "Gelübde im Alten Testament: unbeachtete Aspekte" (28-32) unterscheidet Bitt- (einschließlich Entsagungs-), Dank- und Bekenntnisgelübde. - "Dynamique de dépassement dans la Loi ancienne" (33-38) untersucht Aspekte dynamischer Änderung im altisraelitischen Gesetz. Drei Dynamiken verursachen sie: 1. Kasuistik. Ein anschauliches Beispiel ist die Entfaltung differenzierter Tötungsdelikte in Ex 21. 2. Analogie: Anwendung von Vorschriften in einer als analog erachteten Situation. Beispiel: Anwendung von Dt 25,4 in 1Kor 9,9f. 3. Konkrete Formulierung allgemeiner Inhalte. Beispiel: Lev 17,11 konkretisiert das Blut als Transfer der Vergebung Gottes.

II. "Die Segnung des siebten Schöpfungstages" (41-51) behandelt die "Einzelfrage": "Was bedeutet die Segnung des siebten Schöpfungstages?" (51) Antwort: In Gen 2,3 behält sich Gott den siebten Tag für das Rasten, die Nicht-Produktion, vor. Entsprechend wird auch die menschlich-schöpferische Produktion unterbrochen. Dagegen bleibt der Segen erhalten: Das Leben der Natur geht weiter. Ex 20,11 verschiebt den Akzent auf die Ruhe: Die Unterbrechung der Arbeitsleistung für die Arbeitskräfte (Mensch und Tier). - "Die Reihenfolge der Gebote auf der zweiten Tafel" (52-66) untersucht die Unterschiede zwischen MT und LXX (Ex 20 und Dt 5 MT übereinstimmend: Elternehrung, Mord, Ehebruch, Diebstahl. Ex 20 LXX: Elternehrung, Ehebruch, Diebstahl, Mord. Dt 5 LXX: Elternehrung, Ehebruch, Mord, Diebstahl). Nach einem Durchgang durch die Dekalogforschung (die das Problem meist übergeht), mit zahlreichen Literaturangaben in Anm. 18, und der Erwägung von möglichen Gründen für die unterschiedliche Reihenfolge kommt Sch. letztlich zu einem non liquet (66). Für MT rechnet er mit möglicher nachträglicher Harmonisierung, für LXX mit dem Resultat systematischer Interpretationen des Dekalogs. - In "L'origine de l'idée d'une alliance entre Dieu et Israël dans l'Ancien Testament" (1988; 67-76) stimmt Sch. dem Nachweis von E. Kutsch ("Bundestheologie im Alten Testament", 1969, u. a.) zu, dass der Terminus berit kein gegenseitiges Vertragsverhältnis bezeichnen kann, sondern eine einseitig von Gott auferlegte Verpflichtung bedeutet. Die Idee eines Bundes zwischen Gott und Israel mit gegenseitiger Verpflichtung kommt jedoch im Schwur zum Ausdruck, der Gott als Zeugen anruft und insofern in die übernommene Verpflichtung einbindet.

Ein Beispiel dafür liefert der folgende Beitrag: "Les sacrifices d'alliance, Ex XXIV, 3-8, dans leur portée narrative et religieuse" (1994; 77-89). Es fällt auf, daß Sch. als Unterüberschrift formuliert: "Contribution à l'étude de la berît dans l'Ancient Testament", obwohl er - offenbar mit mehr Skepsis als früher - das semantische Ergebnis E. Kutschs zu berit erwähnt (77). Es kommt ihm aber darauf an zu zeigen, dass die Bibel Berichte über Bundesschlüsse enthält. Tatsächlich bringt Ex 24,7 bekanntlich den Begriff sefer hab-berit. Dieser Abschnitt enthält die einzige Erzählung über einen mit Opfern verbundenen Bundesschluss zwischen YHWH und dem Volk. Die Opfer erwirken als Antwort den berit, den YHWH schließt (79). Die Riten ersetzen den Schwur (s. o.), aber das Volk spricht ein Gelübde, YHWHs Gebote zu halten (80). Nach Erwähnung anderer Bundesschlüsse ohne Opfer kommt Sch. zu dem Schluss: "Berît peut désigner à la fois cette réponse de YHWH (Ex XXIV, 8) ou la promesse des hommes" (88). Wichtig ist, dass YHWH auf jeden Fall eingebunden ist.

