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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

311–314

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Löffler, Ulrich

Titel/Untertitel:

Lissabons Fall - Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1999. XIII, 721 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 70. Geb. ¬ 118,00. ISBN 3-11-015816-7.

Rezensent:

Andres Straßberger

Ulrich Löffler hat eine ebenso detaillierte wie umfangreiche Untersuchung zur Deutung jenes Naturereignisses im 18. Jh. vorgelegt, dem bis in die Gegenwart immer wieder der Charakter eines Wendepunktes in der geistigen Reflexion der Zeit zugesprochen wird. Insbesondere wird das verheerende Erdbeben von Lissabon (1755) für die Behauptung in Anspruch genommen, dass durch die Faktizität potenzierten Übels der Leibniz-Popesche Optimismus gleichsam "erschüttert", wenn nicht sogar erledigt worden sei. Auf diesem Hintergrund wird L.s Buch für die verschiedensten Forschungskontexte interessant. Es handelt sich bei seiner Arbeit um eine von Horst Weigelt betreute Promotionsschrift, die 1995/96 an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen eingereicht und für den Druck nochmals durchgesehen wurde.

Der Vf. hebt in der Einleitung hervor, dass sich sein Interesse bei der Analyse von Erdbebenschriften aus dem deutschsprachigen Protestantismus insbesondere auf "inhaltliche Divergenzen und Differenzierungen" der Deutungsstrategien richtet, da diese "... in nicht geringem Maße das Spektrum protestantischer Frömmigkeit [indizieren]" (3). Diese Fragestellung ist in die oben angedeutete Leitperspektive eingeschlossen: L. versteht sein Unternehmen "als Beitrag zu einer notwendigen Präzisierung" (1), die auf dem Hintergrund der angeblichen Erledigung des Leibniz-Popeschen Optimismus zu leisten ist. Damit rückt für ihn "eine differenzierte Bestimmung jener theologischen Auseinandersetzungen und Probleme" in die Mitte, "die in der These von einer ,Erschütterung des Optimismus' durch das Lissabonner Erdbeben nur vage wahrgenommen oder sogar ganz übersehen werden" (2). Methodisch wählt der Vf. einen theologiehistorischen Ansatz, bei dem die vergleichende Analyse religiöser Katastrophendeutungen innerhalb eines zunächst eng abgegrenzten Diskursgeschehens verbleibt und auf dem Hintergrund der Frage nach Tragfähigkeit und Transformation einer philosophischen Konzeption durchgeführt wird. Der Untersuchungszeitraum wird auf dieser Basis bis ans Ende des 18. Jh.s ausgedehnt. So soll schließlich geklärt werden, "mit welchem Recht und wie von einer Erschütterung des Optimismus durch die Katastrophe des Jahres 1755 gesprochen werden kann" (4). L. gibt dem Leser über dieses systematisch-theologische Interesse am Ende seiner Untersuchung Rechenschaft (628-630), wo er die Ergebnisse seiner Arbeit auf "die weiterführende Frage nach der theologischen Legitimität (schöpfungs-)theologischer Katastrophendeutung überhaupt" (628) zuspitzt.

