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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

345–347

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian, u. Michael Meyer-Blanck [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker.

Verlag:

1) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999. VIII, 642 S. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 12. Geb. ¬ 44,00. ISBN 3-374-01770-3.

2) Studienausgabe: Evangelische Verlagsanstalt 2000. VIII, 642 S. gr.8. Kart. ¬ 24,80. ISBN 3-374-01767-3.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Ohne Verschulden des Rez. verzögerte sich die Besprechung dieses Werkes, das selber die Bedeutung eines "Klassikers" erhalten dürfte, da es erstmalig gründlich die Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Praktischen Theologie (= PT) aufarbeitet und dabei auch die katholische PT berücksichtigt (Norbert Mette) sowie den Horizont auf den nordamerikanischen (Friedrich Schweitzer) und französischsprachigen Raum (Bernard Reymond) erweitert. Wie die Hgg. erklären, soll das umfangreiche Buch der in der Geschichte des Fachs zu beobachtenden Gefahr eines "geschichts- und damit problemvergessenen Aktualismus" wehren und zugleich einer aktuellen Standortbestimmung dienen. Einleitend skizzieren die Hgg. die Geschichte der PT seit Schleiermacher (1-65), wobei die jüngsten Werke von Steck (vgl. ThLZ 126, 2001, 680-682) und M. Nicol (vgl. dieses Heft, 233 f.) nicht mehr berücksichtigt werden konnten. Der informative, ausgewogene Überblick mündet in programmatische Thesen: Der Horizont ist international zu erweitern und für Religion außerhalb der Kirche zu öffnen, die PT darf aber "das fundamentaltheologische Paradigma" nicht aus dem Blick verlieren (60; Z. 8 ist "nicht" zu streichen). "Der Mitteilungs-, Darstellungs- und Gestaltungsprozeß des Evangeliums und dessen unterschiedliche Formen rücken nun in den Mittelpunkt des Interesses, und Bezugswissenschaften dieses neuen Weges Praktischer Theologie sind Ästhetik, Semiotik und Phänomenologie" (61).

Angesichts der Ausgewogenheit des Überblicks fällt auf, dass dem dreibändigen Handbuch der PT (Berlin-Ost 1974-1978) nur wenige Zeilen gewidmet werden. Dass dieses Werk "kaum Auswirkungen auf die bundesdeutsche praktisch-theologische Diskussion" hatte (55, Anm. 227), ist - selbst wenn dieses Urteil zutrifft - kein überzeugendes Kriterium, zumal die Autoren sonst erfreulicherweise die bundesdeutsche Horizontverengung überwinden wollen. Ganz unberücksichtigt bleibt das immerhin 1997 in 5. Aufl. erschienene Arbeitsbuch "Praktische Theologie" von Friedrich Wintzer, an dem M. Josuttis, D. Rössler und W. Steck mitarbeiteten. Dieses Buch ist ähnlich wie das "Arbeitsbuch Praktische Theologie" von M. Meyer-Blanck und B. Weyel (Gütersloh 1999) exemplarisch angelegt und mit Fragen für das Selbststudium bzw. für die Examensvorbereitung versehen. Diese jüngst durch Martin Nicol ergänzte Gattung der didaktisch aufbereiteten Lernbücher verweist auf die Notwendigkeit, den immer weiter ausufernden Lehr- und Lernstoff zu strukturieren und zu begrenzen.

Die Darstellung der zehn Klassiker von Schleiermacher bis Dietrich Rössler geschieht nach folgendem Schema: Auf eine kurze, oft von einer Anekdote ausgehende Einführung folgt eine tabellarische Übersicht über Leben und Werk der Autoren im Kontext von Kirche, Politik und Kultur. Danach werden zeitgeschichtliche, kultur-, wissenschafts- und theologiegeschichtliche, kirchliche, universitäre und familiäre Hintergründe geschildert, das wissenschaftliche Werk des jeweiligen Autors gewürdigt, seine Rezeption und gegenwärtige Bedeutung erörtert und eine Bibliographie geboten. Die Überschriften der zehn Kapitel des Hauptteils charakterisieren jeweils bestimmte Akzente, unter denen die Klassiker interpretiert werden:

Wilhelm Gräb, PT als Theorie der Kirchenleitung: Friedrich Schleiermacher (67-110); Eberhard Hauschildt, Das kirchliche Handeln des Christentums: Carl Immanuel Nitzsch (111-150); Bernd Schröder, Die Wissenschaft der sich selbst erbauenden Kirche: Theodosius Harnack (151-206); Martin Kumlehn, PT als Selbstvergewisserung kirchlichen Handelns: Ernst Christian Achelis (207-236); Achim Plagentz/Ulrich Schwab, Religionswissenschaftlich-empirische PT: Friedrich Niebergall (237-278); Jan Hermelink, Organisation der volkskirchlichen Gemeinde: Martin Schian (279-330); Rudolf Roosen, Reformatorische und historische PT: Leonhardt Fendt (331-387); Michael Meyer-Blanck, Tiefenpsychologie und Strukturtheologie: Otto Haendler (389-431); Christian Grethlein, Kritische Theorie religiöser Praxis: Gert Otto (433-469); Albrecht Grözinger, Die dreifache Gestalt des Christentums: Dietrich Rössler (471-500).

