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Ausgabe:

März/2002

Spalte:

263–266

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bongardt, Michael

Titel/Untertitel:

Die Fraglichkeit der Offenbarung. Ernst Cassirers Philosophie als Orientierung im Dialog der Religionen.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2000. 349 S. 8 = Ratio Fidei, 2. Kart. ¬ 34,90. ISBN 3-7917-1694-8.

Rezensent:

Reinhold Bernhardt

"Es gilt, um des Glaubens und um des Menschseins willen, einen Weg zu finden, Vielfalt anzuerkennen, ohne der Gleichgültigkeit zu verfallen" (12). Die philosophischen Möglichkeitsbedingungen einer solchen ebenso pluralismusfähigen wie relativismuskritischen Position herauszuarbeiten und sie für den interreligiösen Dialog fruchtbar zu machen, hat sich der Vf. zum Ziel gesetzt. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit Ernst Cassirers kulturphilosophischer Erweiterung der Transzendentalphilosophie. Dessen Konzept der "symbolischen Form" soll die angestrebte pluralismusoffene, selbst aber nicht pluralistische Geltungsbestimmung leisten, indem es erlaubt und fordert, die Zentralüberzeugungen der Religionen als Ganze und die einzelnen religiösen Phänomene als spezifische Deuteformen mit unbedingtem, aber sich gegenseitig nicht notwendig ausschließendem Verpflichtungscharakter zu verstehen. Weil jeder Ausgriff auf das Unbedingte als menschliche Sinndeutung unaufhebbar bedingt bleibt, kann auch der für das Christentum konstitutive Glaube an die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus, dem Christus, immer nur als eine bedingte Gestalt des Unbedingten aufgefasst werden, die als solche nicht mit Exklusivanspruch auftreten kann.

Im ersten der drei Teile seiner Arbeit versucht B., die Möglichkeit einer Geschichtsoffenbarung Gottes zu erweisen, so dass der Glaube an sie nicht nur theologisch, sondern auch philosophisch verantwortbar erscheint. Dazu bedient er sich - inspiriert von Pröpper - einer transzendentalen Freiheitsanalyse. Sie soll die gegenseitige Verwiesenheit zwischen der menschlichen Vernunft einerseits, dem Geschehen und Inhalt des Offenbarungsglaubens andererseits nachweisen. Die Freiheit des Menschen bildet demnach die ihrerseits unbedingte Möglichkeitsbedingung allen Denkens, Handelns und Urteilens. Seine inhaltliche Bestimmung erhält das formale Prinzip der Freiheit durch die Anerkennung begegnender fremder Freiheit (51) und seine adäquate Ausdrucksgestalt und Kommunikationsform findet es in der zeichenhaften Vermittlung, im Symbol, das unhintergehbar mehrdeutig ist und damit eine freiheitsgewährende Rezeption ermöglicht. Die transzendentale Analyse führt vor die Grundaporie, dass jene Freiheit, die als formales Prinzip die unbedingte Bedingung aller menschlichen Selbstvollzüge darstellt, in ihrer materialen Realisierung von vielfachen Bedingungen abhängt. Sie kann die ihr vorausgesetzte und ihr als Zielbestimmung vorgegebene Unbedingtheit nicht aus eigener Potenz realisieren und bleibt für ihre Erfüllung auf die Begegnung mit einer auch inhaltlich unbedingten Freiheit angewiesen. Diese vollkommene Freiheit aber, die unbedingte Anerkennung gewährt, wird in den theistischen Religionen mit dem Symbol "Gott" bezeichnet (52 f.).

