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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

224 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Murmann, Ulrike

Titel/Untertitel:

Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 200 S. gr.8 = Forum Systematik, 8. Kart. ¬ 30,40. ISBN 3-17-016585-2.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

Den Einfluss der Philosophie Schellings auf das eigene Denken, besonders im Blick auf die Themen Entfremdung und Sünde, hat Tillich wiederholt selbst betont. Es ist daher konsequent, wenn die vorliegende, bei H. Fischer angefertigte und in Hamburg als Dissertation angenommene Untersuchung die Arbeiten zunächst des frühen Tillich, hier besonders die Marburger Dogmatik, die wiederum im Zusammenhang seiner Wissenschaftslehre und Religionsphilosophie behandelt wird (63-97), und sodann die "Systematische Theologie" (97-189) zu deuten versucht auf dem Hintergrund von Schellings "Freiheitsschrift" und dessen Spätphilosophie. Von dem schmalen Kapitel zu Schellings Philosophie (21-48) wird man keine umfassende Darstellung erwarten dürfen, deren Grundaussagen sind indes gut entfaltet; und in einem anschließenden Kapitel geht die Vfn. auf Tillichs eigenes Verständnis derselben ein (49-61). Er hat sie als "Existentialismus" und die "Freiheitsschrift" quasi als dessen Geburtsstunde aufgefasst, insofern seit dieser "die Welt, in der wir leben, einschließlich der Natur, als eine gebrochene Einheit, als Fragment und zerstörtes Sein beschrieben worden [ist]" (GW IV, 166).

Tillich knüpft entschieden an Schelling an, und zwar zunächst an dessen Ontologie, spekulative Metaphysik und den Systemgedanken. Er scheint auch an den damit für die Konzeption der Sündenlehre verbundenen Problemen zu partizipieren, wie sich dies in der Kritik an Tillich ausdrückt, welche die spekulative Ableitung der Sünde, deren ontologische Verharmlosung und die damit einhergehende Unterbestimmung des Schuldcharakters moniert (Bümlein, Schepers, Wernsdörfer, ferner Mokrosch, Kodalle). Demgegenüber ist es das Anliegen der Vfn., Tillichs Ontologie vor dem Hintergrund von Heideggers Ontologie anders zu gewichten (17), nämlich als Analyse der existierenden Subjektivität (116), um von daher die Bedeutung von Tillichs Freiheitstheorie, wie sie dann besonders die Sündenlehre der "Systematischen Theologie" prägt, gegenüber der (seinsmetaphysischen) Ontologie stärker betonen zu können - sowohl werkimmanent als auch im Vergleich zu den bereits vorliegenden Interpretationsansätzen (17.20). Diesem Anliegen, die Ontologie aus der Perspektive der Subjektivitätsthematik zu deuten, dienten bereits die Ausführungen der Vfn. zu Tillichs sinntheoretischer Konzeption (69-94). Sie sind argumentativ gewichtiger als der Verweis auf Heidegger, der in der Durchführung ohnehin sehr knapp ausfällt (115-120) und die Vfn. zudem zu der Feststellung von "mannigfaltigen inhaltlichen Divergenzen" (120) zwischen beiden führt.

Auch in der Freiheitstheorie zeigt sich Tillich von Schelling abhängig. Er nimmt den Begriff von Freiheit als Vollzug der "Entscheidung" in der Möglichkeit der "Wahl" zwischen Gut und Böse ebenso auf wie die Vorstellung vom Urstand und vorzeitlichen Fall (20, bes. 131 ff.163.189 f.). Dass dieser ganze Vorstellungszusammenhang freiheitstheoretisch und sodann hamartiologisch auch für problematisch angesehen werden kann, wird von der Vfn. nicht weiter diskutiert, obwohl sie zumindest Kierkegaards diesbezügliche Kritik (BA 115) kurz aufgreift (162).

Tillichs Behauptung, die Sünde sei "von der Freiheitsstruktur des Menschen als solcher" abzuleiten, ist grundsätzlich zuzustimmen. Die Feinheiten liegen in der Durchführung. Tillich knüpft für eine solche "Ableitung" neben Schelling teilweise an Kierkegaards (m. E. stärkere) Analyse der Angst im Vollzug von Freiheit an (dazu 155-160).

Die Vfn. zieht aus ihrer Interpretation mit Recht die Folgerung, dass nach Tillichs Verständnis von Freiheit der Mensch "gar nicht anders kann, als sie zu vollziehen" (191, dazu 165 ff.). Diesem Sachverhalt entspricht seine schöpfungstheologisch problematische und im Blick auf die Schuldfrage vielfach kritisierte Aussage von der "Koinzidenz von Schöpfung und Fall" (vgl. zur Relativierung dieser Kritik 170 ff.). Wenn die Vfn. unter Rückgriff auf obige Freiheitsvorstellung allerdings sogleich betont, dass dieser Schritt "ganz und gar abhängig davon [ist], daß der Mensch sich für ihn entscheidet, und das heißt, eine andere Möglichkeit ablehnt", welche abgelehnte Möglichkeit sie darin sieht, "seine Freiheit nicht zu verwirklichen und in der Unwirklichkeit der träumenden Unschuld zu verharren" (191), dann ist zu fragen, wer ein solches Verharren überhaupt wollen kann; und ferner, wo und wie ein solcher Zustand träumender Unschuld anzusetzen ist. Sodann wäre mit dieser Vorstellung nur der "Übergang" zur Verwirklichung von Freiheit anvisiert, indes noch gar nicht geklärt, dass und inwiefern in solchem Vollzug des Übergangs zur Verwirklichung endlicher Freiheit bereits die Sünde gesetzt ist. Schließlich wäre der Frage noch näher nachzugehen, ob und inwiefern der Christologie Bedeutung zukommt als Erkenntnis- und Bestimmungsgrund der Sünde (dazu allzu knapp 183-85). Der christologisch begründete Zugang zur Sündenlehre muss eine freiheits- und "kulturtheoretisch" (dazu 13.15 u. ö.) vermittelte Rede von Sünde ja nicht stricte dictu ausschließen.

Je nachdem, wie die Leser die gestellten Anfragen systematisch gewichten, wird die Zustimmung zu Tillichs Hamartiologie und zu der vorliegenden soliden und von der "unverändert aktuell[en]" (192, 13 u. ö.) Bedeutung derselben durchgängig überzeugten Interpretation ausfallen. Indes auch im Fall emphatischer Zustimmung wäre zwischen dem, was Tillich für die Sündenlehre programmatisch gewollt hat, und der Art und Weise ihrer Durchführung noch einmal relativierend zu unterscheiden.