Die Vorgaben der Herausgeber haben sich bewährt. Indem die Autoren ihre Klassiker in die jeweiligen mehrperspektivischen Kontexte einzeichnen, entsteht ein anschauliches, übersichtliches und informatives Bild nicht nur zur Geschichte der PT, sondern zur Kirchengeschichte des 19. und 20. Jh.s insgesamt. Mitunter geschieht sogar des Guten zuviel, etwa wenn der oft beschriebene Kirchenkampf breit geschildert wird, um die Position L. Fendts zu verstehen. Das Beispiel zeigt aber positiv, wie gründlich, verständnisvoll und mitunter liebevoll die Autoren sich bemühen, ihrem jeweiligen Klassiker gerecht zu werden. In ansprechender Weise gelingt es z. B. B. Schröder, Th. Harnack aus dessen Verbundenheit mit der baltischen Heimat zu verstehen. Die Darstellung der Werke ist sauber von der Würdigung und Kritik getrennt. Oft werden Verbindungen zwischen den verschiedenen Klassikern hergestellt. Dass weitaus am häufigsten auf Schleiermacher Bezug genommen wird, dürfte niemanden verwundern. F. Schweitzer weist darauf hin, dass die Rezeption Schleiermachers in den USA von der in Deutschland erheblich divergiert (593 u. ö.). Die Unterschiede der Schleiermacher-Interpretation innerhalb der deutschen PT werden dagegen nicht deutlich.

Als ein Praktologe, der seinen wissenschaftlichen Weg mit Arbeiten zur Kirchengeschichte begann und gern weiter auf diesem Gebiet forscht, habe ich das inhaltsreiche, trotz seines Umfangs gut lesbare Buch mit Freude zur Kenntnis genommen. "Unbedingt erforderlich zur Vorbereitung des Ersten Theologischen Examens", wie auf dem Einband erklärt wird, ist der Inhalt nach meinem Verständnis von PT trotzdem nicht, aber dieses Verständnis ist kontrovers, und zu seiner Klärung trägt die historische Perspektive bei. Allerdings fällt auf, dass die programmatischen Äußerungen der Autoren weniger aus ihren Analysen der Klassiker abgeleitet, als in der Auseinandersetzung mit ihnen oder in einer vom Vorverständnis des Autors geprägten Interpretation begründet sind. Ein Konsens besteht in der Absicht, die Grenzen des ekklesialen Paradigmas zu Gunsten einer Öffnung für Religiosität in der neuzeitlichen Welt zu überwinden, ohne die Verbindung von PT und Kirche aufzugeben. Konkret ist dabei fast nur die Volkskirche in den alten Bundesländern im Blick. Nur Gert Otto, der am stärksten kirchenkritische "Klassiker", dachte schon 1988 daran, "daß heutige DDR-Verhältnisse möglicherweise ein Bild der Lage in der Bundesrepublik von morgen erahnen lassen" (449). Die meisten Autoren rechnen dagegen offenbar weiter mit einer stabilen Volkskirche. Umso wichtiger ist die Horizonterweiterung, die exemplarisch in Richtung USA und französischsprachigen Raum sowie im Blick auf die katholische PT erfolgt.

A. Grözinger referiert in der Würdigung des Grundrisses von D. Rössler eine Kritik Scharfenbergs: "Die durchweg historische Perspektive lasse - so Scharfenberg - eigentlich keinen begründeten Ausblick in die Zukunft zu" (497). Diesen Anspruch erheben historische Arbeiten allerdings nicht, zumal Ausblicke im Sinne von Prognosen zu oft durch die Realität überholt wurden. Der historische Rückblick dient der Identität und damit einer Orientierung, ohne die es keine Zukunft gibt. Es ist darüber zu streiten, ob diese Orientierung so stark auf Schleiermacher zu gründen ist, wie es in der gegenwärtigen deutschen evangelischen PT und in diesem Buch geschieht, oder ob die konstitutive Bedeutung des Schriftprinzips und damit der reformatorischen Tradition unter den Bedingungen neuzeitlicher Kultur maßgeblich bleibt. Nach Schweitzer "kann die Hermeneutik als Leitmethode der ,neuen PT' in den USA angesehen werden" (585; vgl. für den französischsprachigen Raum 620). Eine praktische Hermeneutik als Theorie der Kommunikation des Evangeliums sprengt per se die ekklesiale Verengung, ohne die Verankerung im kirchlichen Leben zu verlieren. Die mit Recht von den Hgg. abgelehnten unsachgemäßen Alternativen zwischen Sache und Person, Wie- und Was-Frage, primär theologischer oder human- und sozialwissenschaftlicher Orientierung werden bei einem solchen Ansatz ebenso obsolet wie das alberne Diktum Wellhausens vom "praktischen Hufbeschlag". Dass die biblische Botschaft auf verschiedenste Weise mit Menschen in unterschiedlichen Situationen zu teilen ist, darum ging es allen Klassikern der PT, über die uns dieses schöne Buch dankenswerterweise informiert.

Gravierende Fehler fand ich nicht, es sei denn, der Hallenser wertet als solchen, dass Friedrich Loofs als Jenaer Lutheraner bezeichnet wird (341). 491 unten fehlt offenbar eine Zeile. 5, Anm.15 lies Friedrich Wilhelms III. S. 112 lies: Auerstedt statt Auerberg und Kemberg statt Kernberg.