Mit diesem Argumentationsgang hofft B., die Möglichkeit der Offenbarung vor dem Forum der Vernunft erweisen zu können - mehr noch: Seine Analyse führt zum Postulat ihrer Notwendigkeit, denn ohne sie kann das Freiheitsprinzip keine materiale Erfüllung finden. - Bei kritischer Betrachtung mutet dieser Nachweis jedoch wie eine zirkuläre Entfaltung von vorausgesetzten Postulaten an. Dass Glaube als vernünftiger Freiheitsakt verstanden ist (46), dass Freiheit inhaltlich bestimmt wird als Ausgerichtetsein auf die freie Anerkennung durch andere Freiheitssubjekte, dass dem Postulat der Freiheit die Erhebung zur grundlegenden Konstitutionsbedingung allen Menschseins widerfährt, dass "die Freiheit ... unbedingt angewiesen ist auf eine ihr begegnende Offenbarung des sie erfüllenden Gottes" (65 f.), dass dessen Wesens- als Freiheitsvollzug vorzustellen ist usw. - all dies sind keineswegs notwendige Resultate einer transzendentalen Analyse, sondern philosophisch-theologisch-anthropologische Setzungen, die untereinander kohärent, aber je für sich nicht logisch zwingend sind. An die Stelle der interaktiven Freiheit als formal unbedingter Möglichkeitsbedingung menschlicher Existenz ließen sich andere Chiffren für das specificum humanum einsetzen: Reflexive Rationalität etwa, oder Sozialität bzw. Kommunikabilität. Wenn sich auch diese Vollzüge als Freiheitsakte einsehbar machen lassen und wenn sich auch Freiheit als unverzichtbarer Aspekt in der philosophischen Beschreibung der conditio humana erweist, so kann man dieses Merkmal des Menschseins doch nicht zu dem einen anthropologischen Fundamentalprinzip erklären. Es hat diese zentrale Bedeutung für einen bestimmten philosophischen Ansatz mit einem bestimmten Menschenbild: für einen aus der Schule des Deutschen Idealismus erwachsenen Personalismus. Und es teilt dessen problematische Tendenz zum Subjektivismus. - Um der logischen Klarheit willen wäre bei dieser Analyse die genauere Unterscheidung von Postulaten (Setzungen) und Ableitungen (Folgerungen im Sinne der analytischen Zurückverfolgung) wichtig. Sonst gerät die transzendentale Analyse zum Spiel mit Chiffren für das konstitutiv Humane. Wenn sich dabei aber der Verdacht bestätigen sollte, dass die vorgenommenen Ableitungen in Wirklichkeit Postulate sind, dann büßt dieser methodische Weg seine Überzeugungskraft ein.

Im zweiten Teil der Studie nimmt B. in vier Reflexionsgängen den Dialog mit Cassirer auf. Zunächst entfaltet er dessen zentrale erkenntnistheoretische Einsicht in den symbolischen Charakter aller menschlichen Weisen des Weltverstehens. Erfahrung ist Sinngebung, d. h. Einordnung des Widerfahrenen (das immer schon als Gedeutetes begegnet) in einen Sinnhorizont - von Cassirer "symbolische Form" genannt. Die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Verstehens und Erfahrens besteht nach Cassirer in der Konfiguration und der ständigen Relektüre symbolischer Formen. Daraus ergibt sich die Historizität, Kontextualität und Pluralität allen Verstehens. Keine symbolische Form kann Unbedingtheit, Allgemeingültigkeit und Eindeutigkeit für sich in Anspruch nehmen. Die theologische Rezeption dieser Einsicht führt zur Grundthese B.s, "daß das Bekenntnis zu Jesus Christus als der Selbstoffenbarung Gottes eine symbolische Form im Sinne Ernst Cassirers darstellt" (96).

In einer zweiten Annäherung an Cassirer diskutiert B. die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug des Verstehens durch symbolische Formbildung. Für den christlichen Glauben - wie für jeden religiösen Sinnhorizont - stellt sich diese Frage mit Nachdruck, denn es geht ihm gerade um die wahrhaftige Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit. Für Cassirer aber bleibt jeder Rückgriff auf die Wirklichkeit "an sich" prinzipiell verwehrt und mit der Ontologie wird das Adäquationsmodell der Wahrheitsfeststellung hinfällig. Alle Wirklichkeitserfahrung ist Resultat einer deutenden Einbewältigung. Das gilt auch und gerade für die religiösen Wirklichkeitswahrnehmungen. Deren Objektivität kann nach B. nur durch ihre Bewährung erwiesen werden, d. h. durch ihre Fähigkeit "ein Weltverstehen zu eröffnen, die Totalität möglicher sinnlicher Zeichen in einer konsistenten Weise zu verstehen." (156)

