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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

321–326

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sandherr, Susanne

Titel/Untertitel:

Die heimliche Geburt des Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmanuel Lévinas.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 247 S. gr.8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 16. Praktische Theologie heute, 34. ¬ 30,60. ISBN 3-17-015114-2.

Rezensent:

Jan Bauke-Ruegg

Dass eine Arbeit über den jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1906-1995, im Folgenden L.) innerhalb der Reihe "Praktische Theologie heute" erscheint, mag auf den ersten Blick erstaunen. Ebenso erstaunen mag, dass Susanne Sandherr in ihrer gründlichen und mit Gewinn zu lesenden Dissertation "Die heimliche Geburt des Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmanuel Lévinas" den Nachweis anzutreten sucht, dass als eigentliches und "heimliches" Thema des Denkens und Schreibens von L., das im philosophiegeschichtlichen Normalbewusstsein für gewöhnlich mit dem Stichwort "Alterität" in Zusammenhang gebracht wird, die Genese des Subjekts oder "die heimliche Geburt des Subjekts (naissance latente du sujet)" aus und in der Begegnung mit dem oder der Anderen zu bezeichnen ist. Als "Leitgedanke" (214) der Entfaltung ihrer These dient der Vfn. dabei L.' Konzeption der "Subjektwerdung in der Spannung und in der Bewegung der Pole von Mündigkeit und Gebürtigkeit" (214), die für L.' Verständnis der Subjektivität und das auf ihr basierende Denken der Differenz konstitutiv ist (82.122).

Die Vfn. will mit ihrem Versuch einer Rekonstruktion der Genese von Subjektivität im Werk L.' - und damit erklären sich die eingangs notierten Erstaunlichkeiten wechselseitig - ein theologisches und philosophisches Manko beheben. Den theologischen Horizont ihrer Arbeit zeigt die Vfn. dabei vor allem im zweiten Kapitel (30-48) auf: die Frage nach dem Subjekt im Bereich der christlichen Theologie. Die Vfn. steckt ihn zunächst in einem Parcours ab, der seinen Ausgangspunkt bei einem insbesondere in der katholischen Theologie verbreiteten "prämodernen theologischen Argwohn ... gegenüber dem Subjektgedanken" (37) nimmt, sich dann der theologischen Rezeption und Entfaltung des Subjektgedankens in der Theologie Karl Rahners (31 f.) zuwendet, und schließlich in der Forderung der Postmoderne (Jean-François Lyotard), das Subjekt zu de(kon)-struieren (33-37), kulminiert. Vor diesem Hintergrund propagiert die Vfn. die Reflexion von Subjektivität als dringliche Aufgabe Praktischer Theologie (vgl. 212.216.220). Mit ihrem Rekurs auf die Subjektivitätsthematik im Werk L.' sucht die Vfn. gleichzeitig - dies der philosophische Horizont ihrer Arbeit- eine einseitige Rezeption des philosophischen Werks von L. unter dem Aspekt der Alterität, die schnell Gefahr läuft, L.' Philosophie zu einem "Fundamentalismus des Anderen" (17; vgl. 212) zu verzerren, aufzubrechen. Mit anderen Worten: Die vorliegende Arbeit kommt der theologischen Reflexion von Subjektivität wie der philosophischen Rezeption des Werks von L. zu Gute.

Die Vfn. wendet sich dazu im dritten Kapitel zunächst dem Pol der Mündigkeit des Subjekts zu, "jenem außerordentlichen Erwachsenenstand" (23), der laut L. mit der jüdischen Religion verknüpft ist und sich in einer "Religion für Erwachsene" manifestiert. Da die Tragweite dieses Motivs innerhalb des Denkens von L. bislang ganz offensichtlich unterschätzt (83) und dem korrelierend kaum rezipiert wurde, räumt die Vfn. der Vorstellung einer "Erwachsenenreligion" einen recht großen Raum ein (49-92). L.' "Religion für Erwachsene" grenzt sich gegen numinös-ekstatische Religiosität ab, weil in ihr zum einen, so der frühe L., das Ich mit dem Numinös-Ekstatischen verschmilzt (55) und seine Subjektivität verliert (50), zum anderen aber, so der spätere L., das Numinös-Ekstatische "das Subjekt des Bewußtseins nicht zu erschüttern vermag" (50). Schlüsselwort der "Religion für Erwachsene" ist demgegenüber die Trennung (sé-paration) (50). Gott wohnt in dieser erwachsenen Religiosität nicht länger als eine Art überirdische Wunscherfüllungsmaschinerie im "Kinderhimmel" (55), sondern zeichnet sich wesentlich durch sein Sich-zurückziehen-Können aus. Diese Charakterisierung Gottes könnte durchaus als ein durch die Erfahrung der Abwesenheit Gottes in Auschwitz (57 f.; vgl. 218) forcierter Atheismus gedeutet werden (170), ist für L. jedoch die eigentliche Pointe des jüdischen Monotheismus: durch den Rückzug Gottes (55) wird das Ich in seine unvertretbare Verantwortung für den anderen Menschen und die Unersetzlichkeit seiner Stellvertretung des anderen Menschen (52) verstrickt (ethische Intrige [94 f.]). In dieser "ethischen Reife des Menschen zeig[t] sich Gott als Gott" (55). L.' Werk lässt sich daher, so die These der Vfn., als ein unabschließbarer Versuch lesen, "einen Satz, welcher für Lévinas der theologische Satz schlechthin ist, philosophisch zu verantworten: Der Mensch hat als Ich göttliche Verantwortung. Hier liegt der Schlüssel zum Subjektdenken und das Zentrum der Erwachsenenreligion" (57).

