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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

277–280

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Chapman, Stephen B.

Titel/Untertitel:

The Law and the Prophets. A Study in Old Testament Canon Formation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XVII, 356 S. gr.8 = Forschungen zum Alten Testament, 27. Lw. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147135-0.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Die Arbeit, vom Verfasser 1998 unter der Leitung von Christopher R. Seitz als Ph. D. Dissertation an der Yale University eingereicht und in Tübingen zur Drucklegung überarbeitet, ist Hans W. Frei (1922-1988) gewidmet und verdankt viel Brevard S. Childs. Ein zentraler Aspekt des Kanonproblems ist ihr Gegenstand: Welche Rolle spielten Tora (Pentateuch) und Prophetenkanon bei der Entstehung des Kanons? Der Vf. postuliert gleich einleitend (2) seine These: Die Standardtheorie über die Entstehung des (alttestamentlichen) Kanons sei überholt und könne die Komplexität des Vorganges nicht mehr angemessen beschreiben. Nach dieser bekannten Theorie ist die Kanonbildung in drei Stufen erfolgt: Zuerst wurde der Pentateuch (die Tora) kanonisch, erst später folgte der Prophetenkanon und schließlich der dritte Teil des Kanons unter der unspezifischen Bezeichnung "Schriften" - wobei man häufig einen förmlichen Beschluss eines Gremiums (die sog. "Synode von Jamnia") voraussetzt.

Im ersten Kapitel (1-70), das der Vf. in dieser Weise eröffnet, bietet er zunächst eine detaillierte Darstellung der Forschungsgeschichte, einsetzend mit H. E. Ryle (1856-1925), der das Drei-Stufen-Modell als erster in die englischsprachige Welt eingeführt hat (3-7). Aus dem sich abzeichnenden Konsens heben sich nur wenige Forscher heraus, darunter W. J. Beecher (JBL 15, 1896, 118-128), der mit dem allmählichen Anwachsen eines "Aggregats" von Schriften rechnete, denen kanonische Autorität zuwuchs, beginnend mit frühen Prophetenbüchern. Ein weiterer Unterabschnitt schildert die Entwicklung zu einem "kanonischen Ansatz" (20-53), wobei zunächst viele Vertreter der klassischen Auffassung genannt werden. R. E. Clements (24-30) mit seiner Theorie einer gleichzeitig zu beobachtenden "protokanonischen" Autorität von Gesetz und prophetischen Schriften und B. S. Childs' These von einem "kanonischen Prozeß" (44-53) heben sich davon ab. Doch bleiben diese Stimmen auch in der neuesten Diskussion die einer Minorität (53-70).

Im zweiten Kapitel (71-110) entwickelt Ch. seinen eigenen Ansatz. Mit dem Versuch, im kanonischen Text beider Kanonteile (Tora und Propheten) redaktionelle Hinweise aufzuspüren, mit denen die für die Kanonwerdung Verantwortlichen Verbindungslinien zwischen beiden herstellen wollten, folgt er einer neueren Tendenz (ähnlich argumentiert etwa E. Zenger innerhalb des Pentateuchs), auch darin, dass er diese Vorgänge in die nachexilische Zeit datiert (vgl. 72). Wieder vor der Folie (73-86) eines als ideologisch geprägt abgelehnten neueren Entwurfs zur Kanonbildung (P. R. Davies, JSOT.S 148, 1992), zieht Ch. soziologisch interessierte Kanontheorien heran. Die Thesen des Philosophen und Literarkritikers C. Altieri (94-97) liefern ihm eine zentrale methodische Basis. Was dieser über die Funktionen eines literarischen Kanons als einer kulturellen "Grammatik" für eine gesellschaftliche Gruppe feststellt: dass er dieser und dem einzelnen die Grundlagen für eine Wertediskussion liefere, die bestehende Ideologien in Frage stellen könne (eine Art "permanent theater, helping us shape and judge personal and social values", 95), lasse sich auf den biblischen Kanon übertragen. Entscheidend sei dabei das Verständnis des Kanons als eine "theologische Grammatik" (97-106). Statt, wie meist, die Kanonbildung als das Ergebnis des Kampfes widerstreitender Interessengruppen zu verstehen, entspringe sie der Absicht der Tradenten, "to promote reflection within a common range of alternatives" auf Grund eines grundlegenden Interesses an Idealen "that unsettled or even disconfirmed regnant ideologies" (98). Die drei von Altieri genannten Qualitäten eines kanonischen Werks: 1. die Unterordnung seiner Entstehungsumstände unter die von ihm vertretenen Ideale, 2. die Artikulation der gemeinsamen Werte einer vergangenen Kultur, welche die gegenwärtige prägen, 3. die Verpflichtung von Kanonkritikern, die in dem Werk enthaltenen Innovationen und die ethische Bedeutung seines gemeinsamen Inhalts zu beschreiben, seien auf eine solche Kanon-"Grammatik" der Entstehung des Alten Testaments analog anwendbar (99). Nur so sei die psychologische Engführung auf ein beschränktes Selbstinteresse von dabei beteiligten Machtgruppen zu vermeiden. Gerade die "Fremdheit" gegenüber den gerade herrschenden Ideologien sei dabei (mit H. Bloom) zu betonen.

