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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

200–202

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Roth, Cornelius

Titel/Untertitel:

Discretio spirituum. Kriterien geistlicher Unterscheidung bei Johannes Gerson.

Verlag:

Würzburg: Echter 2000. X, 403 S. gr.8 = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 33. Kart. ¬ 29,80. ISBN 3-429-02287-8.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2000 an der (röm.-kath.) Fakultät Würzburg als Dissertation angenommen und zur Veröffentlichung leicht überarbeitet. Um es gleich vorweg zu sagen, die Arbeit hätte eine gründlichere Überarbeitung zu Gunsten einer besseren Systematisierung und Kürzung gut vertragen. Sie ist von einer konservativen Grundhaltung geprägt.

Nach einer breiten Einführung, in der der Vf. auf den Stand der Gerson-Forschung eingeht und die Entwicklung der Lehre von der Unterscheidung der Geister (= U. d. G.) bis zu Gerson (= JG) darstellt (1-60), behandelt er in Teil I (61-124) den biographischen und theologischen Hintergrund der Unterscheidungslehre von JG, in Teil II diese selbst (125-333); darauf folgen Ergebnis und Ausblick (334-378), Abkürzungs-, Literatur- und Personenverzeichnis.

"Die Begriffe discretio und discretio spirituum haben ... ihren Ort einerseits in der hierarchischen Sicht der Kirche und andererseits in der viator-Frömmigkeit" (120). Dieser Satz sagt aus, worin der Vf. das Kennzeichnende der Lehre von der U. d. G. bei Gerson sieht. JG ist als "Lehrer der U. d. G. vor allem durch seine Konzilsschrift De probatione spirituum bekannt geworden" und war schon im 15. Jh. in Deutschland und in den Niederlanden verbreitet (169). Er formuliert seine Lehre von der U. d. G. im Anschluss an die Tradition der Wüstenväter und will sie den einfachen Menschen nahebringen (216). Der Vf. nennt häufig die Vita Antonii, geht aber erst ab 243 auf sie ein. JG, der den Ehrentitel doctor consolatorius trägt, sah in der Tröstung der Gewissen seine Hauptaufgabe (238).

Visionen und Privatoffenbarungen erreichten zur Zeit von JG ein bis dahin ungekanntes Ausmaß, vor allem in der Frauenmystik. Er sah den Christen als einen Pilger zu Gott (viator), sah aber dabei die Gefahren, die das Übermaß an visionären Berichten mit sich brachte. Hier hielt er eine klare Lehre der U. d. G. für nötig. Eine solche gab es schon vor ihm: Heinrich von Friemar hatte mit seinem Traktat De quattuor instinctibus ein vielgelesenes Werk darüber verfasst. Daran konnte er anknüpfen. JG "entwickelte seine Lehre von der U. d. G. aus der Tradition, vor allem der biblischen und patristischen, aber auch der mittelalterlichen" (30). Mit der Tradition sieht er in der discretio spirituum die Mutter der Tugenden; sie ist eingeordnet in seine "Frömmigkeitstheologie". JG ist davon überzeugt, dass man diese, die theologia mystica, nicht erlernen kann, sondern von der Erfahrung ergriffen sein müsse. Ob JG selbst eine solche Erfahrung zuteil wurde, ist umstritten. Für ihn ist sie jedenfalls eine gratia gratis data, sie gehört zu den Gnadengaben gemäß 1Kor 12. Der viator, der um die ewige Verdammnis weiß, soll sich nicht in Verzweiflung stürzen lassen, sondern ganz auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen; die unio cum Deo ist für ihn keine Sache der Vernunfterkenntnis, sondern eine des liebenden Verkostens (105). Jetzt (erst) stellt der Vf. die Ekklesiologie von JG "zwischen Konservativismus und Reform" dar (106 ff.) und baut seine Lehre von der U. d. G. ganz in diese ein. Wohl vertritt JG eine konziliaristische Position, der Vf. sieht sie aber ganz zeitbedingt. "Das Konzil hat ... zwar nicht die höchste Gewalt in der Kirche, doch ist seine Macht letztlich umfassender ... als die des Papstes" (114). Es bestehe die Pflicht zur Anrufung des Konzils, wenn der Papst vom Evangelium abweicht. Und das Konzil hat dann das Recht, auch ohne päpstliche Bestätigung eine Konzilsversammlung einzuberufen. Nun, genau darum ging es später in der causa Lutheri! Aber JG stelle, so der Vf., die communitas stets über die libertas.

