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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

343 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Spieker, Manfred

Titel/Untertitel:

Kirche und Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konfliktes.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2001. 260 S. 8. Kart. ¬ 25,20. ISBN 3-506-78622-9.

Rezensent:

Michael Lippold

"Kein kirchliches Ereignis im 20. Jahrhundert wurde von den Medien in Deutschland leidenschaftlicher und ausführlicher beobachtet als der Konflikt der Bischöfe mit Rom um den Beratungsschein." (182) Diesem Ereignis widmet der Autor eine Untersuchung, die den Konflikt nachzuzeichnen und Hintergründe zu erhellen sucht, dabei freilich auf einen pointierten Standpunkt nicht verzichtet. Analysiert wird eine spezifisch katholische Nuance der Abtreibungsproblematik - was freilich aus dem Titel so nicht hervorgeht -, nämlich die Auseinandersetzung um die Beteiligung der katholischen Kirche an der nachweispflichtigen Schwangerschaftskonfliktberatung mit der daraus resultierenden Bescheinigung, die wesentliche Zugangsbedingung zur straflosen Durchführung einer Abtreibung ist. Die Haltung des Autors, die im weiteren Verlauf der Darstellung konsequent durchgehalten wird, kommt bereits im Vorwort deutlich zum Ausdruck, wenn er die katholische Kirche vor die Alternative gestellt sieht: "Will sie Teil der mit dem Papst verbundenen Weltkirche bleiben oder den Weg zu einer nationalen Protestgruppe beschreiten, die eine 150jährige Tradition des deutschen Katholizismus beendet?" (7)

Der erste Hauptteil (15-105) ist den rechtlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland gewidmet und blickt auf die Regelungen bis 1995, die Folgen der Wiedervereinigung für das Abtreibungsstrafrecht und das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz von 1995 zurück. Hervorgehoben wird das einmütige Eintreten katholischer Bischöfe und Laien für strafrechtlichen Schutz des Ungeborenen, verbunden mit deutlicher Kritik an den bestehenden gesetzlichen Regelungen. Die historische Darstellung bleibt fast ausschließlich auf Stellungnahmen der katholischen Kirche beschränkt, was nach Meinung des Vf.s auch darin begründet liegt, dass "... sich die evangelische Kirche in den Auseinandersetzungen um den Paragraphen 218 StGB, verglichen mit der katholischen Kirche, nur selten und wesentlich schwächer äußerte." (40) Die Stellungnahme der evangelischen Kirche in der DDR zur Einführung der Fristenregelung 1972 allerdings wird einfach ignoriert. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 wird vor allem hinsichtlich seiner Entscheidung, der Schwangeren im Konflikt auch in rechtlicher Hinsicht die Letztverantwortung zuzugestehen, scharfer Kritik unterzogen, weshalb auch dem 218 in seiner aktuellen Fassung durchweg negative Aspekte abgewonnen werden. "Das Beratungskonzept schützt nicht mehr das Leben des einzelnen Kindes. Es sanktioniert vielmehr die Tötungsbefugnis der Schwangeren." (93) Im gleichen Duktus wird der den Kern der Untersuchung darstellende Beratungsschein fortwährend als "Tötungslizenz" (70, 120, 192 u. ö.) apostrophiert. Mit dem verfassungsgerichtlichen Paradigmenwechsel war indessen auch ein Umbruch in der katholischen Position zur gesetzlichen Regelung zu verzeichnen, der dem Vf. Anlass gibt, die zweifellos vorhandenen Widersprüche in Stellungnahmen vor und nach dem Urteil detailliert herauszuarbeiten; diese beziehen sich sowohl auf Verwendung und Inhalt des Begriffs der ,Fristenregelung' wie auf die Wertung des katholischen Beratungsscheins.

