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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

203–206

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hornig, Gottfried

Titel/Untertitel:

Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer 1996. 343 S. gr.8 = Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 2. Kart. ¬ 69,00 138,-. ISBN 3-484-81002-5.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Die Beschäftigung mit dem Hallenser Theologen Johann Salomo Semler (1725-1791) hat Konjunktur. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst des ehemaligen Bochumer Systematikers Gottfried Hornig, dessen wissenschaftliches Interesse untrennbar mit dem Namen Semlers verbunden ist. Bereits 1961 befasste sich H. in einer umfangreichen Monographie Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther eingehend mit Semler und dessen theologischem Grundanliegen. In der jetzt vorliegenden Sammlung von insgesamt 12 Semler-Studien hat der Autor seine Aufsätze und Untersuchungen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten (1975-1994) - zumeist in überarbeiteter und teilweise auch ergänzter Form - zusammengefasst. Über bereits publizierte Arbeiten hinaus enthält der Sammelband auch zwei Erstveröffentlichungen: Eine biographische Skizze über Johann Salomo Semler und das Kapitel Zur Begründung der Unterscheidung von Religion und Theologie. H.s anregende Interpretationen zeichnen sich durch eine profunde Sachkenntnis aus. Sie werden zweifelsohne der zukünftigen Semler-Forschung neue Perspektiven weisen.

Der instruktive Sammelband beginnt mit einer biographischen Skizze von Semler, in der über biographische Informationen hinaus auch werk- und zeitgeschichtliche Zusammenhänge thematisiert werden. Besonders erwähnenswert - und so in der einschlägigen Literatur bislang nicht eingehender untersucht - sind die Ausführungen über das Programm für eine Reform des Theologiestudiums, den Kommentar zur Cusanusschrift De pace fidei und die zeitgenössischen Pläne zur Vereinigung mit dem Katholizismus. Sicherlich zutreffend wird der tiefgreifende Einfluss von Siegmund Jacob Baumgarten, dem Hallenser Lehrer und späteren Freund von Semler, auf die intellektuelle Entwicklung seines Schülers von H. gewürdigt.

Die erste Studie Die Lehre von der Heilsordnung. Semlers Rezeption und Kritik des Halleschen Pietismus behandelt Semlers Lehre vom ordo salutis. Die Lehre von der Heilsordnung, die "aus der Spätorthodoxie in den Pietismus eingedrungen war", hatte "die Funktion, die einzelnen Stadien des Christwerdens vom Anfang der Berufung bis hin zur Vollendung, der Vereinigung mit Gott, genau darzustellen" (87). Semler, der seit 1756 auch die Dogmatik zu lesen hatte, hat "das vorherrschende Verständnis dieser Lehre und die ihr entsprechende Frömmigkeitspraxis" (89) - allerdings nicht kritiklos - rezipiert. Kenntnisreich schildert der Vf. dann die theologische Entwicklung Semlers, die dieser bei der inhaltlichen Bestimmung des ordo salutis durchgemacht hat. Zentrale Bedeutung für Semlers theologische Theoriebildung besaß unzweifelhaft das historische Denken. Daher kann es nicht überraschen, dass der Hallenser Theologe mit und neben anderen Theologen wie Johann Lorenz von Mosheim und Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem maßgeblich an der Konstitution der Dogmengeschichtsschreibung im Zeitalter der Aufklärung beteiligt war. In seinem lesenswerten Aufsatz Dogmengeschichtsschreibung und Traditionskritik. Zur Analyse der Argumente und Kriterien untersucht der Vf. die einschlägigen Reflexionen Semlers zur Dogmengeschichte, mit denen dieser bemüht war, die Dogmengeschichte "aus ihrer bisherigen Funktion als einer bloßen Hilfswissenschaft zur Legitimierung gegenwärtiger Dogmatik zu befreien" (124). Dass diese Aufwertung der Dogmengeschichte nur gelingen konnte, wenn sie als kritische Wissenschaft konstituiert würde, war für Semler unstrittig. Nicht bloße Autorität, sondern ein methodisches Verfahren und die Frage nach der Schriftgemäßheit entscheiden über den aktuellen Wert einer Lehre.