Der dritte Gesprächsgang, den B. mit Cassirer führt, thematisiert jene Frage, die in den ersten beiden Diskursen bereits als Konsequenz sichtbar wurde: die Einsicht in die unaufhebbare Pluralität der symbolischen Formen. B. diagnostiziert deutliche Defizite in der Behandlung dieser Frage bei Cassirer und beschreitet daher weiterführende Interpretationswege: a) Der einzelne Mensch in seiner Subjektivität wird als Integrations- und damit als Einheitsinstanz der pluriformen Symbolisierungen ausgewiesen (182-184). b) Der Philosophie der symbolischen Formen kommt nicht der Status einer allen Formungen enthobenen Metatheorie zu, vielmehr soll sie "als kritische Selbstreflexion innerhalb jeder Formung" (187) deren Verwiesenheit auf andere Perspektiven aufdecken (185-187). a) Die symbolischen Formen - auch die Globalperspektiven des Mythos, der Religion, der Kunst, der Sprache und der Naturwissenschaft - sind bei aller Autonomie, die ihnen als umfassenden Deutemustern eignet, nicht autark, sondern aufeinander angewiesen. Diese grundlegenden Vorüberlegungen fokussiert B. auf die Vielfalt der Deutungen von Person und Werk Jesu Christi, um dann der Frage nachzugehen, ob diese Gestalt selbst ihren mannigfaltigen Deutungen eine benennbare Grenze setzt (198). Wollen sie als angemessen gelten können, so sind sie nach Auskunft B.s an die Einheit von Faktum und Bedeutung gewiesen, die in den urchristlichen Überlieferungen dokumentiert ist.

Im vierten Abschnitt des zweiten Teils sucht B. (im Kontext einer Auseinandersetzung mit Cassirers Äußerungen zu ethischen Fragen) aus seiner transzendentalen Freiheitsanalyse Geltungsgrundlagen zu gewinnen, welche nicht nur für die Ethikbegründung Bedeutung haben, sondern auch die Wahl einer bestimmten Sinndeutung der Wirklichkeit zu verantworten vermögen. In formaler Hinsicht liegt dieser Geltungsgrund in der Unbedingtheit der Freiheit selbst, die in aller ethischen Selbstbestimmung in Anspruch genommen wird; material besteht er in der schon angesprochenen Anerkennung fremder Freiheit (231). Die Freiheit zur Formung ist das Grundgesetz aller Ethik und allen Weltverstehens - und damit auch aller Religion. Eine religiöse Symbolform, die sich selbst als Resultat einer kulturellen Formgebung erkannt hat, die um ihre geschichtliche Verfasstheit und daher auch um die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung ihrer Formen weiß, kann als legitime Religion anerkannt werden. In besonderer Weise wird sie diesen Anspruch erheben können, wenn sie die Freiheit der Menschen in der ihr entgegenkommenden Freiheit Gottes konstituiert - und von dieser erfüllt weiß und den materialen Gehalt der Freiheit (die Anerkennung fremder Freiheit) in ihrer Lehre und Praxis zur Geltung bringt. Dies ist der Fall im ethischen Monotheismus.

Mit dieser geltungstheoretischen Reflexion wird m. E. allerdings die Intention der Philosophie Cassirers konterkariert, d.h. sein Versuch, die kulturelle Pluriformität menschlicher Erfahrungen ins Bewusstsein der transzentdentalphilosophischen Reflexion zu heben, domestiziert. Vor der Konsequenz der Philosophie Cassirers, die Vielfalt der Weltdeutungen als solche stehen zu lassen, ohne sie einer normativen Geltungsprüfung zu unterziehen, deren Resultat durch die vorausgesetzten Kriterien leicht absehbar ist, scheut B. zurück. Und das mit gutem Recht, wie die Erfahrung mit Religionsformen nahelegt, die sich als freiheitsschaffende Heilswege gerieren, in Wirklichkeit aber zu Unterdrückung und Unheil führen. Doch für eine solche Geltungsprüfung kann Cassirer nicht mehr der rechte Gewährsmann sein.

