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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

315–317

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Berger, Martin, u. Michael Murrmann-Kahl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Transformationsprozesse des Protestantismus. Zur Selbstreflexion einer christlichen Konfession an der Jahrtausendwende. Falk Wagner (1939-1998) zu Ehren.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlagshaus 1999. 288 S. 8. Kart. ¬ 34,95. ISBN 3-579-02628-3.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Das Buch sollte als Festschrift zum 60. Geburtstag des Wiener Systematischen Theologen Falk Wagner erscheinen. Wenige Monate zuvor, im November 1998, ist Falk Wagner gestorben. So bleibt es seinem Gedächtnis gewidmet und der Auseinandersetzung mit einer Fragestellung, die ihn in den letzten Jahren seines Lebens am stärksten beschäftigt hat, den neuzeitlichen "Transformationsprozessen des Protestantismus". Dieser Thematik galt auch das letzte Buch, das Wagner zum Druck gegeben hat. Es ist ebenfalls nach seinem Tod 1999 unter dem Titel "Metamorphosen des modernen Protestantismus" erschienen.

Vorliegender Band, der durch Beiträge von Schülern und Kollegen Wagners zustande gekommen ist, gliedert sich in drei Teile.

Der erste Teil bringt "historische Erkundungen" zum Gestaltwandel des neuzeitlichen Protestantismus. Er diskutiert Wagners Thesen im Kontext früherer und anderer Deutungen des Protestantismus, die den Protestantismus jedoch alle als einen entscheidenden Faktor in der Mentalitäts-, Kultur- und Religionsgeschichte der Neuzeit zu erfassen versuchten.

Besonders aufschlussreich ist die differenzierte Sicht, die Ulrich Barth in seinem Beitrag auf das Protestantismusverständnis Albrecht Ritschls wirft. Er arbeitet heraus, wie naheliegend Wagners konstruktiver Anschluss an die neuprotestantischen Religions- und Kulturtheologien ist und zeigt auf brillante Weise, dass Ritschl zu seiner Wesensbestimmung des Protestantismus gerade nicht über die Diskussion kontroverstheologischer Lehrartikel gefunden hat, sondern auf dem Weg der Identifizierung eines Frömmigkeitsstils, einer religiös inspirierten Lebensform. Ritschl gewann seine Protestantismusdeutung durch die kultur-, kirchen- und dogmengeschichtliche Rekonstruktion der religiösen Grundeinsicht Luthers, des ihr zugeordneten Kirchenbegriffs und dabei vor allem des mit ihr zur Geltung gebrachten Lebensideals, wobei Ritschl aber auch keineswegs verschwiegen hat, dass wesentliche Motive protestantischer Religion erst später, im Zuge gesellschaftlicher Transformationen zur Moderne zum Durchbruch gekommen sind.

Weitere Spielarten in der Deutung von Protestantismus und Neuzeit, dabei eines modernen Religionsverständnisses, werden in diesem ersten Teil vorgeführt. Jörg Dierken diskutiert Blumenbergs religionskritisches Plädoyer für die Legitimität der Neuzeit und klagt dabei religionsbegründende Weiterführungen ein. Jan Rohls macht die Transformationen protestantischer Theologie an den Wandlungen der Gestalt des Faust, dieser Figur der Neugierde, der Magie und der Wissenschaft fest, vom Volksbuch des 16. Jh.s bis zum Dr. Faustus des Thomas Mann. Auch Gunter Wenz geht auf eine kulturpraktische Bildung des neuzeitlich umgeformten Protestantismus ein. Er zeigt, wie "Gottfried Keller als literarischer Adept der Religionskritik Ludwig Feuerbachs" verstanden werden kann. Michael Murrmann-Kahl schließlich führt vor, wie Paul Tillich in den 20er Jahren des 20. Jh.s im Unterschied zur Wort-Gottes-Theologie das Erbe protestantischer Kulturtheologie zu bewahren versucht hat, er somit die besten Anschlussmöglichkeiten für die von Wagner eingeforderte Arbeit an der Umformungskrise bietet, auch wenn es dann doch noch der "Entschärfung" gewisser ontologischer Restbestände bei Tillich bedarf.

Der Band führt im zweiten Teil die direkte, teilweise auch kritische Auseinandersetzung mit Wagners kraftvoll vorgetragenen Thesen zu der dem Protestantismus als der Religion der Moderne unumgänglichen Umformungskrise, zu den Folgen des für seine gegenwärtige Lage ruinösen Ausstiegs aus der Umformungsarbeit, den die Wort-Gottes-Theologie vollzogen hat, zu seinem energischen Plädoyer für eine praxisnahe, den lebensgeschichtlichen Sinnbedürftigkeiten der Individuen in der modernen Gesellschaft zugewandten Religionstheologie.

