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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

225–228

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sedmak, Clemens

Titel/Untertitel:

Lokale Theologien und globale Kirche. Eine erkenntnistheoretische Grundlegung in praktischer Absicht. Mit einem Geleitwort von R. Schreiter.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2000. 370 S. 8. Kart. ¬ 30,00. ISBN 3-451-27246-6.

Rezensent:

Martin Kumlehn

Seit geraumer Zeit ringt die röm.-kath. Kirche um eine theologische Verhältnisbestimmung von Ortsgemeinde und Gesamtkirche. Dabei geht es um die Frage, ob und in welchem Sinne "die Wirklichkeit der Gesamtkirche ontologisch und zeitlich den einzelnen Teilkirchen vorausgeht", wie die Glaubenskongregation vor zehn Jahren formulierte. Die lokale Kirche - so wurde vom Präfekten der Kongregation Josef Kardinal Ratzinger wiederholt geltend gemacht - ist als die konkrete empirische Verwirklichung der einen, universalen Kirche anzusehen. Die Sakramente, das Bischofs- und Priesteramt stehen indessen für die Vorgängigkeit der Gesamtkirche. Diese Auffassung, die sich eng an die Kirchenkonstitution "Lumen Gentium" (Vaticanum II) anschließt, ist insbesondere von der Befreiungstheologie problematisiert worden. Vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass der jeweilige kulturelle Kontext nicht ohne Auswirkungen auf die religiöse Praxis und auf die theologische Interpretation des in dieser Praxis kommunizierten Glaubens ist, lehnt sie die postulierte Vorordnung der Gesamt- vor der Einzelkirche vielfach als Ausdruck kulturimperialistischen Denkens ab.

In seiner 1999 von der Kath.-Theol. Hochschule Linz angenommenen Habilitationsschrift macht es sich S. zur Aufgabe, die im Rahmen dieser Auseinandersetzungen virulent werdenden fundamentaltheologischen Fragen näher in den Blick zu nehmen. Wie verhalten sich lokale Theologien zu den universalen Normen der röm.-kath. Tradition? Auf welcher Basis ließe sich ein Modell von Theologie entwickeln, das Lokalität und Inkulturation einerseits mit Globalität und Universalität andererseits zu verbinden erlaubt?

Bereits in der Einleitung (14-29), die wesentliche Ergebnisse der Studie komprimiert vorwegnimmt, zeigt S., dass hier eine Klärung nur gelingen kann, wenn man die drei für Theologie konstitutiven Dimensionen - "lokale kulturelle Praxis, translokale Institutionalisierung, universale Ansprüche" (14) - aufeinander beziehbar hält. S. erinnert "an den Primat der (lokalen) religiösen Praxis vor der Reflexion mit universalen epistemischen Kategorien." (18) Theologie ziele auf die Erzeugung von Orientierungswissen in konkreten Lebenssituationen. Darum sei der Bezug "auf lokale Kontexte, die ihre lokalen Normen haben" (19), für die Theologie fundamental - sie könne stets "nur lokal betrieben werden" (26). Die gleichzeitige Einbindung lokaler Theologien in die globale Institution der röm.-kath. Kirche garantiere, "daß ein lokaler Kontext nicht in Provinzialismus fällt." Eben darin liege von Beginn an der Sinn "der Institutionalisierung des christlichen Glaubens", dass mit ihrer Hilfe "bestimmte lokale Kontexte transzendiert und bestimmte Inhalte über einen bestimmten Kontext hinaus (,diachron und diatopisch') tradiert und stabilisiert" (21) würden. Dazu müsse man jedoch auf allgemeine, universal gültige Kategorien menschlicher Lebens- und Glaubenspraxis rekurrieren. "Diese universale Dimension, der epistemische Anspruch, zeitlose Fragen des Menschen anzusprechen," gründe in der christlichen Botschaft von der "Menschwerdung Gottes, die über alle kulturellen, geographischen und geschichtlichen Grenzen hinweg" (25) kommuniziert werden solle.

