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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

309–311

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ketola, Mikko

Titel/Untertitel:

The Nationality Question in the Estonian Evangelical Lutheran Church, 1918-1939.

Verlag:

Helsinki: Suomen Kirkkohistorallinen Seura. Finnish Society of Church History. Societas Historiae Ecclesiasticae Fennica 2000. 356 S. m. Abb. 8 = Publications of the Finnish Society of Church History, 183. ISBN 952-5031-17-9.

Rezensent:

Riho Altnurme

Mikko Ketola behandelt in seiner Dissertation ein bis jetzt wenig erforschtes Thema in der estnischen Kirchengeschichte - die nationalen Beziehungen in der lutherischen Kirche während der ersten Unabhängigkeitsperiode zwischen den zwei Weltkriegen. Es werden dabei hauptsächlich die Beziehungen zwischen Esten und Deutschen - den zwei größten Nationalitäten in der evangelisch-lutherischen Kirche Estlands (EELK) - in der Zeit bis 1939 berücksichtigt, als die meisten in Estland ansässigen Deutschen auf Hitlers Ruf hin nach Deutschland umsiedelten.

Das Jahr 1918 galt als Markstein in der estnischen Geschichte - die ursprüngliche Einwohnerschaft erwarb die Eigenstaatlichkeit, was in Estland (sowie in Lettland) eine gewisse Zurückdrängung und teilweise Expropriation der deutschen Bevölkerung nach sich zog (Enteignung der Güter von Deutschbalten, darunter auch der Kirchengüter durch die Bodenreform von 1919), die bis dahin eine dominierende Rolle gespielt hatte (und sich im Grunde genommen mit der herrschenden sozialen Schicht deckte). Die lutherische Kirche war eine der Institutionen, in der die Deutschen zu jener Zeit die führenden Posten innehatten und die aus diesem Grunde öfter als "Herrenkirche" betrachtet wurde. Bestärkt durch das nationale Erwachen und die Emanzipation der Esten, begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s der estnische Klerus herauszubilden, dem es darauf ankam, in dem selbstständigen Staat eine nationale Kirche aufzubauen und die Deutschen von ihren bis zu dieser Zeit bewahrten führenden Positionen in der Kirche zu verdrängen. Bereits 1917 wurde der erste nationale Kirchenkonvent einberufen, der sich zum Ziel setzte, eine "freie Volkskirche" zu gründen. Zu praktischen Aktivitäten kam es 1919. Auf dem zweiten Konvent, an dem sich auch Deutsche beteiligten, ging die Führung der Kirche von den Deutschen auf die Esten über, indem zum ersten Mal ein Este Jakob Kukk zum Bischof gewählt wurde und die Deutschen in dem neugewählten Konsistorium keinen Platz erhielten. Dabei waren zu dieser Zeit 65 deutsche und 57 estnische Pastoren im Amt - die Machtübernahme kam dank der Stimmen der Gemeindevertreter zustande. Die Deutschen waren auch weiterhin in der Geistlichkeit zahlenmäßig relativ stark vertreten, obwohl die Proportionen schon im folgenden Jahr umgekehrt aussahen - 60 deutsche Pfarrer gegenüber 68 estnischen. Bis zu ihrer Aussiedlung bildeten die deutschen Geistlichen zu der Kirchenführung mal stärkere, mal schwächere Opposition.

K. beschreibt in den fünf Hauptkapiteln seiner Arbeit die "Übernahme" der Kirche durch die Esten in den Jahren 1918-1924, den Kampf um die lutherische Domkirche 1925-1930, die Gründung der Lutherakademie 1931, die Periode des Übergangs von der Konfrontation zur Koexistenz 1932-1938 und schließlich den "Bischofskrieg" sowie die Aussiedlung der Deutschen im Jahre 1939. Die bedeutendsten Abschnitte sind die drei erstgenannten, denen vom Autor auch größere Aufmerksamkeit gewidmet wird, während die zwei letztgenannten eine weniger eingehende Behandlung finden.

Als eine gewisse Kompensation für die Machtübernahme durch die Esten in der Kirche galt für die Deutschen (sowie für Schweden) die Gründung der nationalen Propsteien im Jahre 1921. Es gab vorerst etliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wem das Eigentumsrecht an der Olevistekirche zustehen sollte (der deutschen oder der estnischen Gemeinde) sowie über die Umgestaltung der theologischen Fakultät im nationalen Geiste. Die nationale Angehörigkeit spielte eine maßgebende Rolle auch bei der Debatte zwischen Konservativen und Liberalen über die Auslegung der Bekenntnisschriften. Die Deutschen beharrten auf dem konservativen Standpunkt, und ihre Unterstützung sicherte dieser Partei den Sieg.

