Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2002

Spalte:

350–352

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Matthes, Joachim [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Fremde Heimat Kirche - Erkundungsgänge. Beiträge und Kommentare zur dritten EKD-Untersuchung über Kirchenmitgliedschaft.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000. 405 S. m. zahlr. Tab. 8. Kart. ¬ 22,95. ISBN 3-579-02372-1.

Rezensent:

Gerald Kretzschmar

Wie schon den ersten beiden EKD-Erhebungen so folgt nun auch der 1992 durchgeführten dritten EKD-Erhebung "Fremde Heimat Kirche" ein Kommentarband. Abermals ist Joachim Matthes der Herausgeber. In vier Kapiteln wird zu theologischen und soziologischen Erkundungsgängen um und durch die jüngste EKD-Erhebung eingeladen.

Die Erkundungsgänge des ersten Kapitels sind als "Kommentare" überschrieben. Die Frage nach dem heuristischen Potential der EKD-Erhebungen wird hier aufgeworfen. Um dieses Potential zu weiten und Missverständnisse zu vermeiden, schlägt M. vor, neben den bisher üblichen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zusätzliche Erhebungen auf "amtskirchlicher" Seite, d. h. vor allem unter Pfarrerinnen und Pfarrern, durchzuführen (23 ff.). Dadurch ließe sich herausfinden, was es auf dieser Seite ist, das die Lebenswelt der Kirchenmitglieder als so fremd erfahren lässt. Der Beitrag von Eilert Herms knüpft inhaltlich an M.s Beitrag an (38 ff.). Herms plädiert aber nicht für eine Weitung der Wahrnehmungsperspektive. Er schlägt stattdessen eine grundsätzliche Änderung der Wahrnehmungsperspektive vor. Um das Verhältnis zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern angemessen empirisch wahrzunehmen, empfiehlt er statt der bisher eingenommenen kirchlich-institutionell verfassten Wahrnehmungsperspektive eine theologische Wahrnehmungsperspektive, die die Gegenwartskultur des Christentums in einem umfassenden Sinne in den Blick bekommt. Ob empirische Religions- und Kirchensoziologie aus dieser Wahrnehmungsperspektive heraus überhaupt im kirchlichen Auftrag möglich ist, das ist die Frage, die der Beitrag von Herms letztlich aufwirft. Der katholische Theologe Gerhard Schmied beschließt das erste Kapitel und plädiert für eine den EKD-Erhebungen vergleichbare Sozialforschung in der katholischen Kirche (60 ff.).

Die Erkundungsgänge des zweiten Kapitels gewähren vertieften Einblick in die "Methoden" von "Fremde Heimat Kirche". Michael Krüggeler reflektiert die Kombination eines quantitativen und qualitativen Zugangs in der dritten EKD-Erhebung (73ff.). Der Beitrag von Regina Sommer bietet Informationen zum methodischen Verfahren des narrativen Interviews, wie es in der jüngsten EKD-Erhebung erstmals angewendet wurde (85ff.). Andreas Feige schließlich analysiert drei neuere empirische Untersuchungen in methodischer Hinsicht (94 ff.). Bezogen auf die jüngste EKD-Erhebung ist Feige m. E. zu zurückhaltend. Die Kritik des methodologischen Fachmanns wäre auch in diesem Fall wichtig gewesen.

Das dritte Kapitel führt mit seinen Erkundungsgängen unter der Überschrift "Analysen" durch die Daten von "Fremde Heimat Kirche". Die drei ersten Beiträge des Kapitels beziehen sich auf die quantitativ erhobenen Daten von "Fremde Heimat Kirche". Sie zeigen, dass durch die Benutzung multivarianter Analyseverfahren nicht nur auf qualitativem Wege komplexe empirische Wahrnehmungsleistungen möglich sind. So belegt Petra-Angela Ahrens, dass zur empirischen Wahrnehmung von Religion und Kirchlichkeit der analytische Rekurs auf religiöse Deutungsmuster eine realitätsgerechtere Alternative zu den herkömmlichen kirchensoziologischen Typenbildungen darstellt (127 ff.). Peter Höhmann nimmt eine Detailanalyse zum Thema "Kirchliche Bindung und Schließungsprozesse" vor (154 ff.) und Ingrid und Wolfgang Lukatis schließen eine pastoraltheologische Lücke in der Ergebnispublikation zu "Fremde Heimat Kirche" (186 ff.). Sie präsentieren umfassende Detailanalysen der auf Pfarrerinnen und Pfarrer bezogenen Daten.

