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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

198–200

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kremer, Klaus, u. Klaus Reinhardt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sein und Sollen. Die Ethik des Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 15. bis 17. Oktober 1998.

Verlag:

Trier: Paulinus 2000. XVIII, 307 S. gr.8 = Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft, 26. Kart. ISBN 3-7902-1367-5.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die Cusanus-Gesellschaft und ihr Wissenschaftlicher Beirat hatte im Oktober 1998 wieder zu einem Symposion eingeladen, das diesmal der Ethik von Nikolaus von Kues (= NvK) gewidmet war. Von ihm liegt keine eigentlich ethische Schrift vor. So war die Ethik aus seinen vielen Schriften und vor allem auch aus seinen Predigten herauszuarbeiten. Das ist, so wird man sagen können, vorbildlich gelungen. Es zeigt sich insgesamt: "Eine Ethik der sittlichen Prinzipien mit dem Wort von ,Christus als Tugend der Tugenden' zeigt ..., wie sehr philosophisches und theologisches Denken bei Cusanus ineinander verflochten sind" (VIII, vgl. 187 ff.).

Folgende Referate wurden auf dem Symposion gehalten: Die Tugenden in der Sicht des NvK. Ihre Vielfalt, ihr Verhältnis untereinander und ihr Sein. Erbe und Neuansatz (9-37, Jasper Hopkins), Gerechtigkeit und Gleichheit und ihre Bedeutung für die Tugendlehre des NvK (39-63, Hans Gerhard Senger), Liebe als Grundbestandteil alles Seins und "Form oder Leben aller Tugenden" (65-99, Wilhelm Duprè), Das kognitive und affektive Apriori bei der Erfassung des Sittlichen (101-144, Klaus Kremer), Die Willensfreiheit des Menschen im Kontext sittlichen Handelns (145-185, Norbert Herold), Christus - "Tugend der Tugenden" (187-207, Albert Dahm), Ziel des sittlichen Handelns und einer philosophisch-theologischen Ethik bei NvK (209-259, Hubert Benz); hinzugefügt wurde: Die Koinzidenz von Nähe und Ferne bei NvK (261-279) Gerhard Faden). Register schließen sich an.

Die Beiträge zeigen übereinstimmend, dass es sich "bei der cusanischen Ethik um eine theologisch gegründete und ausgerichtete Moralphilosophie handelt" (221), ja: "Alles, was wir sind, haben wir von Gott, dem principium hominis; den Weg zu unserem Ziel weist uns der Mittler Jesus Christus, das medium hominis; und alles, was wir sollen, finden wir in Gott, dem ultimus finis hominis" (252). Doch gibt es auch wichtige Unterschiede in der Darstellung der cusanischen Ethik. Hopkins hebt hervor, dass NvK zwar "die Verflechtung der Tugenden lehrt, nicht aber ihre Einheitlichkeit" (20) und dass "eine theologische Tugend eine Gabe Gottes ist und keine menschliche Errungenschaft" (23). Sie ist "schön, weil sie den, der in ihrem Besitz ist, mit Gott übereinstimmen" lässt (33). Senger betont, dass Gerechtigkeit und Gleichheit als Voraussetzungen der cusanischen Tugendlehre gelten müssen (39). Hier wäre deutlicher hervorzuheben, dass bei NvK die Gleichheit (aequalitas) ein Begriff ist, der vor allem für Christus als zweite Person der Trinität gebraucht wird, und dass von daher die Tugend zu bestimmen ist (vgl. aber 41), und wir von ihm aus an der göttlichen Gleichheit teilhaben. Alles Wahre, Gerechte, Gute und Vollkommene partizipiert an der Gleichheit (47 f.). Nach Duprè ist die "Liebe als Gott und Gott als Liebe anzusprechen," während "auf der anderen Seite die dilectio proximi" sich mit der dilectio als Wertschätzung, Achtung und Liebe verbindet (77, vgl. 84). Er verweist auf eine Predigt, in der NvK sagt: "Nur der Geist, der von der Sonne der Gerechtigkeit ausgeht, kann das göttliche Leben bewirken, das Sohnschaft Gottes bedeutet" (81). Im Hinblick darauf, wie NvK nach dem richtigen Gottesnamen (u. a. posse) sucht, ist zu verstehen: "Da der Mensch in seinem Gewordensein das ist, was er werden kann, ist er nicht nur das ,Maß der Dinge', sondern auch ein Können, das sich in Tun und Wollen zu sich selbst und der ihm eigenen Wahrheit verhält". So zeigt sich bei NvK, dass seine Ethik eine solche des Strebens und bedürftigen Verlangens ist, in der sich das Sollen aus dem Sein ergibt (87 f.).