Der Untersuchungsgang läuft im dritten Teil der Studie auf die kritische Auseinandersetzung mit der Pluralistischen Religionstheologie hinaus, die schon im ersten Teil im Blick auf das Wahrheitsverständnis aufgenommen worden war (25-29). Die (in vielem berechtigten) Einwände, die B. gegen diesen Ansatz vorbringt, lassen sich allerdings auch gegen seinen eigenen Ansatz wenden. Und die kritisierten Positionen der ,Pluralisten' sind nicht leicht abzuheben von denen, die B. selbst vertritt: (a) Er wirft den Vertretern des Pluralistischen Modells vor, den Streit um Wahrheit und Geltung nicht mehr führen zu wollen und allen religiösen Optionen eine nur noch bedingte Wahrheit zuzugestehen und damit in einen Relativismus zu verfallen (27f.). Dabei reflektiert John Hick ausgiebig (wenn auch nicht in transzendentallogischer, sondern eher in einer vom Pragmatismus geprägten Perspektive) über die Frage nach Wahrheit und Geltung, wie seine kriteriologischen Überlegungen beweisen. Er kommt dabei zu Resultaten, die denen B.s weitgehend entsprechen: Wenn dieser die Religionen einschließlich des Christusglaubens als je bedingte Gestalten des Unbedingten sehen lehrt, dann stimmt er vollkommen mit Hick überein. (b) Weiter wendet er ein, dass die Konzepte einer Pluralistischen Religionstheologie von einem zu abstrakten Religionsbegriff ausgehen, der diese "als Verkündigung bestimmter Heilsmittel, als Eröffnung spezifischer Heilswege" (267) versteht.

Diese Anfrage ist berechtigt, was sich etwa am Versuch Hicks zeigt, univok von "Erlösung" als dem Zentralinhalt der großen Offenbarungsreligionen der Menschheit zu sprechen. Zweifelhaft aber bleibt, ob B. zu einem spezifischeren Religionsbegriff gelangt, wenn er diesen durch die Spannung von Unbedingtheit und Bedingtheit charakterisiert. (c) Schließlich hält er den ,Pluralisten' entgegen, dass sie die Möglichkeit des von ihnen eingenommenen Erkenntnisstandpunkts nicht ausreichend reflektierten und eine erkenntnistheoretisch nicht zugängliche metareligiöse Position einnähmen. Dem haben Knitter und Hick zwar dezidiert widersprochen (wie B. selbst in Anm. 10 auf S. 266 und Anm. 32 auf S. 270 belegt). Doch ist B. darin zuzustimmen, dass diese Einsicht nicht ausreichend systematische Relevanz in ihren Entwürfen gewinnt (270). Unklar bleibt aber auch hier, ob und wie sich eine transzendentallogische Analyse, die sich nicht nur auf die symbolische Form der eigenen Religion, sondern auf den Phänomenkomplex Religion überhaupt- ja sogar auf die menschliche Existenz insgesamt - erstreckt, dem Einwand entgehen will, selbst eine solche (zumindest in methodischer Hinsicht) metareligiöse Position einzunehmen. Die religionstheologisch entscheidende Frage betrifft letztlich nicht die erkenntnistheoretische Möglichkeit einer universalreligiösen Sichtweise, sondern deren Vermittlung mit der Binnenperspektive des jeweiligen Bekenntnisses: Gründet sie sich in ihm oder ordnet sie sich ihm über?

Doch bei aller Kritik, die m. E. an B.s Studie zu üben ist, bleibt sie als ein imposanter, die religionstheologische Debatte vertiefender und weiterführender Gesprächsbeitrag zu würdigen. Die zwischen Pröppers transzendentalphilosophischem und Cassirers pluralistisch-kulturphilosophischem Ansatz hergestellte Wechselwirkung führt beide über sich hinaus und bietet wichtige Impulse zur theologischen Verarbeitung des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus.