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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

206–208

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Nowak, Kurt

Titel/Untertitel:

Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 632 S. 8 = UTB für Wissenschaft, 2215. Kart. ¬ 24,90. ISBN 3-8252-2215-2 (UTB) und 3-525-03233-1 (V & R).

Rezensent:

Dietz Lange

Eine umfassende Biographie Schleiermachers ist seit Wilhelm Diltheys (1870) großartigem, aber in vielem inzwischen durch die Forschung überholten Werk ein Desiderat gewesen. Nachdem der durch die Dialektische Theologie bedingte tiefe Einbruch des Interesses an Schleiermacher und der durch ihn bestimmten freien protestantischen Theologie seit Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts allmählich überwunden worden war, hat man beispielsweise Schleiermachers Rolle in der Geschichte der Hermeneutik und seine politischen Anschauungen differenzierter zu sehen gelernt, und die Kenntnis insbesondere der frühen Stadien seines Denkens ist durch die Kritische Gesamtausgabe auf eine erheblich breitere und zuverlässigere Quellenbasis gestellt worden. Zudem hat die historische Forschung insgesamt durch Einbeziehung soziologischer und alltagsgeschichtlicher Gesichtspunkte ihren Horizont erheblich erweitert.

In allen diesen Hinsichten entspricht Kurt Nowaks Buch methodisch und sachlich voll dem Stand der Forschung. Durch seine Doppelqualifikation als Germanist und Theologe ist er zudem besser als viele andere in der Lage, der enormen Vielseitigkeit von Schleiermachers Werk gerecht zu werden. Er beherrscht den riesigen Stoff souverän. Dabei ist das Buch flüssig und anschaulich geschrieben und liest sich ausgesprochen gut. Auch schwierige gedankliche Zusammenhänge sind verständlich dargestellt - bei Texten wie der Dialektik wahrlich keine geringe Leistung. (Dass dabei nicht der Präzisionsgrad von Spezialuntersuchungen erreicht werden kann - Beispiel: das genaue Verhältnis von Spekulation und Empirie S. 286 - versteht sich von selbst und sollte dem Vf. nicht angekreidet werden.) Wenn N. sich dabei fast ausschließlich auf die Quellen bezieht und auf eine Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur weitgehend verzichtet (7), so scheint mir dies kein Nachteil zu sein, zumal seine genaue Kenntnis des Forschungsstandes auf Schritt und Tritt zu spüren ist.

Die Gliederung nach Lebensabschnitten (Kindheit, Jugend, Bildungsweg 1768-1796; Prediger, Schriftsteller, Professor 1796-1807; Höhe des Lebens 1807-1822; Das letzte Jahrzehnt 1823-1834) ist einleuchtend. Dass der dritte - längste - Teil nicht in einheitlicher chronologischer Abfolge dargestellt wird, weil Schleiermachers verschiedene Tätigkeitsbereiche sich hier vielfältig überschneiden (187), ist sachgemäß. Schade ist freilich, dass etwa die Ausführungen über die kirchenreformerischen Bestrebungen (356-371) von denen über den Agendenstreit (385-390) getrennt worden sind. Insgesamt aber gelingt es dem Vf. durchweg, die internen Zusammenhänge von Schleiermachers Werk aufzuzeigen und auch sein Verhältnis zu den Menschen, die für sein Leben Bedeutung hatten, sowie das Verhältnis zu der allgemeinen geistigen und gesellschaftlichen Situation proportional wohl abgewogen darzustellen. Dabei versteht er die Abwege einer Idealisierung und einer ungerechten Kritik gleichermaßen zu vermeiden. Die Genialität und die epochale Bedeutung des Mannes treten plastisch hervor, aber durchaus auch seine Grenzen (z. B. bei der künstlerischen Gestaltung der Weihnachtsfeier, 167). Sieht man von der Jugendzeit ab, so steht der Eindruck eines nüchternen, hart arbeitenden Menschen im Vordergrund, der eine schier unglaubliche Lebensleistung vollbracht hat. Bei der Darstellung des im engeren Sinn persönlichen Bereichs, so etwa der Schwierigkeiten, welche die Hinneigung von Schleiermachers Frau zu modischen parapsychologischen Praktiken für die Ehe mit sich brachte (374-376), hält sich N. taktvoll zurück - ein im Zeitalter der Talkshows besonders wohltuender Zug.

In der Interpretation von Schleiermachers Denken bezieht N. hinsichtlich der heutigen Schulrichtungen eine mittlere Position. So wird die Deutung der Reden über die Religion als Apologie des Christentums ausbalanciert durch die Bemerkung, Schleiermacher habe der Versuchung nicht ganz widerstehen können, das Christentum hinter sich zu lassen (101). Die Einseitigkeit moderner subjektivitätstheoretischer Interpretationen korrigiert N. durchgängig durch den Hinweis auf die konstitutive Bedeutung der sozialen Dimension (z. B. 277). Die patriotische Seite der Predigten und Publikationen während der Franzosenzeit (177-179.190.340-356) wird durch die Hervorhebung von Schleiermachers positiver Wertung der französischen Revolution und seiner Kritik an der preußischen Innenpolitik (351 f.358-365.379-390.512) kompensiert. So könnte man fortfahren.

Es ist hier nicht der Ort, darauf im Einzelnen einzugehen. Deutlich ist jedenfalls, dass dieses Verfahren nichts mit Unentschiedenheit in der Sache zu tun hat, sondern mit sorgfältiger und gut begründeter Abwägung der Gründe, die für die eine oder die andere Interpretationsrichtung sprechen.

Ein besonders herausragender Vorzug dieser Biographie ist noch nicht genannt: Das ist die Darstellung der Wirkungsgeschichte von Schleiermachers Denken im letzten Kapitel des Buches. Sie wird sonst fast immer ausgeklammert. Kein Wunder, denn allein über Schleiermachers Bedeutung für die Theologie könnte man eine umfangreiche Monographie schreiben. Dass N. es trotzdem gewagt hat, eine Skizze dieser Nachwirkungen zu entwerfen, ist ein großes Verdienst. Es wird noch dadurch vergrößert, dass nach einer Darstellung der Editionsgeschichte sämtliche Fächer von der Theologie beider Konfessionen über Philosophie und klassische Philologie, Pädagogik, Literaturwissenschaft, Staatstheorie bis zur Soziologie sämtliche in Frage kommenden Wissenschaften bedacht werden. Auch der institutionelle Aspekt ist - wie bereits in der Biographie selbst - gebührend berücksichtigt worden. Der einzige Schönheitsfehler ist in meinen Augen, dass von den verschiedenen Schleiermacher-Jubiläen, die eine gute Gelegenheit hätten bieten können, brennpunktartig die verschiedenen Stationen der Rezeptionsgeschichte zu beleuchten, nur das erste ausführlich gewürdigt worden ist (522-524); danach bricht das Buch etwas unvermittelt ab. Nur das Jubiläum von 1984 wird (an anderer Stelle, 480 f.) kurz behandelt.

Dankenswerterweise ist das Buch mit einem Literaturverzeichnis (in Auswahl) und einem ausführlichen Personenregister ausgestattet. Abbildungen gibt es (entgegen der Vorankündigung) leider keine - sie wären der Punkt auf dem i gewesen.

Insgesamt handelt es sich um eine vorzügliche Arbeit, die in der wahrlich nicht spärlichen Schleiermacher-Literatur der Gegenwart auf absehbare Zeit den Rang eines Standardwerks einnehmen dürfte.