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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

295–297

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Nielsen, Anders E.

Titel/Untertitel:

Until it is Fulfilled. Lukan Eschatology According to Luke 22 and Acts 20.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XVII, 326 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 126. ¬ 64,00. ISBN 3-16-147404-X.

Rezensent:

Reinhard v. Bendemann

Die angezeigte Arbeit wurde 1997 von der Aarhus University als Dissertation (im Vorwort: "Habilitationsschrift") angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet sowie ins Englische übersetzt.

N. versteht seine Arbeit als die erste breiter angelegte Analyse der lukanischen Eschatologie mittels einer "rhetorical exegesis" (Preface, V; 33). Überraschend ist die Textgruppe, die den Ausgangspunkt und Hauptgegenstand der Untersuchung bildet: Im Zentrum steht die ausführliche Analyse ,eschatologischer' Aussagen und Implikationen der beiden ,Abschiedsreden' Lk 22,14-38 (Kap. 3, 69-139) sowie Act 20,18-35 (Kap. 4, 140-202). In zwei komprimierteren Arbeitsgängen werden dann vergleichend die beiden sog. ,apokalyptischen' Abschnitte Lk 17, 20-37 und 21,5-36 analysiert (Kap 5, 203-242) sowie abschließend die Prolog- und Epilog-Abschnitte des lukanischen Doppelwerkes "in eschatologischer Perspektive" problematisiert (Kap. 6, 243-279).

In methodischer Hinsicht (Kap. 1, 1-39) ist N. an der literarischen Vorgeschichte ,eschatologischer' Aussagen bei Lukas uninteressiert (z. B. wird zu Lk 17,23-37 oder 22,28.30 die Frage der Q-Provenienz nicht verfolgt). Er distanziert sich von einer "... thematic or theological exegesis, for example with a redaction-critical stamp" (1).

Angesichts dieser Vorentscheidung ist es bemerkenswert, wie sehr sich auch N.s Arbeit noch an dem von H. Conzelmann in den 50er Jahren des letzten Jh.s. entwickelten Interpretationsrahmen einer lukanischen "Eschatologie" abarbeitet und auch selbst nach einem "theological content of the text" fragt (282).

Ein zentrales Ziel N.s ist darin zu erkennen, die Frage nach eschatologischen Modellen aus ihrer schematischen Fixierung auf die Ebene der Chronologie zu lösen (vgl. 10, 19 f. zu J. Weiß und A. Schweitzer; anders die Kritik an J. T. Carrolls Rekonstruktion einer doppelten Zeit-Strategie bei Lukas [14 f.]). Der "Eschatologie"-Begriff müsse multidimensional im Sinne einer qualitativen Definition gefasst werden. Insbesondere gelte für Lukas: "... the horizontal transcendent moment as collective eschatology, and the vertical moment as individual eschatology, do not necessarily exclude one another" (25: "... God's future as a 'coming possibility from above'"). Besondere Aufmerksamkeit gilt der Verbindung von ,Christologie' (bzw. "Jesuan reference": 57 Anm. 61 u. passim) und ,eschatologischen' Konzepten. Zugleich möchte N. einer schiefen Alternative von ,Eschatologie' und ,Ekklesiologie' entgegentreten (13, 113, 162, 165, 178f., 184 u. passim). N. spricht von "applied eschatology" (13, 92 u.a. m.). Als Gewährsleute für die neu zu eröffnende Perspektive bezieht sich die Untersuchung u. a. auf A. Ritschl (nicht: "Ritsch"; so 19 Anm. 74) sowie A. N. Wilder's "... study of the function that transcendent elements play in apocalyptic texts ..." (20).

Ausgangspunkt der Analyse ist die Gattungsproblematik. ,Abschiedsreden' gelten als flexible literarische Größen, die unterschiedliche Topoi aktivieren können (vgl. 26-32). N. untersucht topische Konzeptionen von "terminality", indem er zwischen "terminal-immanent topos" und "terminal-transcendent topos" unterscheidet (31 u. passim). Diese Distinktion wird zunächst auf eine Auswahl hellenistisch-römischer sowie frühjüdischer und frühchristlicher Texte angewandt (Kap. 2: "The Terminal Topic", 40-68). N. unterscheidet genauer 1) ,Abschiedsreden' ohne ,transzendente Topoi', 2) solche mit ,vertikal-transzendenten' bzw. individual-eschatologischen Motiven, 3) Texte mit ,horizontal-transzendenten Topoi' bzw. kollektiv-eschatologischen Vorstellungen und 4) Konzeptionen, die ,vertikale' und ,horizontale' Anschauungen verbinden (40 ff.).

Wie N. selbst sieht, schwankt hierbei nicht allein die Vergleichbarkeit der Texte auf der Genus-Ebene (vgl. z. B. 49 zur ,christlichen Märtyrer-Tradition'); vielmehr steuert die Kategorisierung die Textauswahl, und es zeigt sich, dass die verschiedenen Typen nicht ,chemisch rein' existieren (z. B. 52). So ist es z. B. eine Vorentscheidung, dass N. im Fall von Plutarch sich auf dessen Kaiserviten konzentriert, um den Schriftsteller dann dem Typus des "terminal-immanent topos" zuzuordnen (41 f. [hier aber Anm. 6; "Otho" nicht: "Otto"; so 42]; 64). Aufschlussreich sind darum besonders die Mischformen, in denen verschiedene eschatologische Konzepte innerhalb derselben Schrift begegnen (vgl. 58-64 zu 2Makk 7; 2Tim).

Mit einem breiten Konsens der Forschung wird den beiden ,Abschiedsreden' in Lk 22 und Act 20 eine summative und leserorientierende Funktion zuerkannt (vgl. 4, 6, 69 ff., 151 ff.). N. fragt jeweils ausführlich nach der ,rhetorischen Struktur' (71-80, 140-151; unter ,Rhetorik' wird hier die Frage nach der Textorganisation begriffen; vgl. die Unterscheidung von "abstract level" und "meta-level", 37 f. mit Anm. 146). In der Interpretation ,eschatologischer' Einzelaussagen wird dann die Korrelation der verschiedenen Konzeptionen herausgearbeitet. U. a. wird Lk 22,16b.18b. ein doppelter Zeitaspekt zugemessen (83 ff.). N. zieht die traditionell gesehene Zäsur-Funktion von Lk 22,35 f. (vgl. 9,3; 10,4) für die lukanische Gesamterzählung in Frage (110-121). Im Blick auf Act 20 fragt N. nach möglichen Berührungspunkten zur ,Eschatologie' des historischen Paulus (163). Lk 17,21b sei als ,Rätselwort' zu begreifen (206 mit Anm. 9/F. Mussner). Durchgängiges Resultat ist, dass ,eschatologische' Aussagen unter dem Vorzeichen der Kommunikation mit den Lesern zu interpretieren sind. In dieser Perspektive kommt ihnen aber nicht primär eine informativ-didaktische, sondern vielmehr eine noninformativ-exhortative bzw. paränetische Funktion zu (z. B. 93, 114, 131-138, 167, 171, 199, 206, 211, 231 f., 238, 260, 280 u. passim). Unschwer ist zu erkennen, dass die Analyse sich hier den Arbeiten und methodischen Anstößen von Lars Hartman verpflichtet weiß.

Zu fragen ist dabei, ob die beständige Hervorhebung des noninformativ-paränetischen Charakters eschatologischer Aussagen nicht bisweilen hinter das in Kap. 1 u. 2 eröffnete Spektrum von Konzeptionen und Differenzierungsmöglichkeiten zurückfällt bzw. ,informatives' und ,exhortatives' Niveau zu schematisch gegeneinander ausgespielt werden. Hier erweist sich der Einsatz bei den ,Abschiedsreden' jedenfalls als folgenreich, in denen - wie N. selbst sieht (194) - ,Eschatologie' (sofern man hier nicht mit einem Globalbegriff für jedwede ,christologische', ,soteriologische', ,theologische' oder ,ekklesiologische' Aussagen operiert; vgl. 168 f.) eben nicht vorherrschendes Thema ist. Von der gewählten Textbasis her könnte sich ferner begründen, dass N. die Bedeutung der Israel-Problematik in der Formulierung eschatologischer Aussagen für Lukas insgesamt gering veranschlagt (vgl. z. B. 101 Anm. 90, 258 f.; 272-278 argumentiert N. dagegen mit guten Gründen für eine offene Lesart von Act 28,31). Insgesamt fragt man sich, ob der ,weite' ,Eschatologie'-Begriff im Sinne eines "ultimate horizon" (178, 189 u. ö.), wie N. ihn intendiert, noch geeignet ist, die bestehenden Differenzen der lukanischen Gesamtkonzeption gegenüber anderen frühchristlichen Modellen zu beschreiben (Kol und Eph gelten als paulinisch: 186; anders 163).

Der Vf. hat mit seiner an unkonventioneller Stelle ansetzenden Arbeit den Blick neu und geschärft auf das diffizile Terrain lukanischer ,Eschatologie' gelenkt.