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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

306–308

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Heinrichs, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne.

Verlag:

Köln: Rheinland 2000. XIII, 852 S. m. 20 Abb. u. 1 Porträt. 8 = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 145. Geb. ¬ 29,65. ISBN 3-7927-1823-5.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die vorliegende Arbeit, eine überarbeitete Wuppertaler Habilitationsschrift von 1996 (K.-H. Beeck), versteht sich als mentalitätsgeschichtliche Untersuchung zu Kontinuität und Wandel der Vorstellungen von Juden und Judentum in den repräsentativen protestantischen Zeitschriften der Kaiserzeit. Die Judenbilder, so der Leitgedanke, spiegeln das ambivalente Verhältnis des zeitgenössischen Protestantismus zur Moderne und ihren Krisenphänomenen. Damit werden bekannte Ansätze vom Wechselverhältnis zwischen Antisemitismus und Abwehr der Moderne aufgenommen und auf dem Hintergrund der "Krisenmentalität" des Kaiserreichs phasen- und schichtenspezifisch modifiziert.

Der dem "Judenbild im Spektrum der kirchlichen und theologischen Führungsorgane" gewidmete Hauptteil (32-483) macht deutlich, dass die Judenbilder als Chiffren der Gegenwartsdeutung mit gewissen Verschiebungen den Krisen- und Aufschwungphasen der allgemeinen Reichsentwicklung folgen. So finden sich vorwiegend positive, die Juden als Hoffnungsträger in der Auseinandersetzung mit der Moderne stilisierende Judenbilder in der unmittelbaren Zeit der Reichsgründung und der "imperialistischen Hochkultur" vor dem Ersten Weltkrieg, eine massive Judenkritik dagegen in den Zeiten der Antisemitismuswellen in der Gründerkrise und in den 1890er Jahren.

Im konfessionellen Luthertum ("Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung") sind die inneren Ambivalenzen von Anfang an deutlich. Einerseits wird in der Reichsgründungsphase noch nach einer bedingten Akzeptanz der Judenemanzipation gesucht, andererseits wird diese im Zuge der antiliberalen Frontstellung abgelehnt. In den Krisenphasen erscheint vor allem das liberale Judentum als "moderne" gesellschaftszersetzende Kraft. Rassenideologie und religiöse Überhöhung der Nation werden in ihren radikaleren Formen abgelehnt, doch in konservativer Ermäßigung mit Sympathie aufgenommen oder gar befördert. Anders als in der antisemitischen Bewegung werden die judenfeindlichen Aussagen des späten Luther kaum rezipiert. In entspannteren Phasen wird vor allem das orthodoxe Ostjudentum freundlicher gezeichnet, weil es eigene Anliegen zu bestätigen scheint.

Die reformierte Tradition hat sich weit weniger als das konfessionelle Luthertum auf die antisemitischen Wellen eingelassen. Leitend bleiben der Missions- und Erwählungsgedanke, doch lässt sich auch hier eine zwiespältige Sicht des Judentums als christentumsfeindlicher Macht und als Offenbarungsvolk beobachten. - Im Bereich der "Positiven Union" ("Neue Evangelische Kirchenzeitung" u. a.) fällt auf, dass schon vor der Reichsgründung eine massive Kritik am "modernen" Judentum als Bahnbrecher staatsrechtlicher Säkularisierung einsetzt. Seit der Reichsgründung finden dann unter christlich-nationalen und antiliberalen Leitvorstellungen massive antisemitische Topoi Eingang in die publizistischen Organe. Deutlich wird einmal mehr A. Stoeckers prominente Rolle als Popularisierer eines "christlich-sozialen" Antisemitismus. - In der Gemeinschaftsbewegung ("Licht und Leben") spielt erwartungsgemäß die eschatologische Grundstimmung und der heilsgeschichtlich verankerte Missionsgedanke die entscheidende Rolle. Dies ermöglicht auch eine positivere Bewertung der zionistischen Bewegung. Im konservativen Lager hat das Gemeinschaftschristentum am deutlichsten Distanz zum politischen Antisemitismus gehalten. - Das Judenbild der sog. Mittelpartei, der "Evangelischen Vereinigung" ("Deutsch-Evangelische Blätter") vereinigt nach H. die Klischees aller übrigen Richtungen des Protestantismus (315). Männer wie W. Beyschlag bemühen sich noch um klare Abgrenzungen vom politischen Antisemitismus, doch die kulturellen Elemente des Volks- und Rassebegriffs treten zunehmend hinter biologistischen Sichtweisen zurück.

