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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

327–331

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wagner, Falk

Titel/Untertitel:

Metamorphosen des modernen Protestantismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. X, 261 S. 8. Kart. ¬ 30,00. ISBN 3-16-147190-3.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Es ist dies das letzte Buch, das Wagner einen Monat vor seinem frühen Tod dem Verlag Mohr Siebeck zur Veröffentlichung geschickt hatte. Den einzelnen Kapiteln liegen teilweise anderweitig schon publizierte Texte zu Grunde. Sie alle wurden jedoch überarbeitet und auf die Leitgesichtspunkte des Ganzen hin ausgerichtet. Es ist daraus das Werk entstanden, mit dem W. die Verlagerung der theologischen Interessen dokumentiert, die er in seinen Aufsätzen aus den 90er Jahren, dann auch im TRE-Artikel zum Religionsbegriff bereits hat erkennen lassen. Stand in den frühen Arbeiten W.s, vor allem in seinem Hauptwerk "Was ist Religion?" (1986), die Intention auf eine gedanklich konsistente, den Einwänden der genetischen Religionskritik standhaltende Durchführung der Theorie des Absoluten im Zentrum, so hat zuletzt das Interesse an einer soziologisch aufgeklärten und die kirchliche Praxis orientierenden Theologie der gelebten Religion zunehmend den Vorrang gewonnen. Vorliegendes Buch führt trefflich vor Augen, dass mit dieser Verlagerung in den Interessen keineswegs ein Bruch oder eine Kehre auf dem Denkweg W.s verbunden war. Es wird ersichtlich, dass W. in seinem energischen Drängen auf nüchterne Klarheit und Strenge im theologischen Denken nicht nachgelassen hat. Auch in diesem letzten Buch aus W.s Hand werden die Argumente der genetischen Religionskritik stark gemacht. Auch hier insistiert er darauf, dass das Denken des Gottesgedankens die eigentliche Aufgabe der Theologie bleibt und sie diese nur einlösen kann, wenn das Absolute aus und durch sich selbst zu seiner Entfaltung im menschlichen Denken findet.

Anders jedoch als in seinen früheren Texten, anders vor allem auch als in seinem großen Werk "Was ist Religion?" (1986) stellt W. jetzt heraus, dass die "gelebte Religion" noch mehr und anderes bedeutet, als ein philosophisch-theologisches Letztbegründungsdenken darzustellen vermag. Es tritt ins Licht, wie deutlich W. in den letzten Jahren erkannt hat, dass die gelebte Religion, die individuelle, kirchlich und gesellschaftlich praktizierte Religion, dass die vielfältig erfahrbare Wirklichkeit des neuzeitlichen Christentums, dass die Religion und die Religionen unter den Bedingungen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft insgesamt empirische Erkundungen und Wahrnehmungen brauchen, dann auch kulturtheoretische Durchdringung, somit eine sozio-kulturell vermittelte und praxisnahe Religionstheologie.

Das große, bisher unveröffentlichte, in dieses Buch aufgenommene Kapitel (17-119) über Hegels Programm einer spekulativen Theologie, welche die christliche Religion philosophisch zu begreifen, daher die Vorstellung einer religiösen Sonderwelt in eine allgemeine Theorie über gültige Strukturen humanen Selbst- und Weltumgangs zu überführen vermag, zeigt besonders deutlich, dass W. an den für sein rasantes Theologieprogramm grundlegenden Einsichten festgehalten hat. Gab es Phasen in seinem Schaffen, in denen er weniger Sinn zeigte dafür, dass die Arbeit philosophischer Letztbegründung nicht zur Angelegenheit der individuellen, kirchlichen und gesellschaftlichen Religionspraxis werden kann und auch nicht muss, so hat er zuletzt deren empirische, historische, soziologische und psychologische Wahrnehmung sowie ihre kritische, theoriegeleitete Reflexion als eigenständige, bleibende, besonders dringliche Aufgabe einer kultur- und kirchenpraktischen Religionstheologie eingeklagt.

Der Band führt ausführlich und differenziert die angesichts der kirchlichen und religiösen Lage bedrängenden theologischen Herausforderungen vor. W. zeichnet im Anschluss an Luhmann das Bild einer auf Grund der gesellschaftlichen Evolution funktional differenzierten, durch enorme Säkularisierungs- und Individualisierungstrends geprägten Gegenwartskultur. Die Entwicklung der modernen Gesellschaft, so die erste, gegenwartsdiagnostische Leitthese des Buches, hat die praktizierte, gelebte Religion, das humane Gottesbewusstsein, letztinstanzliche Sinndeutungen des Lebens, zu einer Sache der Individuen werden lassen. Religion ist zur Individuenreligion geworden, eine Angelegenheit individueller Selbstthematisierung und Sinnreflexion, derjenige Ort in der Gesellschaft, an dem es um die Beziehung der Individuen auf sich und einmal nicht um ihre sozialen Funktionen, Rollen und Beanspruchungen geht. Aus diesen sind sie gleichwohl nicht entlassen. In soziologischer Perspektive, die W. nun zur religionstheoretisch dominierenden macht, fällt es gerade in die Zuständigkeit der Praxis der Religion, das personale Identitätsbewusstsein dadurch zu stärken, dass sie durch ihre Bezüglichkeit auf die persönlichen Lebensverhältnisse der Individuen hilft, den riskanten, aber ständig von ihnen geforderten Übergang zwischen Individualität und Sozialität, zwischen persönlichen Überzeugungen und Letztgewissheiten einerseits, allgemeinen gesellschaftlichen Anforderungen, Rollen und Zwecken andererseits, bewältigen zu können.