Das erste Kapitel (5-114) umfasst drei Arbeitsschritte. Zunächst zeigt L. die schillernde rhetorische Verwendung des Datums "1755" in Texten des 20. Jh.s auf (7-26) und belegt damit einerseits, wie das Erdbeben von Lissabon als Metapher für die verschiedensten Zusammenhänge beansprucht werden kann (die behauptete Erledigung des philosophischen Optimismus eingeschlossen). Andererseits wird so auch deutlich, dass die Deutungen sich längst vom historisch konkret fassbaren Ereignis losgelöst und rhetorisch verselbständigt haben. Die daran anschließende, ausführliche Sichtung der Forschungsliteratur (27-83) konzentriert sich auf Arbeiten, die "eine theologiegeschichtliche Perspektivierung [ein Lieblingswort L.s - A. S.] auf außerportugiesische Reaktionen zum Erdbeben von Lissabon" (27) erkennen lassen. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen dabei u. a. die im Ergebnis gegensätzlichen Arbeiten von Wilhelm Lütgert (1901) und Thomas D. Kendrick (1956). Lütgert vertrat mit seiner klassischen und im deutschen Sprachraum ungemein wirksamen Deutung die These, daß am Datum 1755 eine Krise des Glaubens festzumachen sei. Der Vf. wertet den Ansatz Lütgerts als "konzentrierte Formulierung einer systematischen Position mit ausführlicher historischer Einleitung" (37). Er kritisiert daran insbesondere, dass die Vielfalt der Gattungen von Erdbebenschriften nicht berücksichtigt wurde und dass die Argumentation "oft nur knapp an den Quellen zurückgebunden" (38) ist. Demgegenüber sieht L. bereits bei Kendricks Arbeit "die Wirkmächtigkeit des Optimismus eher relativiert als völlig vernichtet" (54). Angesichts der bei Lütgert paradigmatisch greifbaren mangelnden Quellennähe und dem entgegengesetzten, auf englische Äußerungen konzentrierten Bemühen Kendricks, "die vielfältigen ereignis- und deutungsgeschichtlichen Aspekte der Thematik in einer Gesamtschau zur Sprache zu bringen" (57), profiliert L. sein eigenes Vorgehen. Folgerichtig wendet er sich im dritten Abschnitt der Phänomenologie der Erdbebenschriften zu (84-114). Als zentral wertet er dabei eine doppelte Beobachtung: Zum einen wird das Ereignis in den Erdbebenschriften nicht nur gedeutet, sondern oft auch beschrieben und geschildert. Zum anderen müsse bei den Quellen hinsichtlich ihrer äußeren Vielfalt (= Textgattungen) und inneren Vielfalt (= [Kombination verschiedener] Deutungsansätze) differenziert werden.

Davon ausgehend wendet sich das zweite Kapitel (115-180) zunächst dem Erdbeben von Lissabon selbst zu, und zwar in seinem Hergang und den unmittelbaren Folgen sowie praktischen und geistigen Bewältigungsversuchen "vor Ort". Seine Rekonstruktionsarbeit leistet der Vf. unter Einbeziehung portugiesischen Archivmaterials und gedruckter Quellen. Es gelingt ihm dabei, ein anschauliches und aufschlussreiches Bild der Ereignisse jenes Allerheiligentages 1755 nachzuzeichnen, an dem das Erdbeben und seine Epiphänomene eine heute nicht mehr genau bestimmbare, hohe Zahl von Menschenleben forderte und die Stadt Lissabon fast völlig dem Erdboden gleichmachte. Als "eine Brücke zu einem ganz entscheidenden Deutungshorizont der deutschen Interpretationen im Raum des Protestantismus" (179) erscheint L. die Beobachtung, dass aufgeklärt-rationales Katastrophenmanagement durch den Marqês de Pombal und religiöse Interpretation (Erdbeben als Strafe Gottes; Aufruf zu Buße und Umkehr) in Konkurrenz zueinander treten konnten: "Religiöse Deutung und rationaler Deutungs- und Handlungszugriff standen sich in diesem Falle unversöhnlich gegenüber" (180).