Erwachsenenreligion meint nun aber nicht, wie es der Begriff des Erwachsenen nahelegen könnte, ein in sich ruhendes und gefestigtes und um seine Macht und Herrschaft besorgtes Ich, oder Subjekt, sondern jenes Ich, das gleichsam zu seinem Erwachsensein gezwungen worden ist, weil es die Erfahrung von Auschwitz hat machen müssen (70). Erfahrung von Auschwitz aber heißt sowohl Erfahrung des Rückzugs Gottes als auch - gleichsam als Kehrseite dieses Rückzugs - Erfahrung der unbedingten und radikalen Verantwortung des Ich für den Anderen, eine subjektive Verantwortung, die "vor dem Horizont jener maßlosen und exzessiven Gewalt, die Menschen von Menschen erlitten haben, exzessiv und maßlos gedacht" (89) ist. Gefordert ist somit eine "Ichstärke, die die Schwäche des Anderen mit der Schwäche der Liebe zu beantworten vermag" (214), oder in L.' eigenen Worten: "Das Universum tragen - erdrückender Auftrag, aber göttliche Unbequemlichkeit" (74.192.210). Gerade in dieser Verantwortung für den Anderen, und darum ist der Begriff des Erwachsenen ein wichtiger und unverzichtbarer Pol im Subjektdenken von L., "der im Kontext der enteignenden und das Subjekt sich selbst erst zueignenden Beanspruchung durch den Gerechtigkeit fordernden Anderen gedeutet werden muß und der sich in diesem Kontext schon verändert hat" (72), ereignet sich die Subjektgenese des Subjekts (74), die Individuation durch die Verantwortung für den Anderen (71). Und nur ein solchermaßen erwachsenes Ich ist in der Lage, sich von der in der Nacktheit des Gesichts manifestierenden Not des Anderen, die sonst gut übersehen werden kann, berühren und "zu unbedingter Liebe und Fürsorge nötigen zu lassen" (76). In paradigmatischer Weise verdichten sich so im Begriff der "Religion für Erwachsene", die nicht tröstet, sondern vom Ich trostlos die unbedingte Verantwortung für den Anderen fordert, die für L.' Subjekt-Denken zentralen Pole von Mündigkeit und Gebürtigkeit: gerade das mündige (erwachsene) Subjekt ist eines, das immer vom Anderen her wird. Die Mündigkeit des erwachsenen Ichs besteht in seiner Gebürtigkeit (Genese), sprich: seiner Abkünftigkeit und bleibenden Abhängigkeit vom Anderen her (18). Insofern gerade die Verantwortung für den Anderen, in der sich das Ich immer schon vorfindet, das Ich allererst generiert, geschieht "die Geburt des Ich aus der Beziehung zum anderen Menschen" (52) im Verborgenen, kommt das Ich aus einer Herkunft, die dem Bewusstsein und seinem Vermögen immer schon vorausliegt und unauflöslich entzogen bleibt (21) und in diesem Sinne "heimlich" ist (90.166.197). Selbstgegenwart im vollumfänglichen Sinne ist dem Subjekt so aber verwehrt (90). "Die heimliche Geburt hinterläßt im Subjekt eine un-heimliche, fremde Spur, sein Leib kann von ihm selbst nie vollständig angeeignet, er kann nie restlos Eigenleib werden, sondern bleibt Fremdkörper" (91). Für das solchermaßen konstituierte "ethische" Subjekt ist nicht mehr Identität sondern Nähe (91), die den vom Bewusstsein gestifteten Beziehungen des Ich zum Anderen immer schon vorausgeht (93), das entscheidende Stichwort.