Konflikte zwischen den Esten und Deutschen wurden am heftigsten in den Debatten über das Eigentumsrecht an der lutherischen Domkirche, die bis zu dieser Zeit im Besitz der deutschen Gemeinde gewesen war, sowie über die Gründung der Lutherakademie, einer höheren theologischen Lehranstalt für die deutsche Bevölkerung. Das Eigentumsrecht an der Domkirche wurde (im Hinblick auf die Gerichtsprozesse) nach einem sieben Jahre lang geführten Streit allerdings mit staatlicher Gewalt übernommen und dem Bischof zugesprochen. Mit dieser Lösung waren die Deutschbalten natürlich nicht zufrieden - der Redakteur Axel de Vries ließ den diesbezüglichen Artikel in der deutschbaltischen Zeitung "Revaler Bote" in einen Trauerrahmen einfassen und erhielt für diese Tat von den Behörden einen Monat Arrest und eine Geldstrafe. Der Übernahme der Kathedrale folgte eine Reihe von Gerichtsprozessen, die für Deutschbalten jedoch alle leer ausliefen.

Die philosophisch-theologische Lehranstalt Lutherakademie in Tartu, deren Eröffnung teils als Reaktion auf die oben erwähnten Ereignisse und auf die Umgestaltung der theologischen Fakultät im nationalen Geiste, teils als Befriedigung der persönlichen Ambitionen von Werner Gruehn, dem Initiator ihrer Gründung anzusehen war, wurde zu einem neuen Konfliktherd. Als deutschsprachiges Pendant zur theologischen Fakultät der Universität Tartu, die immer mehr estnische Prägung annahm, erfreute sich die Lutherakademie selbst unter den Deutschen keiner besonderen Beliebtheit und blieb bis zu ihrer Auflösung 1939 lediglich ein Ort, wo Reichsdeutsche gelegentlich ihr "Ostsemester" verbrachten.

Dem Tod des ersten Bischofs der EELK Jakob Kukk und der Wahl von Hugo Bernhard Rahamägi zum neuen Bischof im Jahre 1934 folgte eine gewisse Entspannungsperiode, da die Deutschbalten gerade den erstgenannten mit der Übernahme der Domkirche und mit der Schwächung der Positionen der Deutschen in der estnischen Kirche in Verbindung brachten. Allerdings blieben die Deutschbalten in der Machtkrise von 1939 (im Laufe derer der Bischof infolge einer versuchten Ehescheidung zurückgesetzt wurde) in der Opposition, indem sie die konservativen Kreise unterstützten. Mit der 1939 beginnenden Umsiedlung der Deutschen nach Deutschland kamen die estnisch-deutschen Beziehungen und zugleich auch die damit verbundenen Probleme zu einem abrupten Ende.

In der Zusammenfassung stellt K. fest, dass sich den Esten ab 1939 erstmals die Gelegenheit anbot, eine estnische Nationalkirche zu gründen, insofern die deutsche Minderheit, die mittlerweile als Fremdkörper in der Kirche anzusehen war, das Land verlassen hatte. Die sowjetische Besatzung hat es jedoch verhindert, dieses Ideal zu verwirklichen.

Das Buch gründet sich auf ein reichhaltiges Quellenmaterial, in dem deutsche und estnische Archivalien und Zeitungen aus der behandelten Zeit tonangebend sind. Der Stil ist sachlich-berichtend, K. drängt dem Leser seine Standpunkte nicht auf, sondern legt sie am Ende jedes Kapitels in bescheidenem Ton dar. Bei der Behandlung eines Konflikts setzt sich der Autor nicht für die eine oder andere Partei ein, sondern versucht die Gegebenheiten in allen Einzelheiten - von beiden Seiten aus betrachtet - wiederzugeben. Dank dieser Darstellungsweise ist die Arbeit für die Nachkommen beider Parteien gleichermaßen gut lesbar. Unter Umständen könnte man dem Autor vorwerfen, die internationalen Hintergründe und analogen Prozesse in den Nachbarländern nicht genügend erhellt zu haben. Doch im Hinblick auf den heutigen Stand der Forschungen zur jüngsten Geschichte der estnischen Kirche kann man sich nur freuen, dass mit dieser Arbeit, deren Zustandekommen Recherchen in vielen bisher nicht benutzten Quellen voraussetzte, ein gute Grundlage für künftige Forschungen über weitere Zusammenhänge geschaffen worden ist.