Den lebensweltlichen, semiotischen und erfahrungsbezogenen Implikationen der Lokalität von Theologie geht S. in einem ersten Teil ("Die lokale Basis der Theologie", 30-162) nach. Wie für alle "systematischen Erkenntnisanstrengungen" sind auch für die Theologie "soziale Handlungszusammenhänge" (33) der Ausgangspunkt der Theoriebildung. Ermöglicht, stabilisiert und geordnet werden solche Handlungszusammenhänge durch ein kulturell vermitteltes Regelwerk (vgl. 45). Theologie muss darum stets kulturtheoretisch operieren, d. h. vor allem - wie S. im Anschluss an Wittgenstein ausführt - sprachanalytisch. Es gilt, die theologische Interpretation der religiösen Selbst- und Welterfahrung in ihrer jeweiligen kulturellen Bedingtheit zu entschlüsseln und zugleich ihren Zusammenhang mit der "Offenbarung als lokales Geschehen mit universaler Bedeutung" (82) zu bestimmen, und zwar u. U. durchaus in kritischer Absicht: "Das normative Fundament, das Anfragen an einen lokalen Kontext ermöglicht und diesen Kontext dazu einlädt, über sich hinauszugehen, ist einerseits die Erfahrung alternativer Kontexte und andererseits (sehr viel wichtiger) die Rekonstruktion der christlichen Botschaft." (85 f.) Letzteres vollzieht sich S. zufolge im Rückgang auf Schrift, Lehramt und Tradition. Er sieht hier zwar die Schwierigkeit, dass auch dieser Rückgang auf das ,normative Fundament' eine Orientierung an wiederum lediglich "lokalen Quellen der Gottesrede" (88) bedeutet, lässt dieses Problem aber im weiteren Verlauf unbearbeitet. Stattdessen pointiert er das geläufige Selbstverständnis der röm.-kath. Kirche, wonach "der Selbstvollzug der Kirche zugleich Vollzug des Offenbarungsgeschehens" sei, insofern "die Kirche gleichzeitig Gott erfahrbar macht und auf Gottes Offenbarung antwortet" (91). S. kommt es hier vor allem auf den Erfahrungscharakter des Glaubens an. Einerseits gilt: "Religiöse Erfahrung ist als religiöse Erfahrung nicht intersubjektiv." (96) Andererseits artikuliert sie sich im Rahmen eines "symbolischen Kosmos", der kommuniziert werden kann und der den Deutungsrahmen einer bestimmten Religion bildet. "Jede Religion beruht auf einer primären religiösen Erfahrung" - das Christentum auf dem Gottesbewusstsein Jesu, welches "die Grundlage für die Interpretation aller weiteren Erfahrungen innerhalb dieser Religion abgibt" (106). Religiöse Gemeinschaften brauchen dann freilich eine autoritative Instanz, die gegebenenfalls auftretende Konflikte zwischen verschiedenen Weisen der Bezugnahme auf die Interpretamente des symbolischen Kosmos entscheidet, wie es in der röm.-kath. Kirche durch die Autorität des Lehramtes geschieht, "die sich aufgrund göttlicher Stiftung als epistemisch gesichert weiß" (107) - eine Argumentationsfigur, die weitreichende Konsequenzen für S.s Verhältnisbestimmung von lokalen Theologien und universaler Normativität hat.

