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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

292–295

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marguerat, Daniel [Ed.]

Titel/Untertitel:

Introduction au Nouveau Testament. Son histoire, son écriture, sa théologie.

Verlag:

Genf: Labor et Fides 2000, 489 S. gr.8 = Le Monde de la Bible, 41. Kart. ISBN 2-8309-0941-0.

Rezensent:

Ingo Broer

Dieses neue Einleitungswerk in die von manchen Kreisen inzwischen als zweites Testament bezeichnete Schriftengruppe des Neuen Testaments ist ein Gemeinschaftswerk zahlreicher französischsprachiger Neutestamentler und füllt, wie der Herausgeber in seinem Vorwort betont, ein wichtiges Desiderat für den französischen Sprachraum, da seit der Neuausgabe des von A. George und P. Grelot herausgegebenen Werkes von 1976/77 keine Einleitung ins Neue Testament in französischer Sprache mehr erschienen ist und dementsprechend kein die Einleitungsfragen auf der Höhe der Zeit behandelndes Werk in französischer Sprache vorliegt.

Der Band umfasst außer den Beiträgen des Hg.s zur synoptischen Frage, zum Lukasevangelium und zur Apostelgeschichte Abhandlungen der folgenden Autoren zu folgenden neutestamentlichen Büchern: C. Combet-Galland zum Markusevangelium, E. Cuvilier zum Matthäusevangelium und zur Apokalypse, F. Vouga zur paulinischen Chronologie, zum Corpus Paulinum, zum Römerbrief, Galaterbrief, ersten und zweiten Korintherbrief, Philipperbrief, ersten Thessalonicherbrief, Philemonbrief, Hebräerbrief und Jakobusbrief, A. Dettwiler zum Kolosserbrief, Epheserbrief und zweiten Thessalonicherbrief, Y. Redalié zu den Pastoralbriefen, J. Zumstein zum Johannesevangelium und zu den johanneischen Briefen, J. Schlosser zu den Petrusbriefen und zum Judasbrief sowie J.-D. Kaestli zur Kanongeschichte. Ein Glossar und ein Index der Themen und Namen schließt den Band ab.

Ein solches Sammelwerk hat natürlich viele Vorzüge, insofern sich der einzelne Autor ganz anders auf seine Schrift(en) konzentrieren kann, als es einem Verfasser möglich ist, der alle 27 Schriften des Neuen Testaments zu behandeln hat. Es hat allerdings auch Nachteile, wie man an entsprechenden Werken in deutscher Sprache - nicht zum Neuen Testament - sehen kann. Solche Sammelwerke erreichen nämlich wegen der Vielzahl der beteiligten Autoren, die in der Regel ihren Studierenden das betreffende Einleitungswerk empfehlen werden, an dem sie mitgearbeitet haben, leicht eine marktbeherrschende Stellung, und andere Einleitungen und damit andere Ansichten haben daneben keine Chance. Diese Situation wird aber dem gegenwärtigen exegetischen Wissenschaftsbetrieb, der ja gerade durch eine z. T. schon überbordende Vielfalt gekennzeichnet ist, in keiner Weise gerecht. Die Lage auf dem deutschen Markt der Einleitungen ins Neue Testament mit seiner Vielfalt von erschienenen und angekündigten Werken bildet insofern die Situation der neutestamentlichen Wissenschaft besser ab; allerdings muss man gerechterweise hinzufügen, dass die theologische Wissenschaft in Deutschland sich im Vergleich zu Frankreich - ein Teil der Autoren lehrt freilich in der Schweiz, F. Vouga in Deutschland, Y. Redalié in Rom - in einer ungeheuer privilegierten, weil von Staat und staatlich erhobener Kirchensteuer finanzierten Situation befindet, die ihr eine Vielzahl von Forschungspositionen ermöglicht, wie sie ohne staatliche Finanzierung und ohne Kirchensteuer in keiner Weise möglich wären.