Martin Berger und Christian Henning bemühen sich um eine behutsame Erläuterung der religionstheologischen Konzeption des späten Wagner und unternehmen es, ihre Plausibilität und Praxistauglichkeit durch modernitätstheoretische bzw. religionspsychologische Erweiterungen zu steigern. Ulrich H. J. Körtner, der systematisch-theologische Kollege Wagners an der Wiener Fakultät unternimmt es, die dogmatischen Konzepte der Wort-Gottes-Theologie (Barth, Bultmann, Jüngel) gegen Wagners Frontalangriff zu verteidigen. Die Differenzierungen, die er in seinen kleinteiligen Referaten einbringt, sind zwar einer historischen Rekonstruktion dieser Theologieformation angemessen, berühren jedoch gar nicht den Hauptpunkt der Kritik, die Wagner gegen sie anführt, nämlich dass sie in ihrer erkenntnis- und symboltheoretischen Harmlosigkeit sich über die Konstitutionsbedingungen der theologischen Rede von Gott und seinem Offenbarungswort nie hinreichend Rechenschaft abgelegt haben.

Vorliegender Band entwickelt im dritten Teil "Perspektiven protestantischer Reflexion". Er gibt weitere Anregung zu einer Diskussion, die Wagners Protestantismusdeutung provoziert hat und der sich die Theologie in Zukunft stellen muss, wenn sie den Anforderungen nicht ausweichen will, die sich für sie aus der religiösen Lage in der Moderne ergeben. Manuel Zelger rekurriert auf Schleiermachers "Reden über die Religion" und zeigt auf, wie trefflich dort schon die Bedingungen religiöser Kommunikation in der funktional differenzierten Gesellschaft reflektiert sind. Dietrich Korsch entwickelt eine höchst anregende Skizze einer nicht-dogmatischen "Theologie des Wortes Gottes". Er findet im Unterschied zu Körtner plausible Argumente dafür, dass auch eine neuprotestantische Theologie, die der Religion der Individuen, damit der Deutung der von vielfach unbegreiflichen Gegensätzen bestimmten Erfahrungen ihres Lebens, durch den Aufbau Sinn stiftender Symbolisierungen zugewandt ist, nicht davon Abstand nehmen muss, sich als "Theologie des Wortes Gottes" zu entfalten. Im Gegenteil, setzt sie den Begriff des Wortes Gottes nicht dogmatisch-inhaltlich, sondern sprach- und symboltheoretisch an, dann kann sie gerade als "Theologie des Wortes Gottes" die religiös wesentliche Einsicht zur Geltung bringen, dass das Wort Gott und die biblischen Symbolgeschichten, die von ihm auf menschliche Weise erzählen, menschliches Leben in seiner letztlich antinomischen Grundverfassung deuten, Gott allein im Wort von ihm, aber eben auch nur, indem von ihm gesprochen und erzählt wird, im humanen Bewusstsein zur Präsenz kommt.

Traugott Koch zeigt auf erhellende Weise auf, was eine solche nicht-dogmatische Theologie des Wortes Gottes für das kirchenleitende Handeln bedeutet. Es führt dazu, dass die Kirche von dem Anspruch ablässt, die verschiedenen Perspektiven der religiösen Individuen normieren zu wollen, sie als die zur eigenen Einsicht in die Wahrheit fähigen Individuen anzuerkennen und deshalb die kirchliche Aufgabe darin zu sehen, die Auseinandersetzung und den Dialog zwischen differenten Perspektiven religiöser Selbstauslegung zu unterstützen und zu begleiten. Matthias Geist reflektiert auf den Beruf des Pfarrers und der Pfarrerin und expliziert, welche Kompetenzen es braucht, um diese Aufgabe der Moderation und Begleitung religiös selbständiger Individuen zu leisten. Den Abschluss des Bandes bildet eine empirisch-religionspsychologische Arbeit von Erich Nestler, die mit der Befragung von Konfirmanden erhellt, dass die in den vorangegangenen Beiträgen den Zeitgenossen unterstellten religiösen Autonomieanmutungen bei heutigen Jugendlichen tatsächlich festzustellen sind.

Es liegt hiermit insgesamt ein anregendes Buch vor, das Falk Wagners Impulse zur Fortsetzung der modernen Umformung des Protestantismus aufnimmt und der Diskussion um die Zukunftsfähigkeit des Protestantismus neue Anstöße geben kann.