Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2002

Spalte:

339–343

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nethöfel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Ethik zwischen Medien und Mächten. Theologische Orientierung im Übergang zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. 283 S. 8. Kart. ¬ 24,90. ISBN 3-7887-1734-3.

Rezensent:

Ralf Hoburg

Individuen, Gesellschaften und auch Institutionen wie die Kirchen stehen gleichermaßen vor der Aufgabe, im 21. Jh. neue Orientierungsmuster für die Lebensbewältigung zu bieten. Der Wahrnehmung der Krise traditioneller Orientierungen korrespondiert aus der Sicht der Institutionen sowohl im gesellschaftlichen wie im ökonomischen Sektor ein Prozess der eigenen Transformation, der letztlich zu einer neuen Positionierung sowohl des Einzelnen wie der gesellschaftlichen Institutionen führt. Von da aus gesehen ist es wohl legitim, wenn die vorliegende Untersuchung von einer "Übergangsgesellschaft" (201) spricht.

Wie lassen sich die christlichen Orientierungsmuster in die globale Suche des Menschen nach Sinn und Vergewisserung am Anfang eines neuen Jahrhunderts einordnen? Wo könnte das Profil von Kirche und Theologie in Zukunft liegen? Der Autor des vorliegenden Bandes unternimmt den lohnenden Versuch, die Faktoren des gesellschaftlichen wie auch theologischen Transformationsprozesses zu beschreiben und schreitet den gedanklichen Weg von der Hermeneutik bis zur Orientierung an der globaler werdenden Wirtschaft und den Orientierungsmustern der Medien bis zum Internet hin ab. Verschiedene Orientierungsmuster zwischen Moderne und der biblischen Denkwelt kommen dabei in den Blick. Dabei weiß sich N. getragen von der Erkenntnis, dass "die Konstante im Wandel von der Antike zur Neuzeit, von der Moderne zur Postmoderne die Funktion des neuen Mediums im jeweiligen Transformationsprozeß war" (36). Am Ende steht ein theologischer Entwurf, der in der Dynamik der lebensbezogenen Botschaft für das Individuum konkrete sozialethische und normative Orientierungen enthält, aber gleichzeitig auch viele Fragen des heute nach Orientierung fragenden Menschen in der Schwebe hält. Bei alledem setzt N. seine früheren Überlegungen zur Hermeneutik fort.

Der Einsatzpunkt liegt für N. in der hermeneutisch zu verankernden Suche des Individuums nach Lebenssinn. Von der Analyse der Gegenwart aus, die für N. immer zugleich auch die Gegebenheit der Informationsgesellschaft impliziert, geht das erste Kapitel den Rissen in der modernen, durch Aufklärung und Wertewandel geformten Wirklichkeitswahrnehmung nach, die N. mit den Begriffen "Erfahrungsverluste", "Gegenwartsschrumpfung" und "Sinnanspruchsinflation" kennzeichnet (22). Die hermeneutische Gretchenfrage des Menschen liegt für ihn darin, den "Sinn" des Lebens zu suchen und dann auch zu finden, wobei N. mit Odo Marquardt die Identifikation von "Sinn" und "Glück" als phänomenologisches Faktum beschreibt. Die normativen Instanzen sieht N. dabei in der Geschichte und in der Naturwissenschaft, die in ihrer Trennung von Welt verstehen und Welt erklären (34) im Zuge der Aufklärung die Beantwortung der Sinnfrage wissenschaftstheoretisch spalteten. Im Ganzen definiert er die Sinnfrage als ein modernes Phänomen, und der Autor verweist an dieser Stelle auf Friedrich Nietzsche, für den der Sinn auf das "radikale Engagement auf das Selbst" verweist (38).

An zentraler Stelle steht in der Publikation von N. die Orientierungsleistung, die durch verschiedene Orientierungssysteme jeweils vom Menschen selbst in Gang gesetzt wird. Aus der Sicht des Protestantismus kommt der sozialethischen Orientierung eine zentrale Funktion zu. Ihre Aufgabe beschreibt N. mit Ernst Troeltsch als "Umgestaltung des sozialen Lebens durch christliche Selbstorientierung" (44). Im Verlauf des 20. Jh.s diagnostiziert der Autor indes ein Nachlassen der sozialethischen Prägekraft des Protestantismus und sehr deutlich spricht er davon, dass die Sozialethik als eine Institutionentheorie im Rahmen von Säkularisierungsprozessen an "Orientierungsgrenzen" stößt (48). Dennoch misst N. der Sozialethik eine Schlüsselfunktion bei, zumal wenn sie sich auf ihren Kern, die Welt aus der Perspektive der Christusdeutung zu verstehen, konzentriert. Hier bezieht N. in klassischer Form die Position eines Hermeneutikers, der die Aufgabe der Hermeneutik darin sieht, die christliche Weltdeutung als "Selbstorientierung" zu einer gesellschaftlichen Orientierung werden zu lassen und sie dementsprechend in die Welt hinein zu kommunizieren (60). Aus dieser Vermittlungsaufgabe resultiert letztlich dann der Umgang der Sozialethik als Orientierungsrahmen mit den Phänomenen von Konflikt und Konsens sowie die Aufgabe, auf neuen Themenfeldern, zu denen Informationstechnik wie Gentechnologie zählen, "Orientierung" zu schaffen. Letztlich liegt für N. die zukunftsträchtige Chance der Sozialethik als Orientierungsmuster in ihrer moderativen Funktion für die diversen gesellschaftlichen Gruppierungen.

