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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

304–306

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bruch, Rüdiger vom [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Naumann in seiner Zeit.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. VI, 375 S. gr.8. Kart. ¬ 128,00. ISBN 3-11-016605-4.

Rezensent:

Hans Martin Müller

Während Friedrich Naumann, eine führende Gestalt des deutschen Liberalismus an der Wende vom 19. zum 20. Jh., sich seit Jahrzehnten einer regen biographischen Aufmerksamkeit erfreut, war die Einschätzung seiner allgemein als "wilhelminisch" gekennzeichneten Epoche sehr unterschiedlichen Urteilen und Betrachtungsintensitäten unterworfen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat darum zu ihrem 40-jährigen Bestehen auf einer wissenschaftlichen Tagung in Lauenburg 1998 den ebenso interessanten wie anspruchsvollen Versuch unternommen, Friedrich Naumann in seiner Zeit, also als aktiven und passiven Teilnehmer an den Brüchen und Umwälzungen dieser Epoche und als weiterwirkenden Akteur wahrzunehmen. Der Ertrag dieses Versuchs ist in dem vorliegenden Sammelband zusammengefasst.

Der Sache entsprechend sind im Wesentlichen Theologen und Zeithistoriker beteiligt, deren Beiträge ineinandergreifen. Die Fruchtbarkeit dieser interdisziplinären Zusammenarbeit zeigt sich vor allem in dem Abbau von Vorurteilen auf beiden Seiten: Der Protestantismus an der Wende vom 19. zum 20. Jh. kann nicht als eine Station auf dem Wege "von Luther über Bismarck zu Hitler" aufgefasst, der Liberalismus dieser Zeit nicht als "Götzendienst", den Karl Barth in Naumanns Theologie am Werke sah (337), begriffen werden. Zwar hat die Geschichtsschreibung diese nach 1945 gängigen Vorurteile längst ad acta gelegt, es bedarf aber noch erheblicher Kleinarbeit, um sie endgültig sine ira et studio aus den Quellen zu widerlegen. Darum bemühen sich die Mitarbeiter an diesem Sammelband in vorbildlicher Weise. Dabei ist von vornherein klar, dass sie keine umfassende Zeitdiagnose vornehmen, sondern nur einige wichtige Mosaiksteine zu einem noch unvollständigen Gesamtbilde beitragen können.

Die Ergebnisse werden in fünf Gruppen mit jeweils drei bis vier Einzelthemen präsentiert: "Politischer Gestaltungswille aus christlicher Verantwortung"; "Politischer Liberalismus in einer organisierten Welt"; "Kapitalismus und Freisinn im Kulturdiskurs"; "Transformationen in Weltkrieg und Weimarer Republik"; "Werk und Wirkung". Diese Themenstellung orientiert sich weitgehend an den Problemen der biographischen Entwicklung Naumanns, die z. T. schon zu seinen Lebzeiten wahrgenommen wurden (vgl. den zusammenfassenden Artikel Meyer-Benfeys in RGG1 IV, 706-710, 1913): das Verhältnis von Theologie und Christentum zu den zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Fragen, die differenzierte Bewertung der Sozialdemokratie, die sich in der Auseinandersetzung um den Revisionismus befand, die Probleme der nationalen Wendung des Liberalismus. Es kommt den einzelnen Beiträgen zu Gute, dass in den letzten Jahren eine Wendung unter den Zeithistorikern stattgefunden hat, die zu einer "Verschiebung im Urteil" über die "generelle Schwäche des Bürgertums in Deutschland" und zu "einer positiven Deutung" des Zusammenhangs von Nationalismus und Liberalismus führte (K. H. Pohl, 65 f.). Mehr und mehr trat dabei die These vom deutschen Sonderweg in den Hintergrund, so dass die Krise des 1. Weltkriegs als eine nicht auf Deutschland beschränkte krisenhafte Transformation begriffen werden kann, die auch den Liberalismus in Mitleidenschaft gezogen hat (H. Cymorek, 269 ff.).

An dieser Stellung macht sich allerdings ein Desiderat bemerkbar: Außer Ph. Alexandre, der Naumanns Stellung zu den deutsch-französischen Beziehungen 1899 bis 1919 untersucht, sind nur deutsche Gelehrte an den Beiträgen beteiligt; dadurch erscheinen die außerdeutschen Entwicklungen weitgehend ausgeblendet. Hier wäre eine vergleichende Darstellung der international parallel verlaufenden Zeitphänomene hilfreich gewesen, zumal Naumann ein interessierter Beobachter dieser Entwicklungen war.