Die folgenden Beiträge befassen sich sämtlich mit Themen aus den Büchern Exodus-Leviticus.

"Drei Mosaiksteinchen ..." (90-103) behandelt (a) Ex 19,6: ("Königreich von Priestern"); (b) 21,22 ("und ihre Kinder gingen weg") und (c) 24,7 ("wir tun und wir hören"). (a) Nach Ex 19,3-8 (einem nachexilischen Abschnitt) ist Israel von allen Völkern dadurch unterschieden, dass es JHWHs Wort übernimmt und bewahrt (V. 5). Deshalb ist es ein von Priestern regiertes Königreich (V. 6). Die anderen Völker sind JHWHs Eigentum, aber ohne sein Wort erhalten zu haben (nach Jes 2, 1-4; Mi 4, 1-4 empfangen sie es erst im Eschaton). (b) Der pluralische Ausdruck hydly waxyw in Ex 21,22 wird im Rahmen der Talionsbestimmungen in V.23-25 als bleibende Unfruchtbarkeit der von einem Schlag getroffenen schwangeren Frau interpretiert, für die einzig Kompensation infrage kommt. (c) Ex 24,7 wiederholt nicht einfach V. 3, sondern fügt als neue Verpflichtung zum Tun der Gebote hinzu: Wir wollen sie wieder hören. - Die Essays (a) "Der Unterschied zwischen Sündopfer tafj und Schuldopfer va im Licht von Lev 5,17-19 und 5,1-6" (104-112) und der folgende (b) "Keine Versöhnung ohne Anerkennung der Haftung für verursachten Schaden. Die Rolle von Haftung und Intentionalität in den Opfern tafj und mva (Lev 4-5") (113-122) sind durch das gemeinsame Thema verbunden. (a) Lev 4 zeigt, dass das Sündopfer (versehentliche) Übertretung von Verboten sühnen soll, 5,14-19 das Schuldopfer Unterschlagungen heiligen Gutes. (b) Da Haftung bleibt (5,17-19), sieht P bei uneinlösbaren Verpflichtungen einen Versöhnungsritus vor (5,1-6), sogar bei absichtlichen Unterschlagungen (5,20-26). Nur provokative Verfehlungen sind unversöhnbar (Num 15,30-31).

Während dies alles interessante Anregungen sind, erwecken die beiden folgenden Beiträge Bedenken. In ihnen versucht Sch. Bundesbuch und Heiligkeitsgesetz in eine Entwicklungslinie einzureihen. Das ist gängige Praxis nach der communis opinio, wird man sagen. Das Beispiel zeigt aber, dass sie methodisch und wegen ungeklärten Vorverständnissen nicht gangbar ist. Dynamische Weiterentwicklung des Rechts geschieht innerhalb eines Rechtskorpus (33-38), nicht als Kommentierung eines älteren Korpus durch ein (vermeintlich) jüngeres. Schon der Aufsatz "Der Boden und seine Produktivität im Sabbat- und Jubeljahr. Das dominium terrae in Ex23: 10-11 und Lev 25,2-12" (123-133), in dem Sch. die These einer Novellierung von Bb durch H aufstellt, wird fraglich durch die richtig beobachtete unterschiedliche Terminologie (124), die eine Herkunft der Korpora aus verschiedenen Traditionskreisen unterstreicht. Sachlich ist problematisch, wie die Landwirte und ihre Familien im Sabbatjahr von den Erträgen des unbebauten Landes außerhalb der Äcker essen sollen (pace Abschn. 3.3), das doch deshalb unbebaut ist, weil es ungeeignet für Anbau und Erträge ist! Die These führt die unausgesprochene Voraussetzung schriftlich-redaktioneller Verarbeitung innerhalb eines Einheitspentateuchs, die heute so populär ist, ad absurdum.