Ein weiteres, für Mensch und Gesellschaft Orientierung gebendes Muster reflektiert N. mit der Wirtschaftsethik, die unter den heutigen Wissensbedingungen als eigenes ethisches Feld gefordert ist (74). Auch hier schreitet der Autor den Weg der Transformation ab, indem er den Bogen von den biblischen Traditionen bis zur Entwicklung der Marktwirtschaft spannt und also nach eigenen Worten nach dem "Matruschka-Prinzip" verfährt. Die Weite der Denkbemühung macht es dann für den Leser/die Leserin nicht immer ganz einfach, den roten Faden des Buches, d. h. der "Orientierungsleistung" von Theologie, im Blick zu behalten. Einleuchtend ist die Metapher von der "Überfluß-Ökonomie" der Liebe Gottes, zu der N. in der Auseinandersetzung mit der biblischen Theologie kommt. Sie drückt sich im Leben und Tun Jesu von Nazareth konkret aus. Und N. kommt zu dem Schluss: "Diese Ökonomie orientiert, sie stimmt ein auf Gott, den Inbegriff schöpferischer Fülle ..." (88). Sie ist geradezu ein Gegenentwurf und hat als "alternative Ökonomie" (90) den Anspruch, den Menschen nicht auf die Welt, sondern auf die Schöpfung hin zu orientieren. N. interessiert bei seiner Analyse über die ökonomische Transformation der Umgang mit der Ware Geld, wobei er die materialistische Wende zwischen dem Mittelalter, der Reformation und der Neuzeit näher untersucht. Erst in der Neuzeit bildet sich ein für alles Weitere entscheidendes Orientierungsmuster aus, nämlich das Prinzip: "Quid pro quo", bzw. die Personifizierung von Sachen und die Verdinglichung von Personen (110). Das im Tausch festgeschriebene Verhältnis von Ware und Geld repräsentiert seither das dominante Orientierungsmuster, das quasi-religiösen Charakter einnimmt. Diesen religiösen Zug der Ökonomie findet N. bei Karl Marx angelegt.

Ein letzter Streifzug unter dem Aspekt ökonomischer Orientierung führt den Autor dann zur Reflexion globaler werdender ökonomischer Vorgänge, die er stets mit der protestantischen Brille einer letztlich sozialethisch zu begründenden Orientierung (123) in den Blick nimmt. So verwundert es nicht, wenn der Versuch gewagt wird, eine Orientierung darin zu sehen, den Markt und seine Gesetze zu entzaubern und das Marktgeschehen dann letztlich doch wieder in eine theologische Ordnungsvorstellung münden zu lassen. Der Immanenz des Marktes wird N. dann doch irgendwie nicht gerecht, auch wenn sich der theologisch geprägte Leser an dieser Stelle dem Bann der Argumentation nicht ganz entziehen kann.

Aus der Sicht des Rez. liegen an dieser Stelle die dichtesten und interessantesten Passagen des Buches, die einerseits den Zwang des Marktes beschreiben und andererseits den Wunsch zeigen, sich dem auch in einer ethischen Absicht wieder entziehen zu wollen (124 ff). Dialektisch kommt N. dann zu dem Schluss, dass Christen am Markt scheitern, aber gleichzeitig auf ein christliches Orientierungswissen vertrauen.

Der Kern der Wirtschaftsethik, die N. als ein zukunftsweisendes Orientierungsmuster entfaltet, bleibt mir dann aber zu dürftig, wenn er auf eine "Feldstruktur der Gerechtigkeit" (132) hinausläuft und der Autor am Ende doch wieder in die Deskription der sozialen Problemfelder abdriftet. Hier hätte ich mir aus der sehr dezidierten Analyse christlicher Tradition eine klare Leitlinie - wenn nicht gar ein klareres "Nein" im Sinne Barths - schöpfungstheologischer Aspekte erhofft, die über blanke Appelle hinausgehen wie diesen: "Wir brauchen zusätzlich neue ethische, wenn nicht religiöse Orientierungsmodelle unseres Handelns" (144). Stattdessen bleiben Fragen offen nach den Grenzen und den politischen Steuerungsmöglichkeiten im Rahmen der Globalisierung, nach Regelmechanismen und nach den "schwarzen Löchern" im Orientierungsmuster der Ökonomie.