Von diesem Ansatz her ist die von Semler vorgenommene Unterscheidung von Kerygma und Dogma eine logische Folge. Dabei bezeichnet der Kerygmabegriff "den Umfang der in der christlichen Verkündigung enthaltenen neutestamentlichen Glaubenslehren, die zur Gewinnung und Bewahrung der christlichen Religion unerläßlich sind" (130). An diesem neutestamentlichen Kerygma muss sich nach Semler der christliche Glaube orientieren und nicht an den Dogmen. Diesen kommt allerdings eine zentrale Bedeutung für den Fortbestand der Institution Kirche zu. Mit den Grundzügen der Christologie und Soteriologie beschäftigt sich die nächste Studie. Zu Recht betont der Vf., dass bei "allen Modifikationen und Veränderungen, die in der Christologie und Soteriologie" Semlers "zu konstatieren sind", doch "mit der Zentralstellung der Versöhnungs- und Erlösungslehre das reformatorische Erbe stärker wirksam" blieb, als man "in der Theologiegeschichtsschreibung lange Zeit anzunehmen bereit war" (137). Bereits in der Frühphase seiner dogmatischen Theoriebildung vertrat Semler eine Logoschristologie, "die mit ihren Aussagen über die Präexistenz und seinshafte Gottheit Jesu Christi im johanneischen und paulinischen Schrifttum verankert" war (139). Ausgehend von dieser Logoschristologie betonte er dann, ganz im Sinne der lutherischen Tradition, den Gnadencharakter der Versöhnung und Erlösung. Mit einem weiteren wichtigen Aspekt von Semlers theologischer Theoriebildung beschäftigt sich der Aufsatz Zur Begründung der Unterscheidung von Religion und Theologie. Detailliert schildert der Vf. den Unterschied zwischen der professionalisiert-verwissenschaftlichten Theologie einerseits, die nur von einer bestimmten sozialen Gruppe, den Gelehrten, betrieben wird, und der Religion andererseits, die prinzipiell von allen Menschen praktiziert wird. "Die Betonung der Verschiedenheit von Religion und Theologie will beide in ihrer Eigenart zur Entfaltung kommen lassen. Sie will den Respekt vor der göttlichen Offenbarung und den neutestamentlichen Grundwahrheiten erhalten, zugleich aber der akademischen, methodisch verfahrenden und wissenschaftlich argumentierenden Theologie eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit sichern" (160). Auch die Differenzierungen des Semlerschen Religionsbegriffes werden kenntnisreich dargestellt. Die folgende Studie Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie vertieft und systematisiert Semlers Differenzierung des Religionsbegriffes in die privat und in die öffentlich gelebte Religion und deren Konsequenzen. Für seine Vorstellung einer in unterschiedlichen Formen auftretenden Privatreligion hat sich Semler sowohl auf das Neue Testament als auch auf Luther und die Reformation berufen.

Zu den interessantesten Studien gehört ganz unzweifelhaft die zum Perfektibilitätsgedanken. "Die Eigenart dieses Perfektibilitätsgedankens besteht darin, daß sich in ihm biblisch-reformatorische Vorstellungen von einem individuellen Wachstum in der Glaubenserkenntnis mit einer Geschichtstheologie verbinden, die von der Überzeugung bestimmt ist, daß der zukünftige Geschichtsprozeß zu einer Fortbildung und immer reineren Ausprägung zentraler christlicher Lehren und Erkenntnisse führen wird" (195). Dieser Gedanke ist seit 1770 in der deutschen Aufklärungstheologie nachweisbar. Zu den Theologen, die maßgeblich zur Breitenwirkung dieses Gedankens beigetragen haben, zählte auch Semler. Der Perfektibilitätsgedanke hat, wie der Vf. betont, zwei Aspekte, einen anthropologischen, weil "in jedem Christen mit der Möglichkeit eines Wachstums in der Glaubenserkenntnis und vertieften Glaubensaneignung gerechnet wird" (196), und einen geschichtstheologischen, weil Semler über diese anthropologische Vervollkommnung hinaus mit einer Verbesserung des Christentums rechnet. Ziel der allmählichen Vervollkommnung des Christentums ist nicht eine "zunehmende Bestätigung einer der Konfessionskirchen" oder eine fortschreitende "Fixierung oder gar Dogmatisierung der kirchlichen Lehre", sondern eher der "Prozeß einer Auflösung der gegenwärtig noch bestehenden konfessionellen Lehrgegensätze" (203). Nach Semler wird sich die christliche Religion zu einem überkonfessionellen Christentum und "zu einer alle Menschen umfassenden universalen Menschheitsreligion" entwickeln.

