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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

317–319

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Berner, Knut

Titel/Untertitel:

Gesetz im Diskurs. Konsequenzen theologisch-philosophischer Wirklichkeitsdeutung.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. 352 S. gr.8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 16. Kart. ¬ 49,90. ISBN 3-7887-1648-7.

Rezensent:

Hans-Joachim Höhn

Im interdisziplinären Gespräch ist die Bilanz der Theologie chronisch unausgeglichen. Meist verhält es sich so, dass sie - nach einem Diktum Niklas Luhmanns - mehr nimmt, als sie gibt. Dass sie vornehmlich als Abnehmerin von Theorien und Begriffen auftritt, macht sie für die übrigen Wissenschaften nur bedingt interessant. Ein Austausch zum allseitigen Vorteil liegt erst dort vor, wo alle Beteiligten etwas produktiv einbringen, das für alle belangvoll erscheint. Die zeitgenössische Theologie befindet sich jedoch in einiger Verlegenheit, wenn sie nach einem Beitrag gefragt wird, der den Erkenntnisstand anderer Disziplinen vermehrt. Dieser Frage nicht auszuweichen, sondern sie selbstbewusst anzugehen, macht den Reiz der vorliegenden Bochumer Dissertation aus.

Sie stellt gleich eingangs klar, dass "nicht nur die Theologie von anderen Wissenschaften lernen kann und muß, sondern diesen auch ihre eigene Perspektiven offerieren und wenn nötig zumuten soll" (3). Da aber nur das zumutbar ist, was auch denkerisch verantwortet werden kann, bedarf es entsprechender methodischer Vorkehrungen, um theologische Denkofferten plausibel zu machen. B. unternimmt vor diesem Hintergrund den groß angelegten Versuch, die "klassische" Fundamentalunterscheidung von "Gesetz und Evangelium" neu für das Gespräch zwischen Philosophie und Theologie fruchtbar zu machen. Dabei soll einerseits dieses Interpretament als eine originär theologische Reflexionsfigur ausgewiesen werden, das zugleich in der Weise anschlussfähig für die philosophische Diskussion um Ansatz und Status rationaler Welterfahrung und -deutung ist, dass es andererseits zu handlungsleitenden Folgen für das Projekt einer vernunftgeleiteten Weltgestaltung führt. Ein solches Unternehmen lebt davon, dass es sich in der Auseinandersetzung mit einem prominenten philosophischen Partner profilieren kann. Es verwundert daher nicht, wenn B. sein Projekt über eine Rekonstruktion, Analyse und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns bzw. des rationalen Diskurses von J. Habermas einführt, deren Rezeption auch in der Theologie seit langem im Gange ist. Mit dem Schwerpunkt auf der Sprach- und Argumentationstheorie liefert B. einleitend eine Einführung in zentrale Kategorien der Philosophie Habermas' (15-61).

Die das ganze Buch durchziehende Problematik einer angemessenen Zuordnung des Verhältnisses von theologischer und philosophischer Wirklichkeitsdeutung wird anschließend im Gegenüber zu diesem Ansatz entfaltet und in einem fundamentalethischen Kontext situiert. Grenzreflexionen über den Anspruch nachmetaphysischen Denkens, über die Reichweite moralischer Verständigung, über das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit bzw. von Anthropologie und Moralphilosophie führen dabei zu einer ersten Positionierung theologischer Ethik (63-111). Eine literarische Zwischenbetrachtung von F. Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" (112-116) leitet über zum dritten Hauptteil der Arbeit, dessen Überschrift lautet: "Die dogmatische Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz und ihre Auswirkung auf die theologische-ethische Urteilsbildung" (117).

Unter diesem Titel firmiert zunächst eine auf das Werk von G. Ebeling konzentrierte Bestimmung vom "usus theologicus legis" und "usus civilis legis" (117-184) und sodann eine relecture der christologischen bzw. rechtstheologischen Arbeiten von E. Wolf (185-249), die u. a. gegenüber der von J. Habermas getroffenen Unterscheidung von Faktizität und Geltung rechtlicher und moralischer Normen in Anschlag gebracht werden. Das Schlusskapitel erörtert das Potential "diskursiver Wirklichkeitsdeutung zwischen Gesetz und Evangelium" und ergänzt eine formale Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik (über die Kategorien "Überzeugung" und "Handlung") um eine diskurstheoretische Neuformatierung des Begriffs "usus civilis legis" sowie um eine Fallstudie zur theologisch-ethischen Valenz der Strafe bzw. des Strafrechts (250-311).

Wer B. bis in den Schlussteil seiner Arbeit gefolgt ist, hat einen auf hohem Abstraktionsniveau verlaufenden Denkweg hinter sich. Dieser Weg wird etliche theologische Leserinnen und Leser in ihrer Überzeugung bestärkt haben, dass der Unterscheidung von "Gesetz" und "Evangelium" eine unabgegoltene heuristische Bedeutung für den Ansatz einer theologischen Ethik zukommt. Vor allem lässt dieser Ansatz Schwachstellen und Defizite einer Diskurstheorie der Rechte und der Moral deutlich werden, an deren Überwindung Diskurstheoretiker um der Rationalität und Moralität ihres Ansatzes interessiert sein müssen. Dies gilt insbesondere für die prae- und metadiskursiven Voraussetzungen und Bedingungen rationaler Diskurse, an denen sich auch für einen Philosophen nachvollziehbar die ethische Relevanz des "Evangeliums" als eines vernunftgemäßen "Anderen" der Vernunft aufzeigen lässt. An B.s Ausführungen imponiert ferner, dass er einen weiten Bogen von ethischen Begründungsfragen zu sozial- und institutionenethischen Problemfällen schlägt.

Allerdings hätte sein Buch erheblich davon profitiert, wenn er in seinen Überlegungen intensiver auf bereits vorliegende entsprechende Kritiken und Fortführungen von Habermas' Entwurf auf seiten der Theologie eingegangen wäre (vgl. etwa W. Lesch/A. Bondolfi [Hrsg.], Theologische Ethik im Diskurs, Tübingen/Basel 1995). Nimmt man den Umfang der verarbeiteten Sekundärliteratur als Indiz für den Personenkreis, mit dem ein Autor ins Gespräch kommen will, so lässt B. manche Chance auf mögliche Gesprächspartner in der Philosophie aus. Dabei hat es sein Diskursangebot durchaus verdient, dass es auch außerhalb der Theologie Beachtung findet und in anderen Disziplinen - um noch einmal Luhmann zu zitieren - nicht bloss "Immunreaktionen" auslöst.