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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

336–339

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J.

Titel/Untertitel:

Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999. 360 S. 8 = UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher, 2107. Kart. ¬ 18,90. ISBN 3-8252-2107-5 u. 3-525-03287-0.

Rezensent:

Michael Moxter

Es darf als ein sympathisches Augenzwinkern verstanden werden, dass Ulrich H. J. Körtner sein "in Grundlagen und ausgewählte Themenfelder heutiger evangelischer Sozialethik" (11) einführendes Lehrbuch durch "Benutzerhinweise" einleitet. Denn die "Erarbeitung von Examensstoff" (22) hat nur begrenzt mit dem zu tun, was man sich unter dem Lesen eines Buches allgemein vorstellt. Doch das mit diversen Literaturverzeichnissen, drei Registern und einem Glossar ausgestattete Buch ist durchaus nicht nur ein Hilfsmittel für das Studium, sondern ein, in Gestalt einer Einführung auftretender, eigener Entwurf einer evangelischen Ethik. Es verdient also durchaus nicht nur Benutzer, sondern Leser - gewiss auch kritische.

1. K. will unter den Leitbegriffen der Verantwortung und der Menschenrechte formal eine integrative Ethik erproben und dabei material einen rechtfertigungstheologischen Ansatz entfalten. Der von H. Krämer entliehene Begriff der integrativen Ethik zielt bei K. sowohl auf eine Verbindung von Güter-, Pflichten- und Tugendlehre, wie auch von kritischem Wächteramt und gestaltender Ordnung, von protestantischer Bekenntnisethik und außenperspektivisch präsentem gesellschaftlichem Diskurs. Methodisch geht es um komplementäre Zuordnung von Sollens- und Strebensethik, von Deontologie und Teleologie. Insofern der Protestantismus traditionell meist an Kant, die katholische Ethik dagegen an der scholastischen Aristotelesrezeption ausgerichtet bleibt, präsentiert sich K.s Kombination von Sollen und Sein auch als ökumenisch integrativ. Da andererseits Schleiermacher im Protestantismus die Sonderstellung einer nachkantischen Rehabilitierung der Teleologie einnimmt und da sein "Ansatz von Karl Barth ... aufgegriffen" wurde (19), ist auch an innerprotestantische Integration sonst gegenläufiger Theorieansätze gedacht. Dass der ethische Sinn der Rechtfertigungslehre "den roten Faden sowohl im Grundlagenteil als auch im praktischen Teil dieses Buches" bildet, bedeutet - zunächst wiederum formal betrachtet - eine weitere Verschränkung, nämlich der systematischen Teildisziplinen Dogmatik und Ethik. (Entfaltet vor allem im vierten Kapitel: "Rechtfertigung und Verantwortung. Der Ansatz einer theologischen Verantwortungsethik" und im fünften Kapitel: "Rechtfertigung und Versöhnung. Die dogmatischen Voraussetzungen theologischer Ethik", die neben dem Rechtfertigungs- und Stellvertretungsbegriff auch die Geschichte der christlichen Versöhnungslehre und ihrer neuzeitlichen Kritik, sowie die Rehabilitierung des Opferbegriffs und so manches Stück paulinischer Theologie heranziehen.) Damit ist nun allerdings die Anzahl der zur Integration anstehenden Seiten merklich erhöht. Nimmt man noch den - begrüßenswerten - Wunsch hinzu, zur "Schulung der ethischen Wahrnehmungsfähigkeit" (77) beizutragen, gar eine "Theorie ethischer Wahrnehmung", "eine ethische Erkenntnistheorie" (86) ins Spiel zu bringen, so ist eine stattliche Anzahl von Bällen gleichzeitig in die Luft gebracht. Ob dieses Jonglierstück gelingen kann, darf gefragt werden. Der Wille zur vermittelnden Integration ist wohl ein Ergebnis einer langen begründungstheoretischen Debatte über die heute mögliche Form einer Ethik, deren Abklingen die Folge nach sich zieht, dass man keinem einzelnen Modell traut und sie darum alle zusammenzubinden sucht.

2. Vor diesem Hintergrund ist das dritte Kapitel ("Ethik im Widerstreit") interessant, geht es in ihm doch um einen verantwortungsvollen Umgang mit "konfligierenden Ethiken". Hier wird "das große Ziel der europäischen Aufklärung, ein universal gültiges Ethos [!?] zu formulieren", als "gescheitert[es]" Projekt (80) und als kultureller Dezisionismus beschrieben. An die "Vorstellung eines universalen Ethos, genauer gesagt einer transzendentalen Begründung von Ethik, die universale Geltung beanspruchen kann", sei theologisch nicht anzuknüpfen (95). Begründet wird diese These in einer exemplarischen Kritik des Küngschen Projekts Weltethos, dessen "Gebot ,Du sollst Gutes tun' ... so abstrakt wie banal" sei (94). Das sind deutliche Worte, deren Überzeugungskraft freilich noch nichts Signifikantes über Stärken und Schwächen der kantischen Ethik und ihrer zeitgenössischen Transformationen ergibt. Ebenso klar wird eine pragmatische Folgenabwägung als Ausdruck bloß technokratischer Rationalität abgelehnt (82), sowie Bonhoeffers autoritäre Ethik, die bloß dekretierend bleibe und ins christozentrisch Appellative gerate (89). Schweitzer scheitert an der Verwechslung von Sollen und Wollen (72 ff.; 90), Jonas dagegen an Maßlosigkeit des generellen Handlungszieles (89 ff.). Was dann aber bleibt, ist Ethik als "offene Suchbewegung", an der die "dem Glauben gebotene Weltverantwortung ... durch solidarische Beteiligung am Prozeß der Antwortsuche" (95) teilhat. K. kann die kritische Rückfrage, ob dieses Fazit den Küngschen Abstraktionsgrad unterbietet, hintanstellen, da er als zentralen theologischen Gesichtspunkt "die Frage nach dem ethischen Subjekt" (85) einbringt und so die Bedeutung der Rechtfertigungslehre durch die Kombination von Handlungsermutigung und Erwartungsreduktion (91) spezifiziert. Ob das Subjekt seine Handlungsziele auf ein menschliches Maß reduzieren kann oder ob es in soteriologischer Überhöhung ethischer Ansprüche die Macht der Sünde nur vergrößert, das entscheidet sich am Rechtfertigungsglauben und insbesondere an der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium: "Weder die Bewahrung der Schöpfung noch die Rettung der Menschheit sind eine theologisch vertretbare Forderung" (91). Deshalb bestehe "eine grundlegende Affinität" zwischen einer philosophischen Verantwortungsethik und der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre (98). Deren Thema sei nämlich die Wiedergewinnung eines ethischen Subjektes bzw. einer moralfähigen Subjektivität, deren Freiheit erst "im Rechtfertigungsgeschehen als einem Sprachgeschehen neu konstituiert" wird, mit dem der "Ruf zu bewußter Verantwortungsübernahme verbunden" ist (104). Mit der Absage an jeden ethischen Rigorismus verknüpft sich so die Bereitschaft, "daß wir einander im ethischen Konflikt gelten lassen dürfen, auch wenn ein Konsens nicht zu erzielen ist" (108).

Die Rechtfertigungslehre markiert daher vor allem den transmoralischen Gehalt, der als Grund aller christlichen Ethik erscheint. Die Eigenart des evangelischen Glaubens und seine handlungsleitende Gewissheiten werden in diesen Bestimmungen zutreffend beschrieben. Aber die gründliche Darlegung der "dogmatischen Voraussetzungen theologischer Ethik" (5. Kapitel-Untertitel) führt schließlich doch in ein Asyl der Unbestimmtheit, etwa unter dem Motto: Glaube an den Dich rechtfertigenden Gott und dann tue, was Du verantworten kannst, oder in K.s eigener Formulierung: "Mit Luther gesprochen lautet die Handlungsmaxime des im Evangelium begründeten Mutes: ,Pecca fortiter sed crede fortius'" (106). Offenbar muss für die Absage an normativ gehaltvolle Kriterien, z. B. für die rasche Verabschiedung eines kantischen Regelbegriffs, ein hoher Preis gezahlt werden. Sollte aus der Feststellung: "Die Kirche hat nicht Moral zu predigen, und sei es auch die Moral der Versöhnung, sondern die Versöhnungsbotschaft des Evangeliums, nämlich das Wort vom Kreuz" (135), nicht auch die Freiheit eines Christenmenschen folgen können, wenigstens ein klares ethisches Argument aufzubauen?

3. Die herausragende Stellung des Verantwortungsbegriffs innerhalb der Grundlegung einer theologischen Ethik legt die Frage nahe, wie sich K.s theologische Ethik zu T. Rendtorffs ethischer Theologie verhält. Dass Ethik Theorie der Lebensführung sei, wird zunächst aus der Perspektive des Sozialethikers mit der Bemerkung abgelehnt, die drängendsten Probleme seien sozialer Natur und daher nicht auf Fragen der individuellen Lebensführung zu reduzieren (13), auch unterschätze die Kategorie der Lebensführung, dass die Kontingenzen des faktischen Lebensverlaufes nur zum Teil "Resultat bewußter Lebensführung" sei (38). Die Orientierung an der Kategorie des Lebens verleite Rendtorff dazu, Ethik mit Fundamentaltheologie zusammenfallen zu lassen und so alle theologischen Themen auszuklammern, die sich gegen ihre ethische Funktionalisierung sperren (36). Die dogmatisch geleitete Sozialethik K.s weist den Vorwurf eines Rückfalls in ein vorneuzeitliches Theoriemodell mit der Gegenpolemik zurück, Rendtorffs Beschwörung eines sog. ethischen Zeitalters der Theologie verlängere nur die Moralisierung der Religion: Die Eigenart des christlichen Glaubens sei gerade nicht über die Moral, sondern nur über die Differenz von Moral und Religion einsichtig zu machen (37). Statt schöpfungstheologischer Rekonstruktion des Gegebenseins von Leben also: "ethische[] Applikation der Rechtfertigungslehre", wofür der "theologische Code ,Gesetz/Evangelium'" eine zentrale Rolle spiele. (Man lese die Ausführungen Rendtorffs über den Zusammenhang von Rechtfertigungsglauben und Glückserwartungsbegrenzung einmal nach, um die Einschlägigkeit der hier identifizierten Sollbruchstelle zu überprüfen.) Alles in allem sei Ethik nicht allgemeine Theorie des Lebens, sondern "Theorie menschlichen Handelns, seiner Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen" (39). Hinzu tritt im materialen Teil noch der Vorwurf, Rendtorff ontologisiere das christliche Freiheitsverständnis und löse es von der konkreten Erfahrung wie von der neutestamentlich bezeugten Offenbarung ab (165; cf. auch noch 102 f.). Übereinstimmung mit Rendtorff ergibt sich in der theologischen Kritik eines strikt individualistisch bzw. solipsistisch begründeten Freiheitsrechtes. Dass K. erneut eine christologische Begründung der Menschenrechte ins Auge fasst, rechtfertigt er entsprechend mit der begrenzten Reichweite des Anerkennungsbegriffs: Der natürliche Widerstand gegen eine wechselseitige Anerkennung, also das Phänomen der Sünde, mache "zumindest auf der motivationalen Ebene eine dezidiert theologische Argumentation unverzichtbar" (166), wie der christliche Glaube die menschliche Freiheit denn auch unter dem Vorsprung der Rechtfertigungsgnade denke, also im Horizont eines prinzipiell "asymmetrischen Anerkennungsverhältnis[ses]" (ebd.).