Ähnlich argumentiert Sch. in dem folgenden Beitrag "The Biblical Legislation on the Release of Slaves: the Road from Exodus to Leviticus" (134-149). Die These von Sch.: "My purpose is to show that the jubilee of Leviticus 25 does not supersede the earlier biblical legislation on slaves, but implies them and completes them" (134) teilt die Voraussetzungen mit der kritisierten Auffassung. Für sich genommen enthalten die Ausführungen über Lev 25 anregende Beobachtungen. Doch der aus dem Vergleich mit Ex 21,2-6 (Bb spricht nicht von den Kindern des Schuldsklaven) und Dt 15,1-18 gezogene Schluss, Lev 25 enthalte eine Novelle zu den älteren Vorschriften, ist deshalb kaum überzeugend, weil diese von einer individuellen Freilassung nach jeweils sechs Arbeitsjahren sprechen, während Lev 25 sie kollektiv und weithin utopisch in das Jubeljahr verweist. - Weniger grundsätzlichen Bedenken begegnet die These in "Die Freilassung der hebräischen Sklaven nach Dtn 15,12 und Jer 34,8-22" (150- 157), die in Jer 34 berichtete Freilassung sei keine einmalige Maßnahme während der Belagerung Jerusalems 587/86 gewesen, sondern die Inkraftsetzung eines gültigen, aber vernachlässigten Gesetzes (Dtn 15,12) durch Zedekia. Kühn ist jedoch die Vermutung, das sei zum Regierungsantritt Zedekias nach der ersten Belagerung Jerusalems 598 geschehen.

Der diesen Teil abschließende, bisher unveröffentlichte Aufsatz "Die zweimalige Einsetzung Simons des Makkbäers zum Hohenpriester. Die Neuordnung des Hohepriestertums unter dem Hasmonäer Simon (1Makk 14,25-49)" (158-169) steht etwas außerhalb des Gesamtthemas. Er untersucht 1Makk 13-15 mit dem Resultat, Simons Herrscherwürde werde hier mit der Salomos verglichen. Die "große Versammlung" (1Makk 14,25-49) sei historisch und habe als Volksvertretung die von dem Seleukidenherrscher Demetrius II. dem Simon übertragene Herrscherwürde, zu der auch die des Hohenpriesters gehörte, letztinstanzlich beschlossen.

III. Der diesen Abschnitt einleitende Beitrag "La Loi de la divinité, le rachat des fils premiers-nés et le sens de la Pâque en Sag XVIII, 9" (173-177), deutet das dort erwähnte "göttliche Gesetz" als Exegese des Erzählablaufes von Ex 11-13, in dem die Ablösung der Erstgeburten auf die Passahfeier folgt: Das Passah wird in SapSal als erste Ablösungsfeier der Erstgeburten verstanden. - Eine Sonderstellung nimmt der abschließende Essay ein: "Die Rolle der Religion bei Maimonides und Thomas von Aquin. Bedeutung der rituellen und liturgischen Teile der Tora nach dem Führer der Unschlüssigen und der Theologischen Summe" (178-202). Wenn sich hier Sch. auf das ihm fremde Gebiet der Theologiegeschichte begibt, bringt er doch sein spezielles Interesse an Ritus und Liturgie mit. Die Ausführungen hätten allerdings an Präzision gewonnen, wenn der (seit dem 12. Jh. wiedererweckte) Aristotelismus als gemeinsamer Denkhintergrund beider Theologen beachtet worden wäre. Für Thomas sind die Zeremonialgesetze abgetan (181), Maimonides behält sie als Jude bei, deutet sie aber symbolisch, da ihm entsprechend antiker philosophischer Tradition neben Gotteserkenntnis "ein friedliches und harmonisches Gemeinwesen" und "gute Charaktereigenschaften" der Menschen (185) wichtig sind. Was Sch. als Neuheit bei Maimonides wertet: "die historische Erklärung der liturgisch-rituellen Bestimmungen" ist genauer der verbreitete Adaptionsgedanke: Gott hätte sich in Gestalt von Riten und Bildern der damaligen kulturellen und religiösen Situation mit ihren Verständnismöglichkeiten angepasst (183). Dieser Gedanke ist nicht historisch, sondern humanistisch: Er wirkt als apologetischer Zug bis in die Aufklärung fort und findet sich u. a. noch bei Johann Salomo Semler. Hintergrund ist die moralische Weltauffassung, die von der Antike her weitergeerbt wurde. Wilhelm von Auvergne und Jean de la Rochelle, von Sch. als Mittelglieder zwischen Maimonides und Thomas genannt (187-195), fügen sich in diese Linie ein.

Der lesenswerte Band schließt mit einem Bibelstellenindex (203-208). Nützlich wäre außerdem ein Autorenregister gewesen, das die wertvollen, oft bis weit ins 19. Jh. hinein reichenden umfangreichen Literaturhinweise aufschlösse.