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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

347–349

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herbig, Nicola

Titel/Untertitel:

Kirche oder Kommerz? Analyse der publizistischen Funktion evangelischer Privatfunkredaktionen im Schnittpunkt der Systeme Religion, Massenkommunikation und Wirtschaft in der BRD.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 1999. X, 283 S. m. Abb. 8 = Beiträge zur Kommunikationstheorie, 16. Kart. ¬ 30,90. ISBN 3-8258-4502-8.

Rezensent:

Lars Klinnert

Worin besteht die publizistische Funktion evangelischer Privatfunkredaktionen für die Kirche? Sind sie der Verkündigung, der Öffentlichkeitsarbeit oder dem Journalismus verpflichtet? Passen sich ihre Sendungen den durch kommerzielle Interessen vorgegebenen Rahmenbedingungen des Formatradios an oder lassen sie eine besondere Identität erkennen? Diesen Fragen geht die kommunikationswissenschaftliche Dissertation von Nicola Herbig nach.

Um ihren methodischen Ansatz zu verdeutlichen, führt H. in einem 1. Teil (vgl. 11-92) auf verständliche Weise in die systemtheoretische Religions- und Organisationssoziologie Niklas Luhmanns ein. Fragen lässt sich, ob dies in einer solchen Ausführlichkeit notwendig gewesen wäre, nur um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Kirche mit dem Aufbau von Privatfunkredaktionen versucht, "auf die funktionale Ausdifferenzierung anderer Teilsysteme zu reagieren ..., um auch in Zukunft Kommunikationsmöglichkeiten ... offen zu halten" (91). Gesagt sein will damit nichts anderes, als dass das massenmediale Engagement der Kirche bei schwindender Vermittelbarkeit ihrer Botschaft in der modernen Gesellschaft eine Übersetzungsfunktion übernimmt.

Der zweite Teil (vgl. 93-160) befasst sich mit den Aufgaben und Organisationsformen evangelischer Publizistik. Leider stellt H. auch in entscheidenden Detailfragen wie dem Drittsenderecht (vgl. 131-133) lediglich die Diskussion dar, ohne selber Position zu beziehen. Einige Passagen der Arbeit waren zudem bereits bei ihrer Fertigstellung 1998 veraltet: So bezieht sich H. auf den publizistischen Gesamtplan der EKD von 1976, ohne dessen Nachfolger von 1997 überhaupt zur Kenntnis zu nehmen (vgl. 129 f.).

Der dritte Teil bietet zwei empirische Analysen (vgl. 161-237): Zum einen wird eine schriftliche Befragung der Redaktionsleiter zu Organisationsstruktur und Selbstverständnis ausgewertet. Zum anderen findet eine Inhaltsanalyse repräsentativ ausgewählter Produktionen statt.

Untersucht werden die in der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Rundfunk vertretenen Redaktionen. Diese und einige andere ordnet H. einem so genannten Redaktionsmodell zu, bei dem die programmliche Qualität der Beiträge im Vordergrund stehe. Dem wird ein so genanntes Agenturmodell gegenübergestellt, welches christliches Leben gleichsam von unten darstelle. In ihm werde auf eine starke Beteiligung freier Mitarbeiter aus den Kirchenkreisen Wert gelegt, was H. zu Unrecht mit journalistischer Anspruchslosigkeit und fehlender Hörerorientierung gleichsetzt. So kommt es, dass die - bis 1997 getrennt - für den Privatsender mit der größten Reichweite produzierenden Redaktionen der rheinischen und westfälischen Landeskirche nur am Rande erwähnt und zudem verzerrt - nämlich als eine Art semiprofessioneller Bürgerfunk - dargestellt werden (vgl. 150-154).

Die Unterscheidung erscheint insofern willkürlich, als sich bei den von H. vorgestellten Redaktionen fast durchgehend Mischformen finden: Viele stellen sowohl journalistische Beiträge als auch reine Andachtssendungen her und beschäftigen neben den Redakteuren kirchliche Mitarbeiter als freie Autoren. Andere Differenzierungsmerkmale hätten hingegen stärker hervorgehoben werden müssen: So wird der Frage, ob die Redaktion durch die Kirche oder durch den Sender finanziert wird, von H. kaum eine tiefere Bedeutung zugemessen. Überhaupt keine Erwähnung findet, ob die kirchliche Herkunft der Beiträge im Programm (z. B. durch Jingles) gekennzeichnet wird.

