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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

222–224

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kleymann, Siegfried

Titel/Untertitel:

"... und lerne, von dir selbst im Glauben zu reden." Die autobiographische Theologie Joseph Wittigs (1879-1949).

Verlag:

Würzburg: Echter 2000. XI, 483 S. gr.8 = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 27. Kart. ¬ 29,80. ISBN 3-429-02190-1.

Rezensent:

Friedrich Schweitzer

Vorliegende Studie des Münsteraner Pfarrers Kleymann wurde 1999 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster als Dissertation angenommen (Betreuer: Jürgen Werbick). Sie ist der Person und dem Werk Joseph Wittigs gewidmet, eines Breslauer Kirchengeschichtlers und religiösen Schriftstellers, der heute einerseits - selbst in katholischen Kreisen - weithin vergessen ist, andererseits durch seine "autobiographische Theologie" sowie durch seine Position als kirchenkritischer Rebell (1926 wurde er aus der katholischen Kirche ausgeschlossen) heute wieder Interesse findet oder wenigstens finden kann. Die vorliegende, trotz ihres Umfangs sehr gut zu lesende Darstellung lädt jedenfalls dazu ein, sich mit J. Wittig zu beschäftigen und sich auf die Geschichte dieses eigentümlichen Menschen einzulassen.

Der Vf. ordnet seine Untersuchung vor allem der Fundamentaltheologie zu: "Mit Blick auf das lebensgeschichtliche Erzählen Joseph Wittigs soll nach den Möglichkeiten und Schwierigkeiten christlicher Selbstthematisierung gefragt und insofern ein fundamentaltheologischer Beitrag zur theologischen Autobiographieforschung gegeben werden" (5 f.). Gleichwohl dürfte sein Buch auch für die Kirchen- und Theologiegeschichte ebenso von Interesse sein wie für die praktisch-theologische Biographieforschung oder für den Zusammenhang von Theologie und Literatur.

Nach einem kurzen Einleitungskapitel, das eine gelungene Einladung an die Leser darstellt ("Der Junge auf dem Heuhaufen"), folgt im zweiten Kapitel eine kondensierte Zusammenfassung zum Stand der Diskussion über das Verhältnis von Autobiographie und Theologie (8-38). Hier werden zwar kaum eigene Akzente gesetzt, aber immerhin wird eine gelungene handbuchartige Überblicksdarstellung erreicht.

Das dritte Kapitel gibt Einblick in die Vita Wittigs sowie und vor allem in die Rezeption seines Werkes. Wittig erscheint als eine umstrittene Figur, voller Ambivalenzen. Auch die (positive) evangelische und jüdische Rezeption finden Berücksichtigung. Gleichsam als Hinweis auf die Vorgeschichte der vorliegenden Studie wird auf das sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erneuernde Interesse hingewiesen.

Mit dem vierten Kapitel beginnt die Erschließung und Darstellung der Veröffentlichungen Wittigs in formaler und inhaltlicher Hinsicht, jeweils verbunden mit der Biographie sowie mit theologischen Beobachtungen. Im Grunde bleibt dieser Duktus in allen weiteren Kapiteln erhalten, wobei aber in den letzten beiden Kapiteln stärker theologie- bzw. theoriegeleitete Fragen nach "theologischen Entscheidungen" und einer "autobiographischen Theologie" bestimmend werden.

Sorgfältig rekonstruiert werden die Erfahrungen mit Personen, mit Kirche und Religion, die sich mit den verschiedenen Lebensstationen Wittigs von der Kindheit über das Jugendalter bis hin zu seiner akademischen Lehrtätigkeit und der Existenz als von der Kirche ausgeschlossener Schriftsteller verbinden. Dabei werden die schlesischen Wurzeln und die bleibende Heimatverbundenheit Wittigs ebenso deutlich wie die Weltoffenheit, die für diesen Mann offenbar nicht weniger kennzeichnend war. Zu seinen mündlichen und schriftlichen Gesprächspartnern zählten etwa Eugen Rosenstock und Martin Buber oder Karl Muth, Martin Rade und Hermann Mulert. Als Autor figurierte Wittig ebenso im Katholischen Sonntagsblatt der Erzdiözese Breslau wie im Heliand, im Eckart, im Hochland oder in der Christlichen Welt. Durchweg ist Wittigs schriftstellerische Tätigkeit von erfahrungs- und lebensbezogener Theologie bestimmt, von der Suche nach neuen Sprach- und Ausdrucksmöglichkeiten, die aus der tief empfundenen Enge der Theologie hinausführten. Eben dies war wohl auch ein wesentlicher Grund dafür, dass er von seiten der römischen Kirche des Subjektivismus und des Modernismus verdächtigt wurde. Aus diesem Verdacht erwuchs schließlich der Konflikt, der mit Wittigs Kirchenausschluss endete.