Die Eckpfeiler des symbolischen Kosmos der christlichen Religion rekonstruiert S., indem er zum einen die Eigenart der Theologie Jesu charakterisiert (vgl. 108-129) und zum anderen das Wesen des Christentums bestimmt (130-162), das in seinen Augen im "Primat des Besonderen vor dem Allgemeinen, ... des lokal Gelebten vor dem universal Gedachten" beschlossen liegt. Denn nicht "als Idee, sondern als Person ist Gott in die Welt gekommen, an bestimmtem Ort zu bestimmter Zeit, in bestimmter Gestalt." (135)

Im zweiten, gelegentlich etwas redundanten Teil seines Buches widmet sich S. unter der Überschrift "Die Architektur von Theologien" (163-338) der Frage, welche erkenntnislogischen Konsequenzen sich aus dem Primat des Lokalen im Blick auf die Konstruktionsprinzipien von Theologien ergeben. Angesichts des Pluralismus theologischer Konzepte sei eine prinzipielle "Selbstbescheidung der Theologie" geboten. Denn "nicht universale, transkulturelle theologische Entwürfe, sondern lokale theologische Modelle können den Anforderungen von 'local appropriateness' eher entsprechen." (189) S. plädiert daher für eine "kontextuelle Theologie" (312). "Kultur und lokale Kontexte" seien in dieser Perspektive "nicht mehr Bereiche, an die die Theologie angepaßt wird, sondern Quellen der Theologie, loci theologici." (313 f.) Diese - wie es scheint - eindeutige Option für die lokalen Theologien wird vom Vf. im weiteren Verlauf jedoch zu Gunsten der universalen theologischen Ansprüche, die er institutionell im kirchlichen Lehramt verankert sieht, relativiert. Glaubens-, Erfahrungs-, Offenbarungs- und Autoritätsbezug gelten ihm als Mindestanforderungen für theologische Modelle (vgl. 273 f.). Zwar liegt S. ganz offensichtlich daran, durch den Verweis "auf die kontextuellen Bedingungen ... von theologischen Modellen" den Verdacht zu entkräften, "die Rede von einer Pluralität von Modellen" laufe auf einen "unkritischen Relativismus" (296 f.) hinaus, aber er scheint seiner eigenen Argumentation in dieser Sache selbst nicht recht zu trauen, da er wenig später ebenso nachdrücklich auf dem "normativen Rahmen", auf dem "Begriff universaler theologischer Standards", die sich aus den "Normquellen Schrift, Tradition und Lehramt" (303) speisten, insistiert. Das aus diesen Quellen gewonnene theologische Wissen garantiere, dass "sich nicht ein bestimmter lokaler Kontext in provinzieller Verblendung zur höchsten Norm" (208) erhebe. Allerdings seien weder die Theologen "noch die theologische Fachwelt" die "letzte Instanz der Validierung theologischer Aussagen in der katholischen Kirche", sondern das Lehramt, das überhaupt erst die "institutionalisierten Zeichen zur Verfügung stellt, mit denen der Theologe arbeitet. Erst die Institutionalisierung einer Interpretation von Offenbarung erzeugt die theologisch vertraute Normativität der primären religiösen Erfahrung, die nicht als ,private Erinnerung', sondern kommunale memoria verwaltet wird." (176 f.) Dem Lehramt also, "das gemäß seines Gewichts in der katholischen Kirche auch als universale normenstiftende Instanz anzuerkennen" (308) sei, weist S. die Funktion zu, der dem faktischen Pluralismus gelebter Religion wie gelehrter Theologie zweifelsohne innewohnenden relativistischen Tendenz entgegenzusteuern. Der dezisionistische Charakter dieser Funktionszuweisung bleibt dem Vf. anscheinend verborgen. So drängt sich am Ende der Eindruck auf, dass S. die von ihm eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von lokalen Theologien und universalen Normen zwar in einer bestimmten Weise - nämlich zuletzt doch zu Gunsten der universalen Normativität - entscheidet, er das mit dieser Frage einhergehende Problem aber eben darum nicht eigentlich löst. Die Herausforderungen, die mit dem modernen Individualismus und Pluralismus an Kirche und Theologie gestellt sind, verlangen nach einem Reflexionsrahmen, der über vormoderne Institutionen hinauszudenken erlaubt.