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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

212–214

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Goudriaan, Aza

Titel/Untertitel:

Philosophische Gotteserkenntnis bei Suárez und Descartes im Zusammenhang mit der niederländischen reformierten Theologie und Philosophie des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1999. XI, 327 S. gr.8 = Brill's studies in intellectual history, 98. Lw. ¬ 95,00. ISBN 90-04-11627-3.

Rezensent:

Dominik Perler

Seit den Pionierarbeiten von E. Gilson und A. Koyré ist allgemein bekannt, dass Descartes nicht einfach alles umgestürzt und neu angefangen hat, wie er zu Beginn der I. Meditation behauptet, sondern in hohem Maße an spätscholastische Philosophen - insbesondere an F. Suárez - angeknüpft hat. Besonders in seiner Ideen- und Gotteslehre hat er sich eingehend mit diesem spanischen Denker auseinandergesetzt. Seit den Forschungen von P. Dibon und J. A. van Ruler ist ebenfalls bekannt, dass Suárez auch auf andere Philosophen und Theologen, die im 17.Jh. in den Niederlanden lehrten, einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt hat. Doch die genauen Zusammenhänge zwischen Suárez und Descartes einerseits sowie zwischen Suárez und den niederländischen Intellektuellen andererseits sind bislang noch kaum untersucht worden. Dies liegt zum einen daran, dass die Texte von J. Revius, G. Voetius, A. Heerebord u. a. weitgehend unerforscht geblieben sind. Zum anderen ist das mangelhafte Interesse auch auf eine eingeschränkte Forschungsperspektive zurückzuführen. Suárez galt (und gilt teilweise heute noch) nur im Hinblick auf die Ausarbeitung einer Ontotheologie und einer Transzendentalwissenschaft als bedeutungsvoll. Andere Aspekte seiner Philosophie - vor allem seiner philosophischen Gotteslehre - traten dabei weitgehend in den Hintergrund.

In seiner innovativen Studie leistet A. Goudriaan einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der bisherigen Forschungsdefizite. Er weitet zunächst das Untersuchungsfeld aus, indem er nicht nur Suárez und Descartes in den Blick nimmt, sondern sich auch ausführlich den niederländischen reformierten Theologen im 17. Jh. widmet, und zwar sowohl den cartesianischen als auch den anticartesianischen Autoren. Dadurch gelingt es ihm, ein differenziertes Bild von der intellektuellen Landschaft in den Niederlanden zu zeichnen. Dieses Bild beinhaltet J. Revius' Suarez repurgatus ebenso wie Petrus van Mastrichts Novitatum cartesianarum gangraena, J. Claubergs Defensio cartesiana oder Melchior Leydekkers Fax veritatis. G. erweitert aber auch die Forschungsperspektive, indem er den Ansatz bei einer Ontotheologie bewusst vermeidet und weiter gefasste Leitfragen formuliert (5): Unter welchem Gesichtspunkt und mit welchen methodischen Mitteln gelangen Suárez, Descartes und die Theologen des 17. Jh.s zu einer Erörterung der Gotteslehre? Wie erklären sie die Eigenschaften Gottes? Welche Beweise führen sie zu Gunsten der Existenz Gottes an? Und wie bestimmen sie die Qualität der philosophischen Gotteserkenntnis? Diese Leitfragen sind geschickt gewählt, denn sie ermöglichen eine breite Abstützung der Untersuchung in den Texten und vermeiden eine eingeschränkte heideggerianische Sicht auf die Metaphysik.

Eine weitere Qualität der Studie besteht darin, dass sie nicht einfach einen historischen Überblick gibt, sondern problembezogen aufgebaut ist. Im ersten Teil, der Suárez gewidmet ist, werden die Stellung der Gotteslehre innerhalb der Metaphysik, die Kausalargumentation zu Gunsten der Existenz Gottes sowie die Fragen nach der Bezeichnung Gottes, nach seinen Eigenschaften und seiner Erkennbarkeit diskutiert. Die Stellungnahmen der niederländischen Theologen werden jeweils im Hinblick auf diese Problemstellungen erörtert. So wird deutlich, dass im 17. Jh. eine rege systematische Debatte geführt wurde, die keineswegs nur im Ausarbeiten von bereits bestehenden Lehrmeinungen bestand, sondern in erheblichem Maße auch zur Revision einzelner Ansichten beitrug. G. weist beispielsweise nach, dass Suárez' These, Gott existiere in unendlichen imaginären Räumen, von Ch. Wittich, A. Heidanus u. a. scharf kritisiert wurde (101 f.). Denn wie sollte ein wirklicher Gott in nicht-wirklichen Räumen existieren können? Und wie sollte etwas Nicht-Ausgedehntes in ausgedehnten Räumen lokalisiert sein? Diese scharfsinnigen Fragen verdeutlichen, dass die niederländischen Theologen im Rahmen der Gotteslehre immer auch grundlegende Probleme der Metaphysik und der Physik diskutierten.