Wittig versteht sich nicht einfach als religiöser Schriftsteller, er sieht sich als "Schreiber Gottes". Für den Vf. als Fundamentaltheologen erwachsen daraus gewichtige systematisch-theologische Fragen an das Verhältnis von Theologie und Autobiographie:

"Wenn geschriebenes Wort, beschriebene Welt und schreibender Werkmeister, göttlicher Initiator und Gott als Inhalt des Geschriebenen nicht voneinander zu trennen, sondern durch den schöpferischen Prozeß des Schreibens unlösbar miteinander verknüpft sind, stellt sich die Frage, ob und wie der Schreiber Distanz zu einem Werk, zu sich selbst, zu seinem Gott zu gewinnen vermag. Gibt es als Gegenbewegung zum Verschmelzungsprozeß auch Distanzierungen und identitätsstiftende Auseinander-Setzungen? ... Hinsichtlich der Beziehung zu Jesus Christus wird ebenfalls dem Verhältnis von Verwandtschaft und Unendlichkeit nachzugehen sein. Die Parallelisierungen können interpretiert werden als narzisstische Vereinnahmungen, als freimütiges Bekenntnis der im Unbewußten des Schreibers vorhandenen Projektionen oder als Stilmittel, mit dem er theologische Optionen umsetzt ... Schließlich stellt sich das Problem, einen Maßstab zu finden, an dem - jenseits der Nachprüfbarkeit der reinen Faktizität - die Wahrheit und ,Richtigkeit' einer Selbstthematisierung gemessen wird, die beansprucht, christlich zu sein." (114)

Der Vf. lässt keinen Zweifel daran, dass er Wittigs Impulse als beachtlichen Ausbruch aus dem damals in der katholischen Theologie und Kirche weithin vorherrschenden neuscholastischen Systemdenken beurteilt. Insofern findet der von Wittig eingeschlagene theologische Weg Zustimmung. Gleichwohl macht der Vf. besonders in den theologischen Analysen im letzten Teil des Buches auch die Ambivalenz der von Wittig in Anspruch genommenen theologischen Deutungselemente sichtbar. Wenn im Sinne des "Concursus divinus" alles im Leben unter dem Aspekt von "Vorsehung", "Führung" und einem "Wirken" Gottes gesehen wird, ist theologischer Widerspruch angezeigt:

"In dieser Gestalt wird sie [die Concursus divinus-Lehre Wittigs] den Widerspruch provozieren (müssen), das ,Mysterium der menschlichen Handlungen' lasse sich in dieser Einseitigkeit nicht festschreiben, sondern sei wiederum ganz anders als beschrieben. Wenn die Concursus divinus-Lehre, die in der persönlichen und gesellschaftlichen Krisensituation für Wittig zum Hoffnungspotential mit befreiendem Charakter wird, unter dem Signum der wiederentdeckten Wahrheit allgemeingültig vorgetragen wird, muß sie sich nach ihren Begrenzungen und Einseitigkeiten fragen lassen." (320)

Ähnliche Fragen brechen im Blick auf Wittigs Offenbarungsverständnis auf, das auch sein Schriftverständnis betrifft (344f.). Oder: Die von Wittig im Blick auf Jesus empfundene "Ähnlichkeit und Gleichheit" scheint zu Verschmelzungen zu führen, die theologisch problematisch sind. Und immer wieder stößt der Vf. auf die Frage, ob hinter dem allzu persönlich-väterlich dargestellten Gott bei Wittig nicht eine unbewältigte Beziehung zu seinem leiblichen Vater steht.

Solche Fragen, die hier in plastischem Biographiebezug bearbeitet werden, machen ein solches Buch auch attraktiv für Seelsorger sowie für alle, die sich die Vermittlung von Glaube und Leben zur Aufgabe gemacht haben. Dass das vorliegende Buch auch eine exzellente Darstellung von Leben und Werk J. Wittigs ist, dürfte schon genügend deutlich geworden sein. Gerade als evangelischer Leser habe ich es mit großem Gewinn gelesen.