Den Theologen interessiert natürlich besonders die Stellung Naumanns zu Protestantismus, Kirche und Sozialpolitik seiner Zeit. Der schon zu seinen Lebzeiten geäußerte Verdacht, er habe sich durch sein politisches Engagement von der Theologie getrennt, kann weitgehend widerlegt werden, wenn man nicht die Theologie auf die spezialisierte wissenschaftliche Theologie beschränkt oder einen "kirchennahen Protestantismus" (F. M. Kuhlemann, 91) auszumachen sucht, dem Naumann anscheinend fremd gegenüber stand. Wie differenziert hier die Dinge gesehen werden müssen, können K. Nowak an der Darstellung des Verhältnisses Naumanns zu A. v. Harnack oder J. Chr. Kaiser ("Naumann und die Innere Mission", 11 ff.) überzeugend aufzeigen. Freilich bleibt die Unterscheidung der speziell theologischen von den religiösen bzw. christlich-protestantischen Grundlagen im Denken und Handeln Naumanns stets zu berücksichtigen, wie die einzelnen Beiträge generell deutlich machen.

Im Rahmen einer Rezension ist es nicht möglich, der Vielzahl der Beiträge in ihrer jeweiligen Bedeutung für das Bild Naumanns in seiner Zeit einigermaßen gerecht zu werden. Jedenfalls geben sie eindrucksvoll wieder, dass es für Naumann "kein spiegelglattes, problemloses Christentum" gab, wie H. Ruddies seine Studie zur Theologie Naumanns und ihrer Wirkungsgeschichte überschreibt. Man kann diesen Beitrag gewissermaßen als eine abschließende Zusammenfassung dessen lesen, was die Lauenburger Tagung 1998 erbracht hat. Danach war Naumanns Wirkung auf die (nicht nur protestantisch-kirchliche) Nachwelt bestimmt und begrenzt durch seinen Versuch einer "Verhältnisbestimmung von Politik, Ethik und Religion" unter den Bedingungen der Moderne (331). Dass sie ihm nur bruchstückhaft gelungen (einige meinen auch misslungen) ist, mindert nicht seine Bedeutung, die letztlich in der Schaffung eines Problembewusstseins besteht, das Wissenschaft und Politik bis heute umtreibt. Naumann war Zeuge der Entstehung einer Massengesellschaft, der die überkommenen Sozialstrukturen nicht mehr gewachsen waren: Das hatte schon der Diakon im Rauhen Haus bemerkt, als die Innere Mission die traditionelle Parochialstruktur durch ein sozial-religiöses Vereinswesen ergänzen wollte. Aber auch dieser individualethisch bestimmte Versuch konnte, wie Naumann erkannte, nur unter Einsatz politischer Mittel gelingen. Das führte ihn nicht zum Abschied von der Theologie, wohl aber zu der von ihm nicht gelösten, aber doch energisch gestellten Frage des Verhältnisses von Politik und Ethik. Durch die Dringlichkeit und den Ernst, mit denen Naumann dieser Frage nachgegangen ist, fühlten sich diejenigen unter seinen Zeitgenossen und Nachfolgern, die gleich ihm die Identität des modernen Protestantismus in seiner Differenzierung suchten, "entweder bedroht, herausgefordert oder bestätigt" (334). Wie dem auch sei, die Aufgabenstellung ist nicht erledigt: "Auch wenn Naumann seine Existenz als Christ und Politiker nicht mit Hilfe einer dogmatisch konsistenten Theologie geführt hat, wenn er in seinen politischen Stellungnahmen dem Zeitgeist verhaftet blieb, so orientierte sich sein Werk dennoch an dem Ziel, die Gegenwartskultur mit dem christlichen Glauben und seiner Ethik zu imprägnieren." (342)

Von diesem durch Ruddies gezogenen Fazit her bleibt die Gestalt Naumanns in seiner Zeit ein besonderer Gegenstand theologischer und historischer Forschung. Hierzu hat der vorliegende Sammelband einen hervorragenden Beitrag geleistet.