Im umfangreichsten, dritten Kapitel der Arbeit (181-514) wendet sich L. der mit mikroskopischer Genauigkeit durchgeführten Analyse einer immensen Zahl von Wortmeldungen zum Erdbeben aus der Feder deutschsprachiger protestantischer Theologen und Nichttheologen zu. Mit diesem Zugriff können Deutungsangebote von Gelegenheitsautoren und Brotschreibern, Dichtern und Möchtegernpoeten, Bußpredigern und jenem "Königsberger Philosophen" einbezogen werden, der am Ende das Jahrhunderts das "Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee" verkündete. Dabei folgt L. der von ihm herausgestellten doppelten Differenzierung der Quellen nach Gattungen (Kap. 3.1. Gelegenheitsschriften und Zeitungen; 3.2. Poetische Katastrophendeutung; 3.3. Erdbebenpredigten) und innerer Argumentationsstruktur. Akribisch werden die vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten der unterschiedlichen Deutungsansätze und katastrophentopischen Motive herausgearbeitet. Berichtende, naturwissenschaftliche, theologische und ethische Argumentationsmuster bilden dabei die primären Deutungssegmente, die ihrerseits aus verschiedenen Aspekten zusammengesetzt sein können. So finden sich etwa in theologischen Argumentationen physikotheologische, bußtheologische, eschatologische und/oder konfessionell-polemische Aspekte wieder, in z. T. spezifischer Kombination und argumentationstragender Funktion. L. fasst am Ende seiner Untersuchung den Befund prägnant zusammen: "Die Deutungsformen und Deutungsinhalte innerhalb des deutschsprachigen Protestantismus lassen es nicht zu, eine in sich isolierte interpretative Grundthematik (etwa: Streit um den Optimismus) anzunehmen oder die Bewertungen der Katastrophe in einfache Alternativmodelle (etwa: aufgeklärte Naturwissenschaft versus Theologie) einzuordnen" (620).

Die auf den ersten Blick sinnvolle gattungstypologische Untergliederung des Kapitels fordert dem Leser zunehmend Geduld ab, denn das Vorgehen bringt eine Reihe inhaltlicher Wiederholungen und Überschneidungen mit sich, die einen Ermüdungseffekt bewirken. Schwerwiegender ist demgegenüber der Eindruck, einen roten Faden bzw. interpretative Leitlinien bei der Darstellung vermisst zu haben. Mit dem Arbeitsvorhaben der "Präzisierung" bzw. "Differenzierung" eines Themas ist der Vollgehalt historischen Arbeitens letztlich nicht erreicht. Es ist daher zu bedauern, dass der Vf. erst in den zusammenfassenden Erwägungen (616-628) manche These in einer Klarheit ausspricht, die dem Rez. im Haupttext nicht in dieser Transparenz erkennbar war. So betont der Vf. in der Zusammenfassung z. B. die Integrationsfähigkeit physikotheologischen Denkens über die unterschiedlichen theologischen Deutungshorizonte (Pietismus, Spätorthodoxie, Neologie) hinweg (620 f.). Bei der Lektüre des Haupttextes ist mir diese Pointe entgangen. Gerade im Hinblick auf das zunehmende Interesse der theologischen Forschung am Mit-, Neben- und Gegeneinander der verschiedenen theologischen Richtungen im 18. Jh. hätte man sich hier ein wenig mehr Mut des Vf.s zu verallgemeinernden Schlüssen gewünscht. Denn an thesengenerierendem Material ist in der Arbeit wahrlich kein Mangel.

Im letzten Kapitel (",Sismotheologie'? - Deutungen des Erdbenens von Lissabon zwischen Marginalisierung und Transformation" [515-615]) weist L. - durchaus frappierend - nach, wie schnell das Thema der verheerenden Naturkatastrophe in der Folgezeit durch die Beschäftigung mit einer von Menschenhand geschaffenen Katastrophe ersetzt wurde: Eine Analyse der Buchmesskataloge von 1755 bis 1759 (517-525) bringt ans Licht, dass die Reflexion über das Erdbeben schnell durch die Schrecken des Siebenjährigen Krieges als Tagesthema abgelöst wird. So bleiben unter dem Strich lediglich die Jahre 1756 und 1757 als Zeit einer quantitativ intensiven Auseinandersetzung mit dem Erdbeben übrig. Dieses äußere Anzeichen signalisiert- so die diskussionswürdige These L.s - eine Wende von qualitativer Bedeutung. Nunmehr steht nicht die Frage nach der unmittelbaren Evidenz der Natur(katastrophe) hinsichtlich ihres Verweischarakters auf den Schöpfer im Mittelpunkt. Sondern der "Mensch ... als vornehmste[r] Teil und als Leser des von Gott geschaffenen Naturbuches" bzw. die "Bedingungen und Folgen rechter Gotteserkenntnis aus der Natur" (626) treten in den Mittelpunkt einer physikotheologisch verankerten Reflexion. Die damit aufscheinende Flexibilität physikotheologischen Denkens erweist sich jedoch in der Folgezeit als nicht beliebig dehnbar und von unbegrenzter Dauer. Am Beispiel der "Sismotheologie" (1772) von Johann Samuel Preu zeigt sich, "daß die Physikotheologie ihren Integrationsanspruch zwar noch behauptete, aber nicht mehr aufrechterhalten konnte" (627). Die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit werden im Anschluss an dieses Kapitel in einer prägnanten Zusammenfassung aufbereitet (616-628).