Damit ist im Grunde der weitere Gang der Untersuchung vorgezeichnet: zu untersuchen sind die diversen Formen und Spielarten der subjektgenerativen Beziehungen von Ich und Anderem, "die als Elementarerfahrungen der Öffnung für Alterität und in eins damit der Subjektkritik und des Subjektwerdens zu begreifen sind" (93) und sich allesamt im Horizont von L.' "philosophische[r] Grundfrage" bewegen: "Wie kommen die einen zu den Anderen?" (185). Die Vfn. setzt dabei im vierten Kapitel (93-122) mit dem Stichwort der Leiblichkeit ein, die das Subjekt in gewisser Weise ständig daran gemahnt, dass es nicht von sich selber her kommt und aus sich selber lebt. Kapitel fünf (123-159) zeichnet unter dem Stichwort "Transsubstantiation" die Begegnung des sich in seiner Mündigkeit verschließenden virilen Subjekts mit dem Weiblichen nach. Die sich in der Transsubstantiation des Eros ereignende Schwächung des virilen Ich (123 f.) weist dabei bereits auf den im sechsten Kapitel (160-186) thematisierten Begriff der "äußerste[n] Passivität des Subjekts der Stellvertretung (substitution)" (123, Hervorhebung J. B.) voraus, in dem sich die mit dem Stichwort der Transsubstantiation bezeichnete Wandlung des virilen Subjekts durch die Berührung des geschlechtlich Anderen des Weiblichen (Kap. 5) und "das komplexe Motiv des Prozesses der ,Inkarnation', der Bildung des sinnlichen Ich zur leiblichen Selbstgabe" (160) (Kap. 4), verschränken.

Die materialreichen Ausführungen zu L.' vielschichtiger Phänomenologie der Beziehungen zwischen Ich und Anderem münden schließlich im siebenten Kapitel (187-225) in die ethisch-metaphysische Umschreibung der für die Subjektgenese des Ich konstitutiven und unaufhebbaren Vorgängigkeit des Anderen als absoluter Vergangenheit oder Spur, die das Subjektivitätsthema explizit mit dem "Mißverhältnis" (16) der Transzendenz verknüpft und darin zugleich den Bogen zurück zur "Religion für Erwachsene" schlägt.

L.' Ausführungen zur Leiblichkeit des Ich rekurrieren auf den theologisch hochbesetzten Begriff der incarnation (95), der so etwas wie den gordischen Knoten von L.' Subjektdenken darstellt (122; vgl. 93).

L.' Begriff der incarnation geht auf komplexe theologische, philosophische und zeitgeschichtliche Voraussetzungen zurück, wie die Vfn. in einer knappen Rekonstruktion von L.' Auseinandersetzung mit dem christlichen Inkarnationsgedanken (96-101), der Rolle des Leibes in der nationalsozialistischen Ideologie (101-105) und der phänomenologischen Konzeptionen von Leiblichkeit (105-107) zu zeigen versucht. Wichtig sind aber die Prämissen in L.' eigenem Werk, insbesondere in seinem ersten Hauptwerk "Totalité et Infini. Essai sur l'extériorité" (1961), in dem L. im Rahmen einer "Phänomenologie der sinnlich-leiblichen Verfaßtheit des Ich und seines Werdens im Genuß" (109) darlegt, wie das menschliche Bewusstsein immer schon in die Sinnlichkeit des Menschen inkarniert ist, und das Genießen als elementaren Vollzug dieser Sinnlichkeit zu begreifen sucht (110). In "Autrement qu'être" versucht L. die in der genießenden Sinnlichkeit konstituierte Subjektivität mit einer Subjektivität der Verantwortung zu verknüpfen, also den Gedanken eines "Subjekts, dessen Selbst sich im sinnlich-leiblichen Genuß bildet, mit der Konzeption von Subjektivität als leiblicher Selbst-Gabe" (214) zu verbinden, löst aber die Spannung zwischen Individuation im Glück und Individuation in der Verantwortung letztlich nicht auf (121): die Gabe als Hingabe des Leibes an den Anderen (120) sowie das in der Mitte seiner Leiblichkeit dem Anderen geöffnete und ausgesetzte Subjekt (115), setzen ein Ich voraus, das sich im Genuss bildet (120).