Der Aufsatz Orthodoxie und Textkritik. Die Kontroverse zwischen Johann Melchior Goeze und Johann Salomo Semler behandelt die Kontroverse, die ab 1765 zwischen Semler und dem Hamburger Hauptpastor Goeze um den "Quellenwert des griechischen Neuen Testaments der Complutensischen Bibelausgabe, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf Veranlassung des Kardinals Ximénes von spanischen Gelehrten der Universität Alcala erstellt und 1520 herausgegeben worden war" (210), entstanden war. Oberflächlich gesehen ging die Kontroverse, in der in etwa sieben Jahren neun teilweise recht umfangreiche Streitschriften gewechselt wurden, um philologische und historische Streitpunkte. Im Hintergrund standen allerdings unterschiedliche theologische Theorieansätze. Auf der einen Seite stand der orthodoxe Theologe Goeze, der "an der Aufrechterhaltung einer uneingeschränkten Schriftautorität und der Geltung eines dogmatischen Schriftgebrauchs" (212) interessiert war, auf der anderen Seite argumentierte Semler aus der Position eines Wissenschaftlers, der sich der historisch-kritischen Schriftauslegung verpflichtet fühlte. In dieser Kontroverse deutet sich ein Paradigmawechsel in der protestantischen deutschen Theologie an.

Die nächste Studie Hermeneutik und Bibelkritik vertieft und systematisiert die zuletzt angeschnittenen Fragen. Der Vf. beginnt mit einer Darstellung der Wurzeln und Faktoren der Bibelkritik. Zu Recht macht er auf die Bedeutung der Geschichtswissenschaft und der Naturwissenschaft für die Entstehung der Bibelkritik aufmerksam. Anschaulich beschreibt der Vf. dann ausgehend von Semlers Unterscheidung von Wort Gottes und Heiliger Schrift die methodisierte Schriftauslegung des Hallenser Theologen, wobei naheliegenderweise Semlers vierbändige Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771-1775) im Mittelpunkt der Untersuchung steht.

Zusammenfassend urteilt H. über Semlers Bibelkritik: Sie war eine "durch die historische Forschung bedingte, an Einzelproblemen ansetzende wissenschaftlich argumentierende Kritik, für welche die Beibehaltung einer an der neutestamentlichen Christusbotschaft orientierten Bibelautorität ständige Voraussetzung gewesen ist" (245). Nach Semler gehört die Beschäftigung mit der theologischen Hermeneutik zu den bedeutendsten Aufgabenbereichen eines Theologen. Dieser Bedeutung entspricht Semlers lebenslange Beschäftigung mit diesem Teilbereich der Theologie.

Die Entwicklung seiner Fragestellungen und die Verfeinerung bzw. Systematisierung des methodischen Zugriffs auf die Quellen zeichnet der Vf. in der Studie Grundzüge der theologischen Hermeneutik in lesenswerter Weise nach. In dem Aufsatz Wahrheit und Historisierung in Semlers kritischer Theologie untersucht der Vf. den Wahrheitsbegriff und die Historisierung des theologischen Theorieansatzes von Semler. Gerade bei der Historisierung des theologischen Denkens hätte sich der Rez. einen Vergleich mit der Theologie Johann Lorenz von Mosheims gewünscht, denn hier sind starke Berührungspunkte, die in wissenschaftsgeschichtlicher Sicht von großer Bedeutung sind. Die letzte Studie Die Stellung zu Glaubensfreiheit und Toleranz beschäftigt sich mit Semlers Toleranzverständnis.

Der Band schließt mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis, der Bibliographie Johann Salomo Semlers und einem Personenregister.