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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

960–962

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stirnimann, Heinrich

Titel/Untertitel:

Unio-Communio. Dimensionen mystischer Erfahrung. 1. u. 2. Teil.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1995/96. 158 S. u. 291 S. 8 = Dokimion, 18 u. 19. Kart. sFr 32.- u. 28.-. ISBN 3-7278-1008-4 u. 3-7278-1061-0.

Rezensent:

Peter Heidrich

Der Autor dieser Studie sowie die beiden Freunde, denen sie gewidmet ist, sind ausgewiesene Kenner der Thematik.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Themenkreise: I. Mystik und Metaphysik. II. Kräfte. III. Sprache. IV. Zeit. V. Protologie und Eschatologie. VI. Unio und Communio. Der Vf. sieht Mystik als Teil oder genauer "Dimension" einer jeden geschichtlichen Religion. Neben dem Mythischen und dem Prophetischen sei sie in allen Religionen zu finden. Die Denkformen des Monismus, Dualismus und Emanatismus werden geklärt. Die Erzählweise der Bibel wird skizziert; semitischen Verbstämmen, bisher neutrisch benannt, wird besondere Bedeutung beigemessen. Fragen der Schöpfungstheologie, etwa bei Barth, werden sehr knapp berührt. Joh. 1,13 begegnet nur innerhalb von Hildegardtexten. Schließlich werden 8 "Momente" biblischen Schöpferglaubens angegeben.

Das Kapitel "Kräfte" stellt die anthropologische Dimension mystischer Erfahrung dar. Es handelt sich um die "Merkwörter" Wille, Vernunft, Sinne, Affekt, Unbewußtes, Leib. Die Aufzählung will nicht vollständig sein. Hier wie im ganzen Buch werden nur christliche Mystiker und Mystikerinnen zitiert, weil der Vf. der Sprachen, in denen außerchristliche Mystiker schrieben, nicht kundig ist. Die Abschnitte werden je mit einem Überblick über die entsprechenden Vokabeln eröffnet, verdienstvoll, doch zugleich auf die Bedingtheit des Lexikonautors aufmerksam machend. Die zitierten Mystiker sind der genannten Sprachen selten mächtig gewesen. Die Apophatik wird erörtert, bis zu Derrida; das "Lehren" der Mystiker wird dargestellt. Der Vf. bezieht sich auf Eliade, der bei Propheten oft Neigung zu Intoleranz feststellte, Mystiker aber eher versöhnlich fand - diese seien heute besonders nötig.

Das Merkwort "Affekt" zieht der Vf. dem "Gefühl" vor und begründet das auch. Bei der Klärung von "apatheia" werden Exerzitienerfahrungen erwähnt. Auch eine gewisse Analogie zwischen cognitio experimentalis und künstlerischem Schaffen gesteht der Vf. zu.

Die Skizze unter dem Thema "Leib" vermerkt indisch bestimmte Gestaltungskraft, räumt der Askese Raum ein, widmet dem Geschlechtlichen wenigstens ein Post-scriptum. Die "Sammlung der Kräfte" sieht der Vf. im Gegensatz zu Abspaltungs- oder Zersplitterungserscheinungen unserer Großgesellschaft: Hyperrationalisierung und Barbarismus samt Brutalität.

Die sprachschöpferische Kraft vieler Mystiker wird ausführlich gewürdigt. Ramon Llull und Juan de la Cruz werden ausführlicher vorgestellt. Im Kapitel "Zeit" wird der Drei-Stufen-Weg der Mystik besprochen, Gregor von Nyssa (mit seiner Mose-Deutung) und Juan de la Cruz werden dabei herangezogen.

In den beiden letzten Abschnitten ("Protologie und Eschatologie" und "Unio und Communio") wird der Bibel als der Quelle christlicher Mystiker nachgegangen. Diese Überlegungen wünschte man sich ausführlicher; wenn bedeutende Schweizer Theologen Mystik ablehnten, obwohl sie Texte maßgebender christlicher Mystiker nicht kannten, sähe man gern mehr als Andeutungen, zumal wenn auch noch zugestanden wird, die Bibel könne in der Tat nicht-mystisch gelesen werden (220). Wenn der Vf. Druck und Verlangen nach mystischer Erfahrung in der Gegenwart konstatiert, genügt nicht die Bemerkung, aus praktischen Gründen sei eine mystikferne Theologie "out of date". Sind zu Beginn des Jh.s mehr Akademiker auf der Suche nach "Mystik" gewesen, während jetzt solche Begeisterung "populär" zu nennen sei, sollte gefragt werden, was die Ausstrahlungskraft der Gottesdienste inzwischen so empfindlich geschmälert habe.

Das Buch, aus nicht nur wissenschaftlichem Anliegen geschrieben, schließt mit einer sehr privat wirkenden Zusammenstellung von Schriftstelleräußerungen über ihr Schreiben ( z. B. Gerhard Meier: "meine besten Texte habe ich ... in den Wind geschrieben"). 10 Seiten Glossar proben die Rechtschreibreform. Manche Erklärungen setzen viel voraus, so zu meditatio: "meditatio im spirit. Bereich = ,Betrachtung’ - auf die Lesung (der hl. Schrift) folgt: ,meditieren’, ,betrachten’". Oder: ",contemplatio’ = ,Beschauung’". Der ",Sinn’-vehikulierenden" Umgangssprache schenkt der Vf. zu Recht seine Aufmerksamkeit, die an der Ostsee unbekannte "Betunlichkeit" wird im Glossar (268) erklärt.