L. versteht den Begriff incarnation nicht im Sinne der christlichen Gotteslehre als Inkarnation Gottes in dem einen Menschen Jesus von Nazareth (96 f.), sondern als Inkarnation Gottes im gerechten Handeln aller einzelnen (97), also nicht theologisch, sondern anthropologisch und ethisch (108). "Die Gott abgesprochene ,Inkarnation' wird einer Subjektivität aufgelastet und zugesprochen, als deren normative Struktur sich eine immer schon durch den Anderen verletzte Identität, die Figur der Stellvertretung, erweist. Die Verletzung und Öffnung der Identität des Ich geschieht in seiner ,Inkarnation', die Lévinas als Umschlag vom aktiven ,Ich' in die Passivität und Ausgesetztheit des ,Sich' beschreibt" (99). Leiblichkeit meint für L. daher die Empfindlichkeit, Verwundbarkeit, wesentliche Unabschließbarkeit und schutzlose Offenheit des Menschen (104).

In L.' zweitem Hauptwerk "Autrement qu'être ou au-delà de l'essence" (1974) wird dieser Gedanke der Leiblichkeit und incarnation noch verschärft. Inkarnation wird nun zur "Passivität bis zur Besessenheit (obsession) durch den anderen Menschen" (108, Hervorhebung J. B.) und zur ,passivsten Passivität' und ,Passion'" (109). Der andere Mensch bleibt der nicht zu vertreibende Schatten mitten im Ich.

Der Beziehung des Ich mit dem nicht-integrierbaren Anderen geht L. in seinem Werk innerhalb einer Phänomenologie des Eros nach, in der das Nicht-Integrierbare als absolute Zukunft erscheint. Bemerkenswert ist dabei, dass L. das in "Totalité et Infini" begegnende Autorsubjekt deutlich als männlich kennzeichnet (125), also im Unterschied zur philosophischen Tradition auf einen Generalitäts- und Universalitätsanspruch der eigenen Position verzichtet, der ohnehin nur die je eigene Partikularität und Positionalität zu kaschieren sucht. Gerade als explizit viriles Subjekt ist das Ich in L.' Denken immer schon ein geschwächtes. Das weibliche Andere deutet L. im Rahmen einer Phänomenologie der Häuslich-, Gast- und Wirtlichkeit (127.131) als Ursprungsphänomen der Milde (130), die dem virilen Ich Intimität (129) und Vertrautheit (127) ermöglicht und ihm die Freundlichkeit der Welt zugänglich macht (130). Gerade darin lehrt das Weibliche "eine menschliche Möglichkeit, die kein Vermögen ist, nämlich den gastlichen Empfang des anderen Menschen" (130).

Dass dies kein peripherer Gedanke im Werk von L. ist, zeigt der Blick auf L.' Verständnis der im Anschluss an Descartes' dritte Meditation gewonnenen Idee des Unendlichen, die immer schon das Fassungsvermögen des sie denkenden menschlichen Denkens übersteigt und damit Rationalität als die "Vernünftigkeit einer empfangenden Vernunft" (131) ausweist und markiert. Gastlichkeit erweist sich damit im uvre L.' als Kennzeichen von Subjektivität überhaupt - und weist ihrerseits auf die Vorstellung eines kenotischen Gottes (101) hinüber, der sich zurückzieht, um der Schöpfung gastlich Raum zu geben.

Das todesmutige, in seiner eigenen, vermeintlich unerschütterlichen Identität eingeschlossene virile Ich (132) "erfährt in der erotischen Nähe des weiblich Anderen einen Aufbruch, der es nicht zerstört, sondern bewegt" (140). Denn gerade die Zärtlichkeit der erotischen Beziehung zur schwachen und fragilen Anderen des Weiblichen (140 f.), die nur einem Ich möglich ist, das auf die einsame Macht seiner Möglichkeiten verzichtet (143), führt zu einer "von der Verwundbarkeit nicht abzulösenden ,Erfahrung' von Nähe" (142). Das (solipsistische) virile Ich erfährt darin, dass sich seine Identität nicht seinem eigenen Können, sondern der Passivität der empfangenen Liebe verdankt (145). Indem sich das (virile) Ich so als das Sich einer anderen erfährt, erlebt es in gewissem Sinne seine Verweiblichung und darin sein radikales Neuwerden, das L. als "Transsubstantiation" bezeichnet (146) und das Wandlungsgeschehen des in der Begegnung mit dem weiblich Anderen veränderten Subjekts charakterisiert (147.160). "In der Begegnung mit dem Anderen geschieht, und dies ist eine entscheidende Spitze des Subjektsdenkens bei Lévinas, Verwandlung" (164).