Die Stimmen des liberalen (Kultur-)Protestantismus ("Protestantische Kirchenzeitung" u. a.), die sich zu Beginn des Kaiserreichs noch für Rechtsgleichheit und Emanzipation der Juden einsetzen, üben seit der "konservativen Wende" nach 1878/79 mehr und mehr Kritik am jüdischen Liberalismus und am orthodoxen Judentum. Die angeblichen Defizite an deutschem Nationalgefühl und wirtschaftsethischer Verantwortung werden zunehmend kritisch herausgestellt.

Aus dem Umkreis der "Freunde der Christlichen Welt" kommen u. a. zur Sprache: A. Harnack und sein Bemühen um innerkirchliche Ausklammerung der sog. "Judenfrage", M. Rade und sein Eintreten für Minderheitenrechte und die Neubegründung des christlich-jüdischen Verhältnisses unter den Vorzeichen von Versöhnung und Dialog, sowie E. Förster, O. Baumgarten und F. Naumann. Sie alle verbinden auf je eigene Weise die Vorstellung von einem religiös-kulturell und national defizitären Judentum mit der Krisendiagnose der Moderne, lehnen aber den Antisemitismus ab. - Das wichtige, "den Wandel und die Zwiespältigkeit des protestantischen Judenbildes" aufzeigende Kapitel zur Judenmission (484-594) macht u. a. deutlich, wie die "Krise der Moderne" in eschatologischer Deutung sowohl als Klärungs- wie als Zersetzungsprozess gedeutet werden und entsprechend gegensätzliche Judenbilder generieren kann. - Ein weiteres Kapitel ergänzt die Analyse durch die Untersuchung populärer kirchlicher Haus- und Heimzeitschriften. Die bislang beobachteten Typisierungen bestätigen sich: Juden erscheinen als Krisenakteure und -profiteure, als Krisenopfer und als Leitfiguren zur Krisenüberwindung.

Das Schlusskapitel (681-695) zeigt: Allen Richtungen des Protestantismus ist die Überzeugung vom Judentum als einer "suspekten Subkultur" (692) gemeinsam. Die übergreifend starke Präsenz antijüdischer Vorurteile und Mythen erleichtert die Integration rassenpropagandistischer und deutsch-völkischer Elemente, doch überwiegt die Ablehnung des Radau- und Rassenantisemitismus. Insgesamt fungieren die Judenbilder zugleich als "Verschlüsselungen der Kritik an der Moderne" (693). Als "Gegenbilder oder Vorbilder ... einer eigenen auf die Juden projizierten Identität" (694) verweisen sie auf protestantisch bürgerliche Identitätsprobleme.

Beigegeben sind Abbildungen von Juden in den einschlägigen Periodika nebst kommentierenden Anmerkungen (696-732). Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister schließen den Band ab.

Die von sorgfältiger Analyse bestimmte Arbeit stellt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von Antijudaismus und Antisemitismus im Kaiserreich dar (vgl. die Arbeit von O. Blaschke [Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, 1997], die für H. dem Gedanken der Ambivalenz zu wenig Rechnung trägt [11, Anm. 33], sowie die Arbeit von Chr. Wiese [Wissenschaft des Judentums und protestantischer Theologie im wilhelminischen Deutschland, 1999]). Eine stärkere Straffung mancher Teile und ein näheres Eingehen auf die in der Einleitung angesprochenen übergreifenden Fragestellungen (Kaiserreich als "Inkubationszeit" der Shoa?) sowie ein Sachregister wären hilfreich gewesen.

Der mentalitätsgeschichtliche Ansatz selbst verdient weitere Aufmerksamkeit, zumal dem Rückschluss von Meinungen (Ideologie) auf mentale Strukturen noch viel Unbestimmtes anhaftet. Auch dürfte der Leitbegriff der Ambivalenz auf der Realitätsebene - was die Wahrnehmung von jüdischer Seite einschließt - nur begrenzt tauglich sein. Allzu pauschale Mentalitätsthesen wie die von D. J. Goldhagen (1996) werden zu Recht kritisiert (7). Doch von einem breiten antisemitischen Potential und einer erheblichen Störung realitätsnaher Wahrnehmung von Juden und Judentum wird man - auch im Kontext relativ aufgeschlossener Konzeptionen- weiterhin ausgehen müssen.