Kremer untersucht minuziös das philosophische Apriori der cusanischen Ethik, kommt aber dabei zu dem Ergebnis, dass nach Thomas von Aquin die lex naturalis eine Teilhabe an der lex aeterna ist, bei NvK aber eine imago verbi dei (125, 142). Herold hebt hervor, wie NvK an der Willensfreiheit des Menschen festhält, die aber von Gott stammt, der selbst Freiheit ist; er bindet die Gotteserkenntnis an die Selbstannahme des Menschen (145, 158). Sünde ist dann, wenn wir uns aus freiem Willen von Gott entfernen; peccare est venire contra rationem. Die Rückkehr des Sünders zu Gott erfolgt zwar aus Gnade, ist aber an seine Zustimmung gebunden (169 ff.). Ganz aus den Predigten des NvK stellt Dahm Christus als die "Tugend der Tugenden" dar und damit die Ethik geradezu christozentrisch. Christus ist das Wort, das in unserem Gewissen spricht (189), er ist die Tugend Gottes, unsere Tugend kann nur in Teilhabe an ihm bestehen. Dabei bleibt NvK seinem Grundthema von complicatio und explicatio treu: "Christus vereinigt als maximale Verwirklichung alle Tugenden auf komplikative Weise in sich"; der Christ kann nur in seiner Nachfolge tugendhaft leben. Dass wir das können, ist Gottes Gnade. Die Tugend macht uns christiformis und so würdig des ewigen Lebens (193 ff.). Hier bestehen, wie Weier in der Diskussion betont, Ansätze zu der Rechtfertigungslehre, die NvK in unerwartete Nähe zur reformatorischen Rechtfertigungslehre führt (205).

Benz ergänzt die Darstellung von Dahm von der philosophischen Seite, wobei er sehr stark von (Aristoteles und) Plato ausgeht, vor allem hinsichtlich der Dominanz des intellectus (236). Auch Benz unterstreicht, dass sich bei NvK das Sollen aus dem Sein ergibt: "Das innere, naturhafte Sein sagt ihm [dem Menschen - K.]: Werde immer mehr zu dem, wozu du geschaffen bist, vollziehe und vollende deine Wesensnatur!" (226). Er spricht von "einer naturhaften Einbettung des abbildlich-lebendigen Geistes in und seiner Hinordnung auf Gott als umfassendes Urbild und Ruheziel" (228). Die Aufgabe des Intellekts besteht darin, magister veritatis, ars ispa veritatis zu sein (242). "Sein Streben nach vollkommenem Leben kommt nur darin zur Ruhe, daß er alles Erkennbare und Gute ... erreicht" (247).

In dem angefügten Beitrag schreibt Faden, NvK habe in Anlehnung an Meister Eckhart (dieser sprach davon, "Gott ist durch seine Nähe fern") betont, das Nicht-Andere sei, weil es keinem Anderen gegenüber steht, allem gegenüber ein Anderes, "im Nicht-Anderen koinzidieren also geringste und größte Distanz" (269).

Resümierend kann man sagen, dass das Thema Ethik bei NvK umfassend, von verschiedenen Sichtweisen aus, auf dem Kolloquium behandelt worden ist. Dabei sind auch die Predigten reichlich ausgewertet worden. Kritisch ist zu vermerken, dass die Ethik des NvK, vor allem hinsichtlich ihrer theologischen Bedeutsamkeit, zu wenig in seine Zeit eingebettet worden ist: Inwieweit stimmt sie mit ethischen Aussagen anderer Theologen seiner Zeit überein und inwieweit nicht. Wohl ist häufig auf Meister Eckhart Bezug genommen worden, aber kaum etwa auf seinen jüngeren Zeitgenossen Gabriel Biel. Da die Ethik von NvK nur auf dem Hintergrund des Verhältnisses von Sein und Sollen abgehandelt wird (zu Recht!), aber das Verhältnis von Gesetz und Evangelium bzw. der usus elenchticus legis überhaupt keine Rolle spielt, ja im Sachregister das Stichwort Evangelium überhaupt nicht nachgewiesen wird, wird deutlich, welchen ethischen Neuansatz die Reformation dann mit sich brachte. Das ist aber die Feststellung eines reformatorischen Theologen.