Der Aufbau der einzelnen Paragraphen dieser neuen "Einleitung" ist nicht immer streng derselbe, folgt aber demselben Schema: Nach einer allgemeinen, in der Regel sehr kurzen Einführung z. B. in die literarische Gattung der Schrift folgt eine Übersicht über den Inhalt und den Aufbau, die ziemlich kleinschrittig vorgeht und insofern das Evangelium bzw. die jeweilige Schrift relativ genau abbildet. Dann folgen ein Überblick über die Entstehungsbedingungen (u. a. Abfassungszeit, Autorschaft, Adressatenkreis), die literarische Komposition (der Umgang des Autors mit seinen Quellen) und die theologischen Ziele. Den Abschluss bildet ein kurzer Ausblick auf neuere Fragestellungen. Das Literaturverzeichnis am Schluss des jeweiligen Paragraphen ist in verschiedene Gruppen aufgeteilt und umfasst ausgewählte Kommentare, Forschungsüberblicke und Monographien; gelegentlich werden auch eher für breitere Kreise geschriebene Werke herangezogen. Daneben findet sich in der Bibliographie unter der Überschrift "À lire en priorité" immer zumindest auch eine besondere Lektüreempfehlung (zur paulinischen Chronologie wird z. B. der erste Teil des Bornkammschen Paulusbuches, das in französischer Übersetzung vorliegt, empfohlen). Naturgemäß findet sich in der Bibliographie eine breite Berücksichtigung der französischsprachigen Literatur, es werden aber durchaus auch deutsch- und englischsprachige Werke genannt, wenn davon keine französische Übersetzung vorliegt. Einige der Autoren sind ja auch durchaus zweisprachig.

Die Reihenfolge der Behandlung der einzelnen Schriften ist in einigen Punkten auf den ersten Blick ungewöhnlich, so wenn der Römerbrief die Liste der echten Paulusbriefe anführt und der Philemonbrief sie abschließt. Das bedeutet aber nicht, dass der für die Paulusbriefe verantwortliche Verfasser, Francois Vouga, den Römerbrief für den ältesten Paulusbrief hält, sondern beruht darauf, dass innerhalb der einzelnen Buchteile die kanonische Reihenfolge eingehalten wird, "sauf lorsque des considérations pédagogiques l'exigeaient autrement" (vgl. die Reihenfolge der Behandlung der Evangelien).

Bei der Aufteilung der einzelnen neutestamentlichen Schriften auf die Autoren fällt auf, dass ein Autor neben dem Herausgeber an dem Werk in besonderer Weise beteiligt ist. Es ist François Vouga, der nicht nur alle echten Paulusbriefe und die allgemeinen Probleme zu Paulus, sondern darüber hinaus auch noch den Hebräer- und den Jakobusbrief behandelt hat. Die Apokalypse wird mit zur johanneischen Literatur gerechnet, allerdings nicht vom Bearbeiter des Evangeliums und der Briefe abgehandelt. Die interessantesten Fragen in der Einleitungswissenschaft betreffen in der Gegenwart nach Ansicht des Rez. die synoptische Frage (wegen der massiven Unterstützung der Neo-Griesbach-Hypothese von seiten einiger amerikanischer Autoren), die Abhängigkeit oder die Unabhängigkeit des Johannesevangeliums von den Synoptikern und das Problem des Lieblingsjüngers, die paulinische Chronologie, die Frage nach der ursprünglichen Einheit des Zweiten Korintherbriefes und die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefes - wie werden diese Gegenstände in dem Werk behandelt?

Das synoptische Problem wird vom Hg. im ersten Kapitel in großer Klarheit und Präzision abgehandelt und zugleich mit anschaulichen Grafiken, die den Grad der Übereinstimmungen der drei Evangelien untereinander und die einzelnen, im Laufe der Geschichte vertretenen Lösungsversuche demonstrieren, verdeutlicht. Die Übereinstimmungen und Divergenzen zwischen den Synoptikern werden nach Struktur und Inhalt, Reihenfolge der Perikopen und im Hinblick auf die Formulierungen festgehalten; zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zu groß sind, um zufällig zu sein. Sie müssen durch literarischen Zusammenhang entstanden sein. Die einzelnen (Hypo-)Thesen zur Erklärung des Zusammenhangs werden vorgestellt, die wichtigsten Einwände gegen die Neo-Griesbach-Hypothese genannt und sodann entschlossen die klassische Lösung vertreten, aber deren wunder Punkt auch nicht verschwiegen: die sog. minor agreements. Deren Zahl wird zu Recht als auffällig bezeichnet, Proto- oder Deutero-Mk-Hypothesen aber nicht favorisiert. Zur Logienquelle Q gibt es nur kurze Ausführungen innerhalb des Paragraphen zur synoptischen Frage; ein eigenes Kapitel ist ihr nicht gewidmet. Zum Abschluss dieses Kapitels wird das Problem der literarischen Gattung der Evangelien kurz abgehandelt und deren Verwandtschaft mit verschiedenen literarischen Gattungen der Antike betont. Trotz einer durchaus zuzugebenden besonderen Nähe zur Biogaphie bleibt die literarische Gattung Evangelium nach Ansicht des betreffenden Autors eine originale Größe.

Zu den Evangelien werden die Überlieferungen über deren Verfasser aus der Alten Kirche knapp behandelt, z. T. auch in griechischer Sprache und französischer Übersetzung wörtlich angeführt, deren Zuverlässigkeit aber in allen vier Fällen abgelehnt. Über die Evangelisten bleibt dann in der Tat nicht allzu viel zu sagen. Zu der Frage, ob der Verfasser des Johannesevangeliums die synoptischen Evangelien gekannt hat oder nicht, werden die Argumente dafür und dagegen vorgestellt, die Frage lässt sich jedoch nach Zumsteins Ansicht zur Zeit nicht mit Sicherheit beantworten. In jedem Falle hat der Autor des Johannesevangeliums die synoptischen Evangelien aber nicht als eigentliche Quellen benutzt. Als Datum der Abfassung des vierten Evangeliums wird u. a. mit Hilfe des auf ca. 125 n. Chr. datierten p52 das Ende des ersten Jahrhunderts angenommen. Diese Datierung des Papyrus ist freilich nicht so sicher; er könnte nach neueren Untersuchungen auch jünger sein. Zwar hat diese Einschätzung keine zwingenden Konsequenzen, aber eine Abfassung des vierten Evangeliums erst im zweiten Jahrhundert kann bei dieser Einschätzung des Papyrus zumindest erwogen werden. Den Lieblingsjünger hält J. Zumstein nicht für eine rein symbolische Figur, sondern für den in der johanneischen Schule bekannten Gründer der johanneischen Tradition und der dazugehörigen Schule.

Zur Paulus-Chronologie stellt Vouga alle in Frage kommenden Angaben der Paulusbriefe und der Apg vor und betont zur Letzteren, dass einige Angaben des Lukas eindeutig fiktionalen Charakter tragen. Dazu gehören die dritte Jerusalemreise von Apg 18,20-22, der stetige Ausgang der paulinischen Missionspredigt von der Synagoge und das Erscheinen des Paulus vor der römischen Justiz in Korinth und Caesarea. Die Erörterung des Gallio-Zeugnisses führt zu folgendem Schluss: "S'il est vrai que Paul a comparu devant Gallion au début de son séjour à Corinthe (Ac 18,18), et s'il est vrai qu'il est resté un an et six mois à Corinthe (Ac 18,11), alors Paul s'est probablement trouvé à Corinthe entre fin 49 et été 51 ou entre fin 50 et le printemps 52." Die vorgestellte Chronologie des Paulus entspricht mit 32-34 Berufung des Paulus, 32-35 bzw. 34-37 Aufenthalt in der Arabia, 48/49 Apostelkonzil und Beginn der Europa-Mission 48 bzw. 49 in etwa dem, was die breite Mehrheit der Exegeten vertritt.