H. stellt fest, dass die Redaktionen sich weitgehend mit den vom kirchlichen Träger gesetzten Zielen identifizieren, ohne sich inhaltlich von ihm abhängig zu fühlen. Ihr funktionales Selbstverständnis ist es, durch die Verankerung einer religiös-ethischen Dimension kirchliche Präsenz im Privatfunk zu sichern.

Die Analyse der Sendungen, bei der sich H. auf Beiträge mit Einspielungen beschränkt, kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Anspruch in der Praxis eingelöst wird. Beiträge mit religiösem und sozialem Bezug überwiegen rein unterhaltende Themen. Ein manifest verkündigender Charakter lässt sich darin allerdings nicht feststellen, denn die Autoren selbst halten sich mit persönlichen Glaubensaussagen stark zurück; religiöse Wertsetzungen werden vielmehr indirekt von den dargestellten Personen eingebracht. Christliche Akteure bestimmen in den Sendungen eindeutig das Geschehen. Zugleich wird jedoch das Bemühen um eine ausgewogene Darstellung gerade kirchlicher Sachverhalte deutlich. Unkritische oder gar aggressive Werbung für die Kirche findet nicht statt.

Die kirchlichen Sendungen im Privatfunk lassen sich demnach als eine "verdeckte Form der Öffentlichkeitsarbeit" (234) charakterisieren: Insbesondere über soziale Themen soll die säkulare Akzeptanz des christlichen Glaubens gesichert werden. H. unterstellt hier eine Kollision zwischen Selbstdarstellung und diakonischem Auftrag: Informationen werden nicht allein nach ihrem Wert für den Hörer, sondern auch im Interesse kirchlicher Imagepflege ausgewählt.

Die Selektivität jeglicher Information bedarf in der Tat der Reflexion. Es verhält sich jedoch nicht so einfach, dass kirchliche Verkündigung "Propagandazwecken" (109) dient, während der kommerzialisierte Rundfunk der objektiven Informationsvermittlung verpflichtet ist (vgl. 106). Eine kritische Analyse sollte auch umgekehrt fragen, ob nicht die kirchlichen Sendungen für die Privatsender die Funktion eines wünschenswerten Störfaktors übernehmen, indem sie ein seichtes, nach dem Gesichtspunkt der Durchhörbarkeit zusammengestelltes Programm mit ernsten Themen aufwerten.

Aus theologischer Sicht ist das Ergebnis der Studie positiv zu bewerten. Ein besonderes finanzielles und personelles Engagement der Kirche im Journalismus lässt sich nur dann legitimieren, wenn dieser vor einem christlichem Hintergrund betrieben wird. Gerade in ihrer impliziten Perspektive des Glaubens besteht der kritische Dienst evangelischer Publizistik an der Öffentlichkeit. Das Eintreten für die Schwachen ist dabei ein wichtiger Aspekt und wird vom Publikum zu Recht als kirchliches Markenzeichen begriffen.

Die von H. behauptete unzulässige Vermischung von Verkündigung, Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus wird durch ihre Untersuchung gerade nicht bestätigt. Vielmehr wissen die kirchlichen Privatfunkredaktionen diese drei Bereiche funktional, formal und inhaltlich zu unterscheiden. Da das christliche Zeugnis jedoch alle Lebensbereiche umfasst (und deshalb in seinem Selbstverständnis systemtheoretisch nicht hinreichend beschrieben werden kann), muss ein gewisser innerer Bezug festgehalten werden. - Wenn H. dennoch unklare terminologische Abgrenzungen sieht, hätte sie ihre interessante deskriptive Analyse nicht nur mit indirekten Wertungen anreichern, sondern anstelle eines viel zu kurzen Fazits (vgl. 238 f.) eigene normative Lösungsvorschläge anbieten sollen. So aber steht trotz zahlreicher Arbeiten in den vergangenen Jahren eine überzeugende Theorie kirchlicher Sendungen im Privatfunk weiterhin aus.