Die wahre discretio spirituum ist für JG das Gesetz des Herrn. Er kann aber ebenso die lex naturalis als Maßstab für die discretio anführen. Wichtig ist für ihn, dass der Hl. Geist als semen vivificum et reformativum nur innerhalb der kirchlichen Hierarchie wirkt (133). Er warnt davor, dem Rat einer Vision oder Privatoffenbarung zu folgen, die dem Leben Christi, der Heiligen und der Hl. Schrift widerspricht. Die sieben Hauptsünden (Hochmut, Neid, Zorn, acedia, Habsucht, Völlerei, Unzucht) stehen den fünf Haupttugenden ("Eigenschaften der geistlichen Münze") gegenüber (Demut, discretio, Geduld, Wahrheit, Liebe). Im Vollzug der Unterscheidung soll gefragt werden: "Tu quis, quid, quare, cui, qualiter, unde require" (169). Vor allem Frauen gegenüber war JG skeptisch und davon überzeugt: Je mehr Bibelstudium, umso weniger Visionen. Wichtig ist ihm die U. d. G. angesichts abergläubisch-religiöser Praktiken wie Magie und Zauberkunst, Astrologie, Aberglaube (der für ihn pathologischer Natur ist). Dieser würde im Volk "Hexerei" genannt. Darauf hätte der Vf. mehr eingehen können, auch wenn die Hexen vor allem später verfolgt wurden. Es zeigt sich, worauf der Vf. nicht eingeht, dass offensichtlich zwischen übertriebenem Heiligenkult und sog. Hexerei ein Zusammenhang besteht.

An vier konkreten Beispielen verfolgt der Vf. dann, wie JG die Geister bei Visonär(inn)en unterscheidet. Kritisch steht er den Visionen von Birgitta von Schweden und Jan Ruusbroec gegenüber, während er die von Herminia von Reims und Jeanne d'Arc positiv beurteilt, doch muss man bei allen differenzieren. Bei Birgitta kritisiert er das Herbeiwünschen von Offenbarungen, bei Jan warnt er davor, dass die menschliche Seele ihr Sein verlieren und ganz in Gott aufgehen soll. Bei Herminia sei das Nebeneinander von teuflischen Eingebungen und himmlischen Erscheinungen positiv zu bewerten, doch kritisierte er später auch Herminia. Bei Jeanne kommt wohl das Nationalgefühl von JG zum Durchbruch. Bei ihr rühmt er die Nüchternheit besonders im Umgang mit geistlichen Erfahrungen. Sie spräche nicht von Erscheinungen, die ihr geistlichen Genuss bringen, sondern die für sie Legitimation darstellen.

Bei der U. d. G. ist ein weiterer Anwendungsbereich die jeweils eigene Person. Ihm geht es dabei um den einfachen Menschen. 57 Versuchungen werden dabei unter die Lupe genommen. Resultat ist, der Mensch ist schwach und auf die Hilfe Gottes angewiesen. Das ist sicher nicht neu. Geistliche Tröstungen sind ein typisches Feld geistlicher Unterscheidungen (241). Die U. d. G. steht dabei ganz im Kontext seiner viator-Theologie, sie gilt auch für Papst und König, auch sie bedürfen der correctio fraterna (285.295). Letztlich will seine Lehre von der U. d. G. eine Anweisung für die Seelsorge der Geistlichen im Hirtenamt sein (301).

Im Schlusskapitel vergleicht der Vf. JG mit Ignatius von Loyola. Er sieht zu ihm viele Analogien, aber auch Unterschiede und findet in den ignatianischen Exerzitien einen Widerhall der Grundzüge der Predigten von JG (352).

Sicher gewinnt der Leser in der vorliegenden Monographie eine gute Darstellung der Lehre von der U. d. G. bei JG, ja eine Einführung in sein Leben, Werk und Denken. Insofern ist das Buch zu empfehlen. Andererseits leidet es darunter, dass es ziemlich langatmig, voller Wiederholungen und von geringer Systematisierung ist. Wiederholt nennt der Vf. auch Verbindungen zu Luther, mehr nicht (das war auch nicht sein Thema). Dabei urteilt er immer korrekt.

Übrigens: Die Monographie von Hermann Schüssler: Der Primat der Heiligen Schrift als theologisches und kanonistisches Problem im Spätmittelalter ist nicht 1997, sondern schon 1977 erschienen (zu 129.395).