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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

231–233

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Held, Heinz Joachim

Titel/Untertitel:

Der Ökumenische Rat der Kirchen im Visier der Kritik. Eine kritische Lektüre der Forschungsarbeit "Ökumenischer Rat der Kirchen und Evangelische Kirche in Deutschland zwischen West und Ost" von Armin Boyens.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lembeck 2001. 327 S. gr.8. Kart. ¬ 20,50. ISBN 3-87476-370-6.

Rezensent:

Hartmut Lehmann

Im Vorwort seiner Abhandlung bemerkt Heinz Joachim Held, seine Ausführungen hätten "einerseits die Form einer überlangen Buchbesprechung, andererseits die einer zugegebenermaßen unfertigen Monographie, in mancher Hinsicht erst die einer Materialsammlung". Er sei sich "dieser Eigentümlichkeit durchaus bewußt" (7). Aus Sicht des Rez. ist zu ergänzen, dass es sich bei H.s Erörterungen um die Besprechung eines Buches handelt, in dem er persönlich eine wichtige Rolle spielt, dass seine Ausführungen durchaus unsystematisch angeordnet und somit in der Tat nicht abgerundet und deshalb auch nicht leicht lesbar sind, schließlich, dass er zu dem von ihm behandelten Thema viel Material ausbreitet: Persönliche Erinnerungen, Auszüge aus älteren und neueren Briefen, Gespräche mit Zeitzeugen, Protokolle sowie Auszüge aus weiteren Unterlagen, die teilweise in Genf liegen oder die auch in seinem persönlichen Besitz sind. Insgesamt umfasst das Ergebnis seiner "kritischen Lektüre" der 1999 publizierten, knapp 300 Seiten langen Untersuchung von Armin Boyens zum Thema "Ökumenischer Rat der Kirchen und Evangelische Kirche in Deutschland zwischen Ost und West" über 300 Seiten, aufgeteilt in 20 Kapitel sowie in einen Anhang mit 40 teilweise mehrseitigen Anmerkungen zu speziellen Fragen.

Es ist hier nicht möglich, alle Punkte, in denen H. die Darstellung von Boyens korrigiert und kritisiert, vorzutragen. Es kann vielmehr nur darum gehen, den wissenschaftlichen Wert der vorliegenden Arbeit zu würdigen. Vier Aspekte scheinen mir dabei wichtig:

1. Es gelingt H. ohne Zweifel, zu einzelnen Fragen, die Boyens erörtert hat, Neues zu sagen, ergänzende Materialien vorzulegen, von Boyens nicht erwähnte Argumente vorzutragen, auch einzelne Bewertungen, die Boyens vorgenommen hat, zurechtzurücken. Für alle, die sich mit der Haltung des ÖRK im Zeitalter des Kalten Krieges im Detail beschäftigen wollen, lohnt deshalb die Lektüre der Arbeit von H.

2. H. wirft Boyens vor, viele Fragen zu oberflächlich behandelt zu haben, ferner Voreingenommenheit, auch viele einseitige Urteile und Formulierungen. Boyens habe, so H., die vorliegenden Quellen nicht richtig verarbeitet, viele Quellen, die er hätte einsehen können, nicht berücksichtigt, Zeitzeugen, die noch lebten, nicht befragt. Kurzum, er sei wie ein Staatsanwalt vorgegangen, der in seinem Plädoyer zu einer emotionalen und suggestiven Art und Weise der Darstellung neige. Eine solche Vorgehensweise könne er, H., nicht als solide Forschungsarbeit bezeichnen und auch nicht fair nennen. Freilich: Auch H. ist kein ausgebildeter Historiker, auch er legt eine Kompilation von Materialien vor, die häufig aus dem Zusammenhang gerissen sind, und keine in die Tiefe dringende Analyse der historischen Probleme, um die es in diesem Fall geht. Wenn er Boyens als Ankläger charakterisiert, muss er es sich gefallen lassen, dass man sein Vorgehen als das eines Verteidigers in eigener Sache bezeichnet, der alle nur möglichen Argumente zu seiner eigenen Entlastung und zur Entlastung des ÖRK vorträgt. Aus fast allen Passagen seiner Ausführungen geht hervor, dass H. von Boyens' Schlussfolgerungen tief betroffen, gar verletzt ist. Gewiss, immer wieder stimmt er auch einzelnen Beobachtungen, die Boyens gemacht hat, ausdrücklich zu. Er äußert sogar Selbstkritik. Die meisten seiner Ausführungen sind freilich von einem etwas zu voreilig defensiven, um nicht zu sagen selbstgerechten Ton bestimmt, etwa in der Art: Wir haben im ÖRK im Verhältnis zu den aus religiösen Gründen von den kommunistischen Regimes verfolgten Dissidenten im Ostblock nur das Beste gewollt und auch viel Gutes getan und werden nun auf schlimme Weise missverstanden.

3. Die problematischen Aspekte in der Arbeit des ÖRK im Zeitalter des Kalten Krieges, die Boyens aufgezeigt hat und die H. nun zu erklären versucht, gewinnen durch die vorliegende Arbeit zusätzlich an Gewicht. Denn H. bestätigt durchaus, dass die östlichen Geheimdienste den ÖRK unterwandert hatten. Außerdem macht er an vielen Stellen seiner Studie klar, in welchem Maße diplomatische, das heißt vorsichtig-taktierende Erwägungen die Haltung des ÖRK gegenüber den Regierungen des Ostblocks bis in die Formulierung von Texten hinein bestimmt haben. Wenn H. uns nunmehr rät, bestimmte Passagen "schwejkhaft" zu verstehen und entsprechend zu lesen (86.132) und die Möglichkeiten der "stillen Diplomatie" anzuerkennen, demonstriert er nachträglich noch einmal, in welchem Maße sich Vertreter des ÖRK in den Verhandlungen mit Politikern und Kirchenfunktionären aus dem Ostblock in eine Sphäre der Andeutungen, vielleicht sogar der Zweideutigkeiten hineinbegeben haben, wo möglicherweise auch damals schon allein eine klare Sprache angebracht gewesen wäre.

4. Nicht nur Boyens, sondern auch H. zitiert ausführlich aus Quellen. H. trägt zudem viele Stellen nach, die Boyens aus Platzgründen weggelassen hatte. Aber auch bei H. erfahren wir nur einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Passagen. Im Hinblick auf die Bedeutung des von beiden Autoren behandelten Themas ist dies nach wie vor ein äußerst unbefriedigender Zustand. Dringend geboten scheint mir deshalb, möglichst bald eine möglichst umfassende Quellenpublikation zu dem zwischen Boyens und Held kontrovers diskutierten Thema auf den Weg zu bringen. Eine solche Publikation könnte sich zunächst auf gewisse, besonders sensible Themen konzentrieren. Denkbar wäre aber durchaus auch eine elektronische Publikation des kompletten Quellenbestandes. Für die weitere Erforschung der Haltung des ÖRK im Zeitalter des Kalten Krieges sowie für die Klärung des Schicksals der Kirchen im Ostblock zwischen 1945 wäre das ein großer Fortschritt.