Die Teilungshypothesen zu den Paulusbriefen werden jeweils klar referiert und die Tatbestände aufgezeigt, an denen sie anknüpfen, danach werden die Vorteile eines einheitlichen Verständnisses hervorgehoben - eine Entscheidung in dieser Frage erfolgt nicht (wenn man von der Reihenfolge der vorgetragenen Argumente absieht). Deswegen wird auch die Abfassungszeit je nach dem Fall, ob es sich um einen einheitlichen Brief oder eine Briefkomposition handelt, unterschiedlich bestimmt, und auch hierbei werden gelegentlich noch verschiedene Möglichkeiten offengelassen.

Zu den interessantesten Fragen der gegenwärtigen Paulusexegese gehört die Frage, ob der zweite Thessalonicherbrief als echter Brief anzusehen ist oder nicht. Hier schwanken die Meinungen hin und her, und die Behandlung dieser Frage im Laufe der Zeit gleicht einer Wellenbewegung: Auf das Überwiegen der Ansicht, der Brief sei sekundär, wechselt die Mehrheit und hält den Brief für paulinisch usw. Die Frage ist deswegen von großem Interesse, weil der zweite Brief an die Thessalonicher sich einerseits in ganz ungewöhnlich enger Weise an den ersten anlehnt, gleichzeitig aber, zumindest nach der Auslegung einer Reihe von Interpreten, die (im ersten Brief behauptete) Nähe der Parusie auf einen gefälschten Brief des Apostels zurückführt, damit also möglicherweise nicht nur den ersten Brief und die darin enthaltene Naherwartung schlechtmacht, sondern diesen zugleich dem Apostel abspricht. Der diesen Brief behandelnde Autor, A. Dettwiler, stellt dem Leser eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen beiden Briefen in Struktur und Sprache übersichtlich in einer Tabelle vor und hält dann auf Grund der sich über den ganzen Brief und sich nicht nur auf Einzelheiten erstreckenden Ähnlichkeiten allein die Abhängigkeit des zweiten Briefes vom ersten für plausibel, freilich nicht ohne auf die Argumente der Verteidiger der Echtheit eingegangen zu sein. Letztere unterschätzen nach Dettwilers Ansicht die Differenz in der Eschatologie zwischen beiden Briefen und das Problem "de l'imitation quasi-mécanique".

Es handelt sich um ein klar geschriebenes, präzise und pointiert exegetische Positionen zusammenfassendes Werk. Mancher Leser wird vielleicht das Offenlassen einer Reihe von Fragen bemängeln, aber ein solches Offenlassen ist angesichts der Verhältnisse in der neutestamentlichen Exegese durchaus verständlich, zumal es an anderer Stelle an klaren Urteilen in kontroversen Fragen nicht mangelt. Dieses Offenlassen entspricht in gewisser Weise auch dem im Vorwort genannten Streben nach Objektivität, obwohl natürlich auch die Frage für den Leser interessant ist, wofür der Verfasser des jeweiligen Artikels, der ja sozusagen Spezialist in der behandelten Frage ist, sich beim Abwägen der in der Literatur vorgetragenen Argumente entscheidet. Der Rez. hat jedoch für dieses Offenlassen angesichts der vielfältigen unterschiedlichen Perspektiven, die man bei Einleitungsfragen einnehmen kann, und der sich daraus ergebenden unterschiedlichen Urteile viel Verständnis, obwohl man natürlich in der neutestamentlichen Exegese nicht einfach alle vertretenen Ansichten auf eine Stufe stellen kann, sondern gelegentlich auch scharf urteilen muss.