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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

331–333

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wolf, Kurt

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophie in Frankreich. Der "ganz Andere" und die personale Struktur der Welt.

Verlag:

München: Fink 1999. 216 S. 8. Kart. ¬ 26,40. ISBN: 3-7705-3400-X.

Rezensent:

Hans Waldenfels

Der Einfluss der französischen Religionsphilosophie nimmt in Deutschland vor allem durch eine wachsende Beschäftigung mit Emmanuel Lévinas zu. Wie sich zeigt, steht er selbst in einer Reihe bedeutender und anregender französischer Denker, die der Religionsphilosophie ihres Landes dadurch ein eigenes Profil geben, dass bei ihnen ein korrigierender Denkansatz in Erscheinung tritt. Er ist im Untertitel des Buches von Wolf angesagt: die Neuorientierung vom Anderen und letztendlich vom "ganz Anderen" her, die eine Korrektur in der Sicht der Personalstruktur der Welt zur Folge hat. W. möchte in seinem Buch die wichtigsten Vertreter der französischen Religionsphilosophie nach dem 2. Weltkrieg vorstellen.

Doch zuvor erläutert er in einer längeren Einleitung die These. Entscheidend ist die Option zu Gunsten des Vorrangs des Anderen. W. sieht darin "ein Wiederanknüpfen an die große Tradition Frankreichs, argumentierende ,Vernunft' - ,esprit de géométrie' - und sensibles ,Herz' (cur) - ,esprit de finesse' - miteinander zu verbinden zu suchen (wofür ,idealtypisch' in einer Art permanenter Zwiesprache die Namen Descartes und Pascal stehen)" (12). Freilich darf dann nicht übersehen werden, dass der Ansatz beim Anderen zugleich eine Überwindung der cartesianischen Egozentrik mit sich bringt. W. differenziert dann auch zwischen der Philosophie des Anderen und der Dialogphilosophie bzw. dem Personalismus; "denn der Andere ist an erster Stelle der ,ganz Andere' (nicht lediglich ein ,anderes Ich'), der mir mein Sein gibt" (15): Wo der Andere als seinsgebend verstanden wird, eröffnet sich der Zugang zur Erfahrung der Liebe, zeigt sich das Antlitz des "ganz anderen" Gottes. Die "Epiphanie des Antlitzes" (Lévinas) aber ereignet sich im "Leib der Welt" (Merleau-Ponty). Folglich findet die Leibhaftigkeit neue Beachtung.

Methodisch verschiebt sich die religionsphilosophische Betrachtungsweise von der natürlichen Theologie mit ihren "Gottesbeweisen" zu einer "Betrachtungsweise, die die konkreten historischen Erscheinungen der Religion mitberücksichtigt und in einer ,Poetik' des Religiösen (Ricur) über den sprachlichen Ausdruck der Annäherung an das Absolute im Bekenntnis oder in der tätigen Zeugenschaft (Orthopraxie) zu einer existentiellen Verwirklichung (in einer Verbindung von Text- und Daseinshermeneutik) anleitet" (19): Aus Gottesbeweisen werden so "Gotteshinweise". Ein Fragepunkt bleibt die Nähe zu jüdischem und christlichem Denken. Zu beachten ist der Methodenpluralismus, der sich aus den verschiedenen konkreten Ausgangspunkten ergibt (vgl. 21 f.). Hier haben die Leiblichkeit und die Sprachlichkeit, ein neuer Sinn für die Rezeptivität bzw. die Bereitschaft, die "Gabe" des Seins entgegenzunehmen, phänomenologische Annäherungen genauso wie Sprachanalysen, Text- wie Daseinshermeneutik, Spekulation und Spiritualität/ Mystik ihren Ort. Die Einleitung schließt mit Hinweisen auf die konkrete Durchführung des Buches.

Eine konkrete Besprechung der einzelnen Autoren sprengt den Rahmen. Es sollen diese aber insofern genannt werden, als der Leser erkennen soll, was er in dem Buch zu erwarten hat. W. hatte eingangs auf die Bedeutung von Lévinas hingewiesen. Das darf freilich nicht so verstanden werden, als sei die hier gewählte Akzentuierung nicht früher schon erkennbar gewesen. So nennt W. Gabriel Marcel mit seinem Ringen um Gott und das Sein "Prolog" (31 ff.). Es folgen Ausführungen zu Maurice Nédoncelle (Die interpersonale Struktur der Welt und das göttliche "Du") und Maurice (fehlt in der Überschrift) Merleau-Ponty (mit Hinweisen auf sein Verhältnis zum Christentum bzw. zur christlichen Philosophie), anschließend ein Exkurs zu Simone Weil und ihrem Verständnis von reiner Gottesliebe.

Sachlich einen Schritt zurück bedeutet die Konzeption des Blondelschülers Henry Duméry (Das Absolute und die Subjekthaftigkeit); ihm folgen ein Exkurs zu Henry de Lubac, sodann ein Kapitel über den Neuscholastiker Etienne Gilson und nochmals ein Exkurs, dieses Mal zu Teilhard de Chardin. W. hat die Abfolge der besprochenen Autoren in der Einleitung begründet, auch den Charakter der Exkurse besprochen. Vielleicht wäre es im Interesse der Akzentsetzung des Buches dennoch besser gewesen, die neuscholastischen Ansätze vorwegzuschicken, um so die Genese des Neudenkens vom Anderen her noch deutlicher zu markieren.

Den eigentlichen Mittelpunkt des Buches stellen die beiden Kapitel über Emmanuel Lévinas und Paul Ricur dar. Von Lé-vinas ist das Stichwort des "Antlitzes" entlehnt. In ihm begegnen wir zugleich einem Juden, der "nach Auschwitz" und seiner Massenvernichtung von Juden mit seinem philosophischen Denken radikal neu beginnen musste. Das Kapitel kann über die Beschäftigung mit den Hauptwerken hinaus - ähnlich wie das anschließende Kapitel zu Ricur - als Hinführung zu diesem Denker gelesen werden. Bei Ricur stehen hermeneutische Fragen im Vordergrund. Dabei verbinden sich Text- mit Daseinshermeneutik, wobei zu beachten ist, dass sich darin dann der Zugang zum Ganzen eröffnet. Die Nähe zur Theologie und seiner familiären protestantischen Religiosität bleibt durchweg erkennbar.

Das Buch endet mit Kapiteln über Claude Bruaire und der "Religion des Geistes", Jean-Luc Marion im Anschluss an sein Buch "Gott ohne das Sein", - unterbrochen durch einen Exkurs zu Jacques Derrida: "Wie nicht sprechen" - Claude Lavaud, der philosophisch das "Trinitarische" in das Verhältnis von Sozialontologie und Religionsphilosophie im Hinblick auf die Sinnfrage einzubringen sucht, und Michel Henry, der Joh 14,6 ("Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben") ins Zentrum seiner Philosophie des Christentums stellt. Was mit einem Prolog beginnt, muss mit einem Ausblick enden. Diesen verbindet W. mit Jean-Louis Chrétien; das Kapitel trägt die Überschrift "Glanz der Schönheit und Geheimnis der Verheißung".

Das Buch bietet einen lesenswerten Rundgang durch 50 Jahre französischer Religionsphilosophie und eine Einladung, selbst weiterzusuchen und angesagte Antworten zu vertiefen. Am Ende stehen eine Liste der benutzten Literatur der besprochenen Autoren, eine ausgewählte Bibliographie sowie ein Namens- und Sachregister. Sie machen das Buch vollends zu einem empfehlenswerten Sachbuch neuester Philosophiegeschichte.<