4. Die materialen Teile (Kap. 6-12) behandeln Rechts-, Friedens-, Bioethik, sowie Sexualität, Naturschutz, Wirtschaft und den "ethischen Sinn des Sonntags". Hier scheinen mir vor allem die Stärken einer einführenden Darstellung zu liegen. Von besonderer Bedeutung sind die Darlegungen zum Verhältnis von "Rechtfertigung und Recht", in denen sich die grundlegende Stellung der Rechtfertigungslehre und die in späteren Kapiteln applizierte Kategorie der Menschenwürde vermitteln. Zu Recht betont K., dass die Beziehung von Menschenrechtskategorie und christlicher Theologie nicht im Sinne einer einlinigen Säkularisierung theologischer Überzeugungen rekonstruiert werden kann, weder historisch noch systematisch (151). Gleichwohl bestehe in der reformatorischen Theologie ein innerer Zusammenhang, da "die im Glauben erfahrene Heilsgewißheit nichts anderes" sei "als die subjektive Erfahrung der eigenen Würde" (147 f.). Die Erbsündenlehre behandele den "Verlust aller Rechte des Menschen vor Gott", die Rechtfertigungslehre dagegen "die Wiedergewinnung der verlorenen Würde" (148). Da K. die Menschenrechte als vorrechtliche, sittliche Postulate begreift, tritt ein "vom Evangelium her wiedergewonnener Begriff des Natürlichen" (155) an die funktionale Stelle einer naturrechtlichen Begründung. Um zwischen universalistischer Geltung und kultureller Beliebigkeit hindurchzukommen, dynamisiert K. die Kategorie, die der "fortgesetzten Interpretation und Aneignung" (156) bedürftig sei. An ihr partizipiert auch die Theologie des Rechts, die die begrifflichen Unterscheidungen von Recht und Natur, von Recht und Moral erweitert und zwar im Lichte der Differenz von Gesetz und Evangelium. Die rechtfertigungstheologische Interpretation versteht sich als "Rechtsschöpfung" im Lichte des Evangeliums (160), die sich verändernd in den Diskurs einbringt. Freilich kann die Theologie dabei nicht mehr erreichen "als eine gewisse Plausibilität" (161), die den begründungsoffenen (Huber, Vögele) Begriff der Menschenrechte zwar keine universale Begründung, aber doch partikulare Zustimmung verschafft. Es ergibt sich also, dass die Menschenrechte "christlicherseits angeeignet werden können", aber auch, dass die spezifische Asymmetrie der Anerkennung (s.o.) als Differenz von Recht und Gerechtigkeit einen kritischen Beitrag der Christen ermöglichen.

5. Die Vorzüge einer gut verständlichen Einleitung verbinden sich (auf knappem Raum vielleicht nicht zu vermeiden) mit Darstellungsknappheit, auf die man sich in der Examensvorbereitung besser nicht verlässt. Dass die von Martin Buber einsichtig gemachte Gleichursprünglichkeit von Ich und Du "in der Philosophie des Anderen fortgeführt [wird], die E. Lévinas ausgearbeitet hat" (40 f.), ist irreführend, dass der Kommunitarismus eine philosophische Richtung sei, "welche die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft und die Identifikation mit ihrer Geschichte und ihren Werten nicht nur für menschliches Leben und Handeln, sondern auch für die ethische Theorie- und Urteilsbildung für grundlegend hält" (57), bleibt ohne Hinweis auf die Kategorie des Liberalismus unzulänglich. Was man über die Diskursethik gelernt haben mag, wenn man den einen Satz liest: "Die Idee des herrschaftsfreien Dialogs unterstellt, dass es möglich sei, solange über ein ethisches Problem zu diskutieren, bis sich ein allgemein einsichtiger, vernünftiger Konsens über die Verfahrensregeln der Urteilsbildung wie über die anstehende Problemlösung erzielen läßt" (108), bleibt ein Rätsel. Die zentrale Hegelsche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft wird nicht auf dessen Rechtsphilosophie zurückgeführt, sondern durch ein Troeltschzitat belegt, das keinen Zusammenhang mit dem an anderer Stelle (56) beiläufig erwähnten "System der Bedürfnisse" erkennen lässt. Dafür erfährt man über Hegel nur: "Namentlich bei G. W. F. Hegel ist Versöhnung zu einem religionsphilosophischen Schlüsselbegriff geworden, welcher in kosmischer Weite die Überwindung von Entfremdung bzw. die dialektische Aufhebung vermeintlich unversöhnlicher Gegensätze bezeichnet" (122). Es bleibt zu hoffen, dass K.s anregende Darstellung die Lust zu einem gründlichen Ethikstudium weckt. Als Kompensationsmittel für im Studium Versäumtes ist das Buch m. E. nicht geeignet.