Auch im zweiten Teil, der sich mit Descartes befasst, orientiert sich G. an einzelnen Problemen, die er mit systematischem Blick diskutiert. Es gelingt ihm dabei, ältere Forschungsarbeiten in wichtigen Punkten zu korrigieren. So kann er zeigen (pace A. Koyré und E. Gilson), dass Descartes sich mit seiner These von der angeborenen Gotteserkenntnis klar von Suárez abgegrenzt hat, wie im 17. Jh. bereits J. Revius und G. Voetius bemerkten (275). G. weist auch überzeugend nach (pace W. Pannenberg), dass das Cogito-Argument nicht implizit die Erkenntnis Gottes als eines unendlichen Wesens voraussetzt. Denn in der II. Meditation wird noch nicht vorausgesetzt, dass die eigene Existenz als endlich erfasst und damit in Relation zu etwas Unendlichem gesetzt wird (197). Zudem gelingt es G., den bisherigen Forschungsstand durch neue Einsichten zu ergänzen. Eine wichtige neue Einsicht betrifft das Problem der ewigen Wahrheiten. Bislang wurde angenommen, Descartes sei diesbezüglich innovativ gewesen. Im Gegensatz zu Suárez, dem zufolge ewige Wahrheiten an sich existieren, habe Descartes nämlich die These vertreten, diese Wahrheiten seien von Gott abhängig und könnten von ihm jederzeit geändert werden. G. weist nach, dass diese These nicht so neu ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Bereits 1623 (also rund sieben Jahre vor Descartes' berühmten Briefen) stellte der Theologe W. Amesius in seiner Medulla theologica fest, dass alles - auch der Bereich der ewigen Wahrheiten - von Gott als der ersten Ursache abhängig ist (127). Dieses Beispiel zeigt, dass die niederländischen Theologen über innovatives Potential verfügten und sich nicht damit begnügten, bestehende Meinungen einfach zu kommentieren.

Wenn G.s Studie auch zahlreiche neue Forschungsbeiträge enthält, wirft sie doch auch einige Fragen auf. Eine erste Frage stellt sich hinsichtlich der Situierung der Gotteslehre im philosophischen Programm Descartes'. G. weist zwar zu Recht darauf hin, dass die Gotteslehre stets im Hinblick auf den ganzen "ordre des raisons" zu betrachten ist (173 f.) und dass somit zu beachten ist, wie sie auf dem aufbaut, was vor der III. Meditation eingeführt wird. Erstaunlicherweise geht er aber nicht auf das ein, was danach folgt: die Urteilstheorie in der IV. Meditation und die Argumente zu Gunsten einer Erkenntnis der materiellen Welt in der VI. Meditation. Um dem "ordre des raisons" gerecht zu werden, müssten diese Punkte ebenfalls beachtet werden. Sie zeigen nämlich, dass die Gotteslehre bei Descartes eine entscheidende erkenntnistheoretische Funktion hat: Gott ist ein Garant dafür, dass wir wahre Ideen und damit auch wahre Urteile bilden können. Ebenso garantiert Gott, dass die materielle Welt tatsächlich existiert und dass wir sie im Normalfall auch korrekt erkennen können. Zieht man dies in Betracht, zeigt sich nicht nur "eine subjektivistische Prägung des cartesischen Gottesgedankens" (175), sondern in gewisser Weise auch eine objektivistische Prägung: Gott garantiert, dass wir nicht in unseren subjektiven geistigen Zuständen gefangen sind, sondern die Welt außerhalb unseres Geistes so erkennen können, wie sie wirklich ist.

Weiter fällt auf, dass gewisse Schwierigkeiten der Gotteslehre bei G. nicht zur Sprache kommen. Eine zentrale Schwierigkeit betrifft den berühmten "cartesischen Zirkel". Descartes scheint einerseits zu behaupten, dass unsere klaren und deutlichen Ideen wahr sind, weil Gott existiert und ihre Wahrheit garantiert. Andererseits scheint er aber auch zu behaupten, dass wir die Existenz Gottes mit einer klaren und deutlichen Idee erkennen können und dass diese Idee immer schon wahr ist. Ob Descartes einen Ausweg aus diesem Zirkel findet, ist seit A. Arnaulds Kritik umstritten. Aber auf jeden Fall muss dieser Zirkel in den Blick genommen werden; denn wenn er sich nicht auflösen lässt, erweist sich der ideentheoretische Gottesbeweis als zirkulär und die Basis für eine philosophische Gotteslehre entfällt.

Schließlich ist zu bemerken, dass G. den Bildcharakter der Gottesidee bei Descartes betont. Er weist zwar darauf hin, dass ,imago' sowohl ,Abbild' als auch ,Urbild' bedeuten kann (207), erklärt aber nicht im Detail, was hier unter einem Abbild bzw. Urbild zu verstehen ist. Selbst wenn man einsieht, dass es sich nicht um ein stoffliches Bild handelt (213), bleibt immer noch offen, wie der Bildcharakter zu verstehen ist. Enthält die Idee Gottes piktoriale Elemente? Oder weist sie einfach einen intentionalen Charakter auf? Mir scheint, dass diese Fragen dringend einer Klärung bedürfen, wenn die zentrale These von der Idee Gottes heutigen Leserinnen und Lesern verständlich gemacht werden soll. - Die offenen Fragen weisen darauf hin, dass G.s Studie zu weiteren Arbeiten anregt. Sie stellt auf jeden Fall einen wichtigen Beitrag zur Theologie- und Philosophiegeschichte der frühen Neuzeit dar.