Im Spätwerk L.' überschreibt die Figur der Mutter- und Schwangerschaft jene der Vaterschaft. Mutterschaft eignet dabei unabhängig von der konkreten Geschlechtszugehörigkeit jedem Menschen und bezeichnet das Subjekt, das den Anderen vorgängig trägt und in dieser (mütterlichen) Stellvertretung (substitution) seine eigene Subjektwerdung erfährt (163.173.195). "Die mütterliche Stellvertretung des Menschen ist Ort der ,heimlichen Geburt des Subjekts'" (162) aus einer "leiblich-sinnlich bedrängenden und verpflichtenden Nähe des anderen Menschen (166), bis hin zu einer, so eine der wohl anstößigsten Formeln L.', "Verantwortung für das Verfolgen des Verfolgers" (163; vgl. auch 167). Gerade das aber stellt keinen Grenzfall menschlicher Subjektivität dar, sondern ihre Norm: eine radikal verstandene "Stellvertretung als die eigentliche Subjektivität des Subjekts" (164; vgl. auch 172). Sub-jekt (subiectum) ist das Ich in der bedingungslosen, unaufhebbaren und unvertretbaren Unterwerfung (sujétion) unter den Anderen (21.192).

Im siebten Kapitel (187-225) wendet sich die Vfn. schließlich der Metapher der Spur (trace), einem "Herzstück" (187; vgl. 211) des Denkens L.' zu, die den Gedanken "der aller Erfahrung vorgängigen Beauftragung des Subjekts mit dem Gedanken der subjektbildenden Erfahrung des anderen Menschen" (187; vgl. auch 77) zu einem unauflösbaren Knoten schürzt. Die Spur bedeutet - im Unterschied zum Zeichen - gerade, dass sie sich nicht in einen vorgängigen oder übergeordneten Sinnzusammenhang integrieren lässt und dadurch mit ihrer unaufhebbaren Diachronie die Ordnung einer vom Ich organisierten Welt nachhaltig irritiert (188). Ort der Spur ist hauptsächlich das Gesicht oder Antlitz (visage), "dessen Nacktheit das Ich bloßstellt und ethisch herausfordert" (190, Hervorhebung J. B.) und darin zur Epiphanie oder Heimsuchung (visitation) (189) für das Ich wird, die auf das Unendliche hindeutet. Das Antlitz des Anderen wird zur Spur Gottes als eines ganz Anderen, "der vorbeigegangen und vergangen ist und auf den nur verwiesen werden kann" (191) und gerade in seiner Abwesenheit vom Subjekt die nachhaltige Intervention für seinen Nächsten fordert, ein, mit L.' eigenen Worten gesprochen "[e]xtremer Humanismus eines Gottes, der dem Menschen viel abverlangt" (192).

Die Vfn. legt mit "Die heimliche Geburt des Subjekts" (deren Materialreichtum an dieser Stelle nur in Ansätzen wiedergegeben werden konnte) eine profunde Einführung in das facettenreiche und komplexe Denken von L. vor, dessen zweites Hauptwerk "Autrement qu'être" mit seinen bewussten Übersteigerungen (109.164.180) und Übertreibungen (109.182) zu den schwierigsten philosophischen Texten des 20. Jh.s gehören dürfte. Dass daher - trotz des knappen Resümees gegen Ende des Buches (insb. 241-216) - stellenweise der rote Faden der Argumentation nicht immer ganz einfach zu finden ist (z. B. 65-68.115-119.131-135.135-140), insbesondere im fünften Kapitel einzelne Abschnitte z. T. recht unvermittelt nebeneinanderstehen (126.131.135) und aufs Ganze des Buches gesehen fast zu viele Schlüsselbegriffe für L.' Subjektivitätsvorstellung geboten werden, die den Zugang zu L.' Denken in ihrer Vielzahl fast schon wieder zu verschließen drohen, darf daher nicht vorschnell der Vfn. angekreidet werden. L.' Beschreibungen der Subjektgenese sind, um ihrem eigenen Anliegen gerecht zu werden, zwangsläufig vielschichtig und fragmentarisch (217; vgl. auch 24), seine Sprache, die sich permanent um ein Überschreiten des "Gesagten" bemüht (27), aus dem gleichen Grund manchmal fast metaphernübersättigt. Vor allem aber gilt: "Der Wundherd des Subjektdenkens von Lévinas ist Auschwitz. Darum muß es ein Denken der Brüche und Umbrüche sein" (215). Gleichwohl wäre ein Begriffsregister hilfreich. Es würde die Orientierung in der Fülle des verarbeiteten Stoffes erleichtern und könnte so auf seine Weise dazu beitragen, die bislang immer noch spärliche protestantische Rezeption der Philosophie von L. anzukurbeln.