Die diagnostizierte Schwerpunktverlagerung des im letzten Kap. beschriebenen Marginalisierungs- und Transformationsprozesses physikotheologischen Denkens hin zu einer Anthropologisierung der Argumentation nach 1755 erscheint mir - trotz aller im Detail zutreffenden Analysen - als problematisch. Ist es möglich, hier von einer Kausalität der Ereignisse auszugehen? Um 1755 hatte die Physikotheologie ihren Höhepunkt ja schon längst überschritten. Insofern scheint es mir fraglich, ob dem Erdbeben von Lissabon diesbezüglich eine katalytische Rolle zuzuweisen ist. Überzeugender wäre m. E. der Ansatz gewesen, die (physiko-)theologischen Konzepte und ihre Handhabung bei der Deutung katastrophaler Naturereignisse hinsichtlich ihrer Anwendung vor 1755 zu befragen, um auf diese Weise Kontinuitäten und Diskontinuitäten plausibel zu machen.

Die Untersuchung L.s zum Erdbeben von Lissabon darf sich das Verdienst zurechnen, den endgültigen Nachweis erbracht zu haben, dass es schlechterdings unmöglich ist, mit dem Datum "1755" für die Zeitgenossen einen Zusammenbruch des optimistischen Denkens zu behaupten. Ob und wie die rhetorische Verselbständigung dieser Naturkatastrophe in der Folgezeit nicht dennoch auf eine "Erschütterung in den Köpfen" hindeutet, die zwar nicht unmittelbar aus den Erdbebenschriften herauszulesen ist, deren Ursprünge aber als nachträgliche Konstruktion für dieses Ereignis geltend gemacht wurden (man denke hier nur an die Äußerungen des alten Goethe über die [angebliche] Wirkung des Erdbebens auf ihn als Knaben), ist nicht die Aufgabe, deren Lösung der Vf. angestrebt hatte. Für Fragestellungen dieser Art hat er aber den Weg frei geräumt und bietet mit dem von ihm aufbereiteten Material in vielerlei Hinsicht Anregungen zu weiterer Forschung.

Als störend bei der Lektüre empfand der Rez. die oft den Lesefluss unterbrechende Platzierung der Anmerkungen (z. B. 84, Anm. 1 u. 2), die stellenweise unklare Verwendung des Zeichens "[!]" (z. B. 197 u. 236) sowie die Tatsache, dass das Jahr der Ersterscheinung bei Quellenschriften, die über moderne Texteditionen zugänglich sind, im Quellenverzeichnis meistens und im Textteil (z. B. 118 mit Anm. 6 u. 7; Anm. 34, S. 546) gelegentlich verschwiegen wird. Die Auswertung der Buchmesskataloge ist der Arbeit als Anhang beigefügt (631-647). Das untergliederte Quellen- und Literaturverzeichnis, das die außerdeutschen und deutschen Erdbebenschriften gesondert ausweist, dürfte sich zukünftig als unentbehrliche Bibliographie zum Thema erweisen. Dem Buch ist ein gut gearbeitetes Personenregister beigegeben.