Neben diese gegenwartsdiagnostische, darin religions- und kulturhermeneutische Leitthese des Buches, die in immer neuen Variationen, freilich auch etwas redundant vorgeführt wird, hat W. seine Deutung des Protestantismus gerückt, aus der schließlich die eigentlichen Herausforderungen an eine der gegenwärtigen Lage des Protestantismus förderliche Theologiekonzeption, der Entwurf einer sich konstruktiv verhaltenden pfarramtlichen bzw. kirchlichen Berufspraxis, schließlich eine dringliche Reform des theologischen Studiums abgeleitet werden. Der Protestantismus, so die zweite, im Anschluss an M. Weber und E. Troeltsch formulierte Leitthese des Buches, hat mit seinem bereits in der Reformation des 16. Jh.s zur Geltung gebrachten Prinzip der Freiheit der Person und des individuellen Gewissens, sodann mit seinem Drängen auf die ethisch-praktische Bewährung der Freiheit eines Christenmenschen in der alltäglichen Berufsausübung einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung der neuzeitlich-modernen Welt geleistet. Er hat seit der zweiten Hälfte des 18. Jh.s mit der Entwicklung der neuprotestantischen Frömmigkeits- und Religionstheologien zudem die weitgehende Übereinstimmung des Christentums mit der modernen Kultur ebenso in sein Selbstverständnis eingeholt wie er von außen in seiner Modernitätsoffenheit anerkannt wurde.

Diese Symbiose von Christentum und moderner Kultur in Gestalt der die religiöse Individualitätskultur konstruktiv fördernden, durch eine elastisch gemachte Volkskirche (E. Troeltsch) sie auch an die kirchlich-religiöse Kommunikation anschließenden protestantischen Theologie und Kulturpraxis ist mit dem Aufkommen der, wie W. sagt, "neuevangelischen Wendetheologie des Wortes Gottes" nach dem 1. Weltkrieg zerbrochen. Sie ist durch den Siegeszug dieser Theologie und ihrer die Grundrelation von Gotteswort und Menschenwort, Glaube und Religion, Kirche und Kultur lediglich variierenden Derivate nach dem 2. Weltkrieg bis in die jüngste Gegenwart nahezu in Vergessenheit geraten. W. wird nicht müde, die religionskulturellen Verwüstungen anzuprangern, welche die Wort-Gottes-Theologie im deutschsprachigen Protestantismus hinterlassen hat. Sie hat der an den Universitäten und kirchlichen Hochschulen betriebenen Theologie das eigene Thema aus den Augen gerückt, die "Religion in Geschichte und Gegenwart". Sie hat mit ihrem Rekurs auf die Bibel und die "Offenbarung" die viel beschworene "Sache" der Theologie zu einer von ihren zeitlich-historischen und sozial-kulturellen Kontexten enthobenen Größe hypostasiert. Sie hat mit der Sachdominanz der biblisch-kerygmatischen Dogmatik und deren an die kirchliche Verkündigung gerichteten Normierungen und Ansprüchen den christlichen Glauben zu einer Angelegenheit von Berufstheologen und den von diesen erzogenen Kerngemeinden gemacht. Sie hat zugleich den Anschluss an die theoretische Bearbeitung des für die gesellschaftliche Moderne signifikanten - von der Religionssoziologie und den Kulturwissenschaften auch erkannten - Sachverhalts verloren, dass die gelebte Religion, das in Kultur und Gesellschaft, das in der Kirche praktizierte Christentum zu einer Angelegenheit der Individuen, ihrer Sinneinstellungen, handlungsleitenden Gewissheiten und lebensorientierenden Überzeugungen geworden ist. Die "neuevangelische Wendetheologie" hat der professionell betriebenen Arbeit an den theologischen Fakultäten auf weite Strecken die Fähigkeit ausgetrieben, dann auch die in der kirchlichen Praxis von Berufs wegen für die Förderung des Christentums Zuständigen die rhetorische, psychologische und pädagogische Kunst vernachlässigen lassen, die es braucht, um die "gelebte Religion" der Individuen tiefer über sich zu verständigen und in ihren lebensführungspraktischen, ethischen Konkretionen zu stärken.