Von diesen Voraussetzungen her sei die Doppelheit "Gesetz und Propheten" als Grundrahmen des entstehenden Kanons zu betrachten (102), wobei Ch. für eine etwa gleichzeitige Kanonwerdung beider Korpora plädiert (104).

Der umfangreiche Hauptteil der Arbeit sucht die Intertextualität der beiden Kanonbereiche durch gegenseitige Bezugnahmen zu erweisen. Das dritte Kapitel (111-149) behandelt die oft als "Schlußabschnitte" der Tora bzw. des Prophetenkanons angesehenen Stücke Dt 34,10-12 und Mal 3,22-24. Für Dt 34, 10-12 scheinen Ch. Moses Funktion als "Bundesmittler" und die doppeldeutige Charakterisierung, die ihn als Vorläufer der auf ihn folgenden Propheten (vgl. auch Dt 18,15) ausweist, auf eine bewusste Verknüpfung der beiden Kanonteile hinzudeuten (113-131). Der Verweis auf die "Tora Moses" (neben vermuteten Anspielungen auf andere prophetische Texte) in dem wohl als Abschluss des gesamten Prophetenkanons anzusehenden Maleachi-Schluss bildet den Gegenpfeiler (131-149). Im vierten und fünften Kapitel (150-240) wird die Suche nach prophetischen Elementen zunächst im deuteronomistischen Geschichtswerk (im Abschnitt Dt 31-34, dann in Jos und dem Gesamtzusammenhang Ri-2Kön) fortgesetzt. Es folgen Abschnitte über Jer, den Rahmen des Sacharjabuches Sach 1 und 7-8, Chr und Esr-Neh (als getrennte Werke angesehen) und Dan. Bei Jer wird die Formel "das Gesetz und die Worte" als Hinweis zumindest auf den entstehenden doppelten Kanon verstanden (204), ähnlich der wiederkehrende Ausdruck "meine Knechte, die Propheten". Die Aussagen über die "früheren Propheten" in Sach 1 und 7 (210-212) weisen in die gleiche Richtung. Prophetengeschichten und prophetische Ansprachen in der Chronik, das Gewicht prophetischer Elemente in Esr-Neh werden ebenfalls notiert.

Das Schlusskapitel (241-292) rekapituliert und widerlegt die wesentlichen in der Forschungsgeschichte angeführten Gründe für den Vorrang der Tora und setzt als eigene Position die "doppelte Autorität" von Gesetz und Propheten in der christlichen und jüdischen (!) Tradition dagegen. Offen bleibt die Frage der "Schriften", deren Stellung im Kanon als noch zu klärendes Problem zukünftiger Forschung bezeichnet wird (289).

Von diesem Punkt aus wären vielleicht die Rückfragen an den Vf. zu stellen. Nehmen wir den Psalter: Steht die Bedeutung des gottesdienstlichen Liedes nicht bereits für die vorexilische Periode zweifelsfrei fest, auch wenn eine wenigstens annähernde Datierung der einzelnen Psalmen nur in wenigen Fällen möglich und das Alter der Sammlung ebenfalls unsicher ist? Und was beweist das Vorkommen von prophetischen Traditionen in den "Geschichts"-Büchern des Alten Testaments - im Tetrateuch sind sie bekanntlich sehr spärlich - für die Existenz eines schriftlich vorliegenden Prophetenkanons zur Zeit ihrer Entstehung - und sei es nur eine Vorform des endgültigen?

Ein Beispiel sei herausgegriffen: In der Erzählung von der "Tempelrede" Jeremias (Jer 26,18) wird von den anwesenden Ältesten auf die ein Jahrhundert alte Prophetie Michas über die bevorstehende Verwüstung des Tempelbergs (Mi 3,12) verwiesen, die für diesen folgenlos geblieben sei (vgl. 245, Anm. 18). Soll man daraus schließen, dass die Ältesten und die gegen Jeremia einschreitenden Hofbeamten ein schriftlich vorliegendes Michabuch gelesen hatten? Offenbar appellierten sie an eine allen Anwesenden bekannte mündliche und doch autoritative Tradition. Dan 9,2 schildert dagegen tatsächlich einen Leser, der eine Schriftstelle zu erklären sucht! Dazwischen liegen Jahrhunderte. Tatsächlich besteht in der Frage der Entstehung der Prophetenbücher ein auch durch die Hinweise Ch.s nicht gelöstes Problem. Der Vf. lässt denn auch an verschiedenen Stellen erkennen, dass er sich hier unsicher ist. In sympathischer Offenheit gesteht er das selbst bei der Frage nach möglichen Zitaten in den Prophetenreden der Chronik (226) ein. Offenbar muss zusätzlich zwischen einer kanonische Autorität neben der Tora besitzenden prophetischen Tradition - die sich schon früh an die zunächst mündlich überlieferten Worte von bekannten Propheten und möglicherweise erste Einzelsammlungen geknüpft hatte - und dem Vorliegen eines umfassenden Schriftenkanons aus dem prophetischen Bereich unterschieden werden.

Das theologische Grundanliegen des Vf.s in seiner Opposition zu der klassischen Drei-Stufen-Theorie für die Entstehung des Kanons ist also zu begrüßen - ob die literarischen Thesen über Vermutungen hinausführen, ist weiter zu prüfen.