Kapitel II ist den innerkatholischen Auseinandersetzungen um die Einordnung des Beratungsscheins gewidmet und zeichnet in einer akribischen Darstellung Ursachen und Verlauf dieses Konfliktes nach, der zeitweilig den Charakter einer Zerreißprobe annahm. Die dem Vf. durchaus bewusste Minderheitensituation seines Standpunktes (11) führt zu einer parteiischen Darstellung, die im Wesentlichen auf eine Person fixiert ist: den damaligen Bischof Lehmann, der bis zuletzt das Engagement katholischer Beratungsstellen im staatlichen System verteidigte. Die auf eine Kurzformel gebrachte Essenz, in vielfältigen Nuancen wiederholt, lautet: "Bischof Lehmann als Verteidiger des staatlichen Beratungskonzepts gegen den Papst." (162) Abgesehen davon, dass dies eine Überschätzung des Einflusses von Bischof Lehmann darstellt - schließlich sprach sich auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken einhellig für einen Verbleib im staatlichen Beratungssystem aus - ist die Chronik in diesem Teil von persönlichen Angriffen durchsetzt. So habe er den Papstbrief, der den Ausstieg aus der Konfliktberatung verordnete, in zentralen Aussagen "ignorieren bzw. verbiegen" (166) müssen, habe er die Bischofskonferenz "in eine ausweglose Lage manövriert" (171).

Aber auch das Zentralkommitee der deutschen Katholiken, "offen für antirömische Stimmungen" (192), habe das Beratungskonzept des deutschen Abtreibungsrechts verteidigt und "wurde zu einem geradezu aggressiven Kritiker des päpstlichen Verlangens, auf den Beratungsschein zu verzichten." (191) Die aus dem von Rom erzwungenen Verzicht auf die kirchliche Konfliktberatung resultierende Gründung des Vereins katholischer Laien "Donum Vitae", vom Zentralkommitee mit rund 85 % der Stimmen gebilligt, wird ebenfalls harscher Kritik unterzogen, die in der diffamierenden Feststellung gipfelt: ",Donum Vitae' wird damit zum donum mortis - für die Einheit des deutschen Laienkatholizismus ebenso wie für die ungeborenen Kinder ..." (204).

Kapitel III, das sich mit Ursachen und Auswirkungen des Konflikts befasst, untersucht zunächst die Bedeutung des Beratungsscheins aus verschiedenen Perspektiven. Stutzig macht, dass der Beratungsschein unter Gebrauch eines erst 1995 in der Enzyklika "Evangelium vitae" eingeführten Kriteriums als ,Mitwirkung zum Bösen' klassifiziert werden konnte; neben den üblichen Kriterien von Zweck und Absicht der Handlung, die beide an sich nicht negativ zu werten seien, sei der ,konkrete Rahmen der Rechtsordnung' zu berücksichtigen; hier wurde wohl nicht zu Unrecht eine "lex Germaniae" vermutet. Als Lösungsperspektiven bietet der Vf. die Distanzierung von ,Donum Vitae' und die Rückkehr in eine papstgetreue Haltung sowie den Anschluss aller Katholiken an seine Einordnung des Beratungsscheins als "Lizenz zur Abtreibung" (256) an. Diese streitbare Studie ist ein Dokument der Unversöhnlichkeit und der verhärteten Fronten im Abtreibungsstreit, die mittlerweile auch den deutschen Katholizismus durchziehen. Die menschliche Perspektive des Schwangerschaftskonflikts wird ebensowenig gewürdigt wie die Stellungnahmen katholischer Beraterinnen in ihrem zutiefst christlichen Engagement um Schwangere in Konflikten, die nahezu unberücksichtigt bleiben. Eine wirkliche Alternative indes bleibt der Autor schuldig, wie auch seine ,Lösungsvorschläge' wohl kaum der Verständigung werden dienen können. Nicht zuletzt gibt dieser Konflikt angesichts der Rückschläge in den ökumenischen Bemühungen sehr zu denken. Warum ist es so schwer anzuerkennen, was Bischof Lettmann in einem Hirtenbrief schrieb, "... daß es bei gleicher Gläubigkeit, gleicher Kirchlichkeit und gleicher Gewissenhaftigkeit zu unterschiedlichen Wegen kommen kann"? (162)