Der Wort-Gottes-Theologie ist es in den 20er Jahren des 20. Jh.s, in der Folge des 1. Weltkriegs, somit manifester, allerdings bereits von E. Troeltsch diagnostizierter Erfahrungen der Krise einer nicht nur als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, sondern zugleich durch Kapitalismus, Nationalismus und Militarismus bestimmten Moderne, gelungen, mit dem Rekurs auf Gottes souveräne "Selbstoffenbarung" eine absolute, den Ambivalenzen und Zweideutigkeiten der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, auch der kirchlich-religiösen Praxis enthobene, absolute Position einzunehmen. Dabei war es, wie W. nicht müde wird in immer neuen Anläufen vorzuführen, lediglich ein - freilich binnenkirchlich sehr erfolgreicher - "Trick", die bei Lichte besehen auch nur menschliche Rede von Gottes Selbstoffenbarung und der Herrschaft seiner freien Gnade mit deren unmittelbarer Realität zusammenfallend erscheinen zu lassen.

Die Vernebelung der humanen Konstruktionsbedingungen und Symbolisierungsleistungen in der menschlichen Rede von Gott und seinem Handeln, ihrer zeitlichen und sozialen Kontexte und ihrer religiösen, frömmigkeitsgeschichtlich bedingten Positionalität hat in Theologie und Kirche zu dieser dominanten Orientierung an den biblischen und dogmatischen Sachthemen und einem gänzlich ungeschichtlich verstandenen, situationsvergessenen Verkündigungsauftrag geführt. Es ist aus dem Blick von Theologie und Kirche geraten, welches in der sozial-kulturellen Lebenswelt der Moderne die Wege sind, die Individuen in Vollzüge religiöser Selbstthematisierung hineinführen. Diese liegen nämlich, wie die neuprotestantischen Frömmigkeits- und Religionstheologen von Spalding und Schleiermacher angefangen, bis hin zu Troeltsch, Harnack und Baumgarten gesehen haben, in den durch lebensgeschichtliche Kontinuitäts- und Diskontinuitätserfahrungen bedingten Sinndeutungsinteressen und den durch die komplizierten Sozialbeziehungen motivierten ethischen Orientierungsbedürftigkeiten der Individuen.

Die das Buch wie ein roter Faden durchziehende Erinnerung an die neuprotestantischen Religionstheologien führt W. zu seiner dritten, großen Leitthese. Mit ihr stellt er im Anschluss an E.Hirsch die Forderung auf, dass Theologie und Kirche die durch die Wort-Gottes-Theologie unterbrochene Arbeit an der neuzeitlich-modernen Umformung des Protestantismus wieder aufzunehmen hätten. Statt sich weiter in diejenigen biblisch-kerygmatischen und dogmatisch-supranaturalistischen Sachthemen der Theologie, Christologie und Ekklesiologie, die außerhalb des Kreises der Berufstheologen und der von ihnen erzogenen Kerngemeinden auf keinerlei Resonanz stoßen, zu verstricken, würde die weitere Arbeit an der neuzeitlich-modernen Umformungskrise bedeuten, dass die Theologie ihre überlieferten Themen und Gehalte im Interesse der Symbolisierung und rhetorischen Vermittlung lebensgeschichtlicher Sinndeutungsinteressen und ethisch-moralischer Lebensorientierungsbedürftigkeiten zeitgenössischer Individuen reformuliert. Diejenigen Sachthemen der traditionellen Dogmatik, die sich nicht als Ausdruck ebenso aktueller wie lebensdienlicher religiöser Selbstthematisierungen von Individuen rekonstruieren lassen, sind, wie auch schon Schleiermacher vorgeschlagen hat, der Dogmengeschichte zu überstellen.

Im 5., letzten Kapitel seines Buches hält W. ein auch praktisch-theologisch höchst lehrreiches "Plädoyer für religionsgeleitete Umformungen der verkirchlichten Theologentheologie" (191). W. erwägt "Möglichkeiten und Grenzen von Umgestaltungen der pfarramtlichen Praxis im sozialen Interesse der Religion der Individuen" (211). Er skizziert die "Konturen einer "alltagspraktischen Religionstheologie" (229) und entwickelt schließlich "Perspektiven für eine Reform der Evangelisch-theologischen Fakultäten und des Theologiestudiums" (238). Sie verlangen von der Theologie eine weite, interdisziplinäre, religions- und kulturtheoretische Fundierung mit einem breiten, die biblischen, systematisch- und praktisch-theologischen Disziplinen umgreifenden, christentumsgeschichtlichen Aufbau.

Dieser neue Gesamtplan zur Reform der Theologie stellt gewissermaßen das Vermächtnis eines der größten, wenn bislang auch wenig wirkungskräftigen Theologen des letzten Drittels des vergangenen Jahrhunderts dar. Das Leiden über den gegenwärtigen Zustand von Theologie und Kirche ist weit verbreitet. W.s Entwurf einer "alltagspraktischen Religionstheologie" und sein Konzept einer der Religion der Individuen zugewandten kirchlichen Praxis birgt ungeheure Potentiale in sich, den Reformstau in Theologie und Kirche zu überwinden. Finden sich die Kräfte, das Vermächtnis dieses großen Theologen einzulösen?