Den dritten Bereich orientierender Wertmaßstäbe findet N. in den Medien. Hier ist der Autor ganz bei seiner Sache, um dann zu einem letzten Orientierungsmuster zu finden, dem Cyberspace. Statt die alte Trennung zwischen Religion und Technik, wie sie etwa in der Tradition Heideggers lag, fortzuführen, geht es dem Autor eher darum, Zusammenhänge zu verdeutlichen, die er in den hermeneutischen Erschließungsfunktionen beider Bereiche findet. Diese Betrachtung gibt den Blick auf die jeweilig ergänzende Perspektive frei. So kommt N. dann zu der apodiktischen Feststellung: "Technik ohne Religion ist blind, Religion ohne Technik leer" (163). Im Grunde genommen plädiert der Autor dafür, die Trias Ästhetik, Technik und Religion in ganz neuer Weise zusammen zu sehen. Auf diese Weise wird deren Orientierungsfunktion wieder sichtbarer, indem Faktoren wie Erinnerung und Inszenierung mehr in den Vordergrund gerückt werden. Von der Ästhetik aus öffnet sich unter den Konstruktionsbedingungen medialer Durchdringung von Wirklichkeit der Zugang zu sozialethischen und praktisch-theologischen Problemen mit ihren Chancen kirchlicher Kommunikation im Medienzeitalter. Von der Ästhetik aus kann man fragen, inwiefern die virtuelle Realität unser "Bewußtsein von Wirklichkeit neu bestimmt" (195). N. postuliert, dass Ästhetik und Religion beide neue Wahrnehmungsräume eröffnen, und so befindet sich der Autor trotz seines ganz andersartigen Ansatzes und anderer Bedingungen in einer gewissen Nähe etwa zu Überlegungen von Albrecht Grözinger, wobei N.s Interesse immer der Verbindung zur Sozial- und Wirtschaftsethik gilt.

Entscheidend ist für N. in seinem ganzen Buch die Frage, inwieweit die Theologie respektive die Hermeneutik einen Beitrag zur Überwindung traditioneller Aporien und dem Aufbau neuer Orientierung leisten kann. Die Aufgabe sieht er darin, dass die Theologie durch ihre Syntax von Sinndeutung kreative Prozesse neu verstehen lernt (222). Wenn ich N. an dieser Stelle richtig interpretiere, dann verfügt die Theologie über eine immanente, d. h. in sich selbst begründete Anpassungsdynamik an unterschiedliche Kontexte, deren Kern sich in dem Satz Luthers findet: "Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott".

Von diesem Kriterium der Unterscheidung, wie es Gerhard Ebeling einmal formuliert hat, stößt die Theologie an jedem sozialethischen Thema der Gegenwart auf die Ambivalenz der Moderne (Horkheimer/Adorno) oder, so beschreibt es N., erkennt die Gleichzeitigkeit der "Leistungsfähigkeit und Blindheit" (226) der Systemteile der Gesellschaft. Etwa in Bezug auf die Wirtschaft heißt das, dass die Blindheit des Marktes nur durch eine Sensibilisierung für die anderen Teilsysteme überwunden werden kann, was dann ein Ziel der Wirtschaftsethik sein muss. Von theologischer Seite aus muss sich die Kirche hier neue Lernfelder erschließen, um Orientierung im Rahmen eines "Transformationsmanagements" zu betreiben (234). Eines dieser Felder sieht N. etwa auf dem Gebiet des Wertemanagements, wie es in der Unternehmensethik begegnet. Theologische Orientierung gibt den Blick frei, wie überhaupt heute Verantwortung wahrgenommen werden kann. Ein anderes Feld ist die Ethik der Medien, und es ist die Aufgabe der Theologie, sich durch Medienkonstruktionen durchzuarbeiten und ebenfalls nach deren Blindheit und Leistungsfähigkeit zu fragen und die Sehnsucht der Gegenwart nach Erlösung in künstlichen Welten zu dechiffrieren. Einen allerletzten Blick richtet N. dann wiederum auf die Theologie. An sie richtet er den Appell, die Antworten auf die neuen Themenfelder dort zu suchen, wo sie vermutlich die wenigsten erwarten: nicht oben, nicht in der Tiefe der Realität, sondern schlicht nebenan. Inwieweit dazu dann die traditionelle Universitätstheologie überhaupt noch etwas austrägt, ist mir inzwischen die eigentliche Krisis meiner theologischen Existenz.

Deutlich wird in dem sehr kenntnisreich geschriebenen Buch in jedem Fall, dass der Protestantismus vermutlich nur dann eine orientierende Funktion in der Zukunft haben kann, wenn er in eine kritische Analyse der eigenen Traditionsmuster einsteigt, was letztlich einer Leistungsbilanz des Protestantismus als kulturgestaltender Kraft gleichkäme, und gleichzeitig zu einer dogmatischen Transformation bereit ist.