Die Beiträge von Thomas Stahlberg und Christian Schwarke beziehen sich auf die qualitativ erhobenen Daten von "Fremde Heimat Kirche". Beide führen eindrücklich vor Augen, in welch hohem Maße diese Daten innovatives Potential zur Deutung des religiösen und kirchlichen Lebens in sich bergen. Stahlberg knüpft an das pastoraltheologische Thema von Lukatis/Lukatis an und kommt zu dem Ergebnis, dass Pfarrerinnen und Pfarrer von den Befragten keineswegs nur als Amtsinhaber wahrgenommen werden, sondern vor allem als Personen (233ff.). Schwarke skizziert durch die Analyse narrativer Interviews die Glaubenslehre der sog. distanzierten Kirchenmitglieder und gelangt zu dem Urteil, dass hier eine im guten Sinne protestantische Glaubenslehre vorfindbar ist (261 ff.).

Andreas Kölling, Peter Höhmann und Thomas Stahlberg sowie Detlef Pollack bieten Detailanalysen zu Religiosität und Kirchlichkeit in Ostdeutschland. Kölling/Höhmann/Stahlberg illustrieren, inwiefern die "Entkirchlichung" in Ostdeutschland ein historisches Phänomen darstellt, dessen quantitatives Ausmaß durch den Einfluss der kirchenfeindlichen Politik zu DDR-Zeiten befördert wurde (277 ff.). Pollack weitet den Blick über die Daten von "Fremde Heimat Kirche" und skizziert z. B. auf der Grundlage von Daten aus den Allbus-Umfragen den religiös-kirchlichen Wandel in Ostdeutschland seit 1989 (310 ff.).

Das dritte Kapitel schließt mit einem Beitrag von Rüdiger Schloz, in dem er für einen Perspektivwechsel in der Wertung der Unbestimmtheitskategorie plädiert, mit der der Glaube der Kirchenmitglieder in der Vergangenheit beschrieben wurde (334 ff.). So gelte es, ",Unbestimmtheit' nicht als Infragestellung, sondern in einem zu beschreibenden Rahmen geradezu als Ausweis von Wachheit und Lebendigkeit des Glaubens" (341) zu verstehen. Damit weist Schloz eine konstruktive Perspektive für eine angemessene und nicht normativ verstellte Wahrnehmung der Religiosität und Kirchlichkeit der Kirchenmitglieder.

In "Perspektiven" schließlich weisen die Erkundungsgänge des vierten Kapitels ein. Rüdiger Schloz stellt Ergebnisse der im Rahmen des Projekts "Brücken bauen" durchgeführten Umfrage "Glauben entdecken" vor (345 ff.). Daran knüpft Friederike Benthaus-Apel an und vertieft einzelne Aspekte, die im Zusammenhang mit der Studie "Glauben entdecken" von Bedeutung sind (365 ff.). Unter der Überschrift "Kirchenmitgliedschaftsforschung ohne Folgen?" beschließt Rüdiger Schloz den Kommentarband (398 ff.). Er zieht eine kritische Bilanz über den Einfluss der Kirchenmitgliedschaftsforschung auf dem Feld der Kirchenreform und nennt skizzenartig einige Impulse zur Reform kirchlichen Handelns.

Insgesamt fördern die Erkundungsgänge des vorliegenden Bandes einiges zutage, was deutlich über die Ausführungen der Ergebnispublikation zu "Fremde Heimat Kirche" hinausgeht. So leistet der Band - und ganz besonders das Vorwort des Herausgebers (7 ff.) - in methodologischer Hinsicht wichtige Aufklärungsarbeit bezüglich der Verhältnisbestimmung von qualitativer und quantitativer Sozialforschung. Wie sich beide Zugangsweisen zur Empirie konstruktiv ergänzen können, das zeigen insbesondere die Detailanalysen des dritten Kapitels. Die Originalität der methodischen Neuerungen der dritten EKD-Erhebung und das empirische Potential ihrer Daten wird durch den vorliegenden Band nochmals eindrücklich illustriert.

Kritisch gilt es anzumerken, dass der Band keinerlei theologisch-ekklesiologische oder kirchentheoretische Beiträge aufweist, die sich der Aufgabe stellen, die Empirie von Religiosität und Kirchlichkeit theologisch zu reflektieren. Sollen sich die empirisch erhobenen Daten jedoch in Maßnahmen der Kirchenreform niederschlagen, sind theologische Reflexionen unabdingbar. Bedauerlich ist auch, dass der Band keine Informationen über seine Verfasserinnen und Verfasser beinhaltet.

Der vorliegende Band ist ein gelungenes Werk, dem zu wünschen ist, dass es seinerseits Folgen hat. Zunächst ist ihm eine breite Rezeption zu wünschen. Vor allem aber sollte es die in der Kirche Verantwortlichen motivieren, nach der Auflösung der Studien- und Planungsgruppe der EKD schnellstmöglich nach Wegen zu suchen, die auch in Zukunft Kirchenmitgliedschaftsforschung auf dem bisher praktizierten Niveau erlauben. Dass es auf diesem Feld noch einiges zu tun gibt und sich der Aufwand empirischer Forschungsarbeit in Kirche und Theologie lohnt, zeigt der vorliegende Band in herausragender Weise.