Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

953–955

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bailey, Edward I.

Titel/Untertitel:

Implicit Religion in Contemporary Society.

Verlag:

Kampen: Kok;Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1997. IX, 302 S. gr.8 = Theologie & Empirie. Kart. hfl 69.-. ISBN 90-390-0581-8 u. 3-89271-694-3

Rezensent:

Erich Nestler

Das zentrale Anliegen des Buches ist es, den grundlagentheoretischen Begriff der "impliziten Religion", wie ihn Bailey 1969 und 1976 in Weiterentwicklung des ursprünglichen Konzeptes einer "säkularen Religion" entwickelt hat, als empirisch gehaltvoll und fruchtbar zu erweisen.

B. erstellt im ersten - sehr kenntnisreich geschriebenen - Kapitel den allgemeinen konzeptuellen Rahmen. Er beginnt mit einer Diskussion des Religionsbegriffs, beschreibt die in unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen (Kulturanthropologie, Religionssoziologie, Religionspsychologie etc.) verwendeten Konzepte und setzt sich schließlich mit - zu seinem Religionsbegriff - alternativen Auffassungen auseinander (Zivilreligion, unsichtbare Religion). Das zweite Kapitel widmet sich der Frage, wie denn so etwas wie "implizite Religion" untersucht werden könne.

Das Herzstück von B.s Buch enthält drei qualitativ-empirische Studien zum Thema. Erstens die implizite Religion von Individuen (100 Leitfadeninterviews mit Einzelpersonen, Dyaden und Gruppen, davon dreißig ausgewertet; Kap. 3, 59), zweitens teilnehmende Beobachtungen in einem englischen Pub (Kap. 4) - beide zeitgleich über 7 Monate in den Jahren 1969/70 - und schließlich drittens, synchron beginnend, über einen 26jährigen Zeitraum die "beobachtende Teilnahme" (sic.: "observant participation", 194) einer anglikanischen Kirchengemeinde als deren Pfarrer (Kap. 5). Eine vergleichende Analyse beschließt als zusammenfassende Synthese der Einzelergebnisse den Band (Kap. 6).

B. will den Begriff der "impliziten Religion" empirisch-deskriptiv, also nicht wertend, und inklusiv statt exklusiv verstanden wissen. "Implizite Religion" umfasse beides, säkulare und explizit-religiöse Phänomene (8). Wenn man frage, wie man denn auf "implizite Religion" stoße, so lautet B.s Antwort: durch die Entdeckung "integrierender Fokussierungen" oder "Hingaben" (commitments). Gemeint sind damit Grundhaltungen in den Einstellungen und Verhaltensweisen von Individuen und Gruppen bzw. einer gesamten Kultur. So zeigten sich in den Interviews die "Sakralität des Selbst", im Pub das "Recht jeden Individuums darauf, es selbst zu sein" und in der anglikanischen Kirchengemeinde der "Glaube an das Christentum" (zusammenfaßbar in dem Bekenntnis: "I believe in Christianity; I insist on the right of everyone to make up their own mind; and I affirm the value of values", 261) als integrierende Fokussierungen. In komparativer Analyse ergibt sich als Gesamtergebnis aller drei Studien, daß sich "implizite Religion" als ein System der "Sakralität des Selbst" auf der Ebene des Individuums, als die "Sakralität der Selbste" auf der kollektiven Ebene und die "Sakralität der Beziehungen" als "unendliche Extrapolation" der ersten beiden Ebenen auffassen lasse. Auf dem höchsten Generalisierungsniveau erscheine "implizite Religion" in der gegenwärtigen Gesellschaft als "Hingabe an das Humanum" bzw. "an den Menschen" (273., vgl. 274 unten).

Die Konstruktion des zentralen Konzepts wirkt überzeugend, auch seine empirische Erprobung. Die Darstellung in Form eines "Essay" (264) erzeugt jedoch streckenweise den ambivalenten Eindruck des "Armchair-Philosophierens". Dabei stört der nicht explizierte Wechsel von methodisch-kontrolliert gewonnenen empirischen Erkenntnissen auf dem, was Bronfenbrenner die Mikroebene nennt, zu Spekulationen auf der Makroebene ("Kultur"). Diese beiden soziokulturellen Ebenen werden methodisch und - die darauf bezogenen Reflexionen in ihrem theoretischen Status - nicht ausreichend unterschieden.

Der Bezug auf die neuere Diskussion und Weiterentwicklung qualitativer Forschungsmethoden fehlt vollständig. Dies ist bedauerlich, weil der Autor genauso vorgeht, wie es etwa Glaser und Strauss mit ihrem Ansatz der Grounded Theory der Datengewinnung und -interpretation schon 1967 vorgeschlagen haben: B. entwickelt die gegenstandsbezogenen Kategorien "entdeckend" aus dem Material selbst heraus und stülpt sie diesem nicht über. Das ist spannend, weil es um die Demonstration der Fruchtbarkeit seines metatheoretischen Konzeptes der "impliziten Religion" an konkreten empirischen Gegenständen geht. Diese hypothetische Annahme zu Beginn des Untersuchungsganges kann der Autor m. E. überzeugend nachweisen.

Obwohl das Buch aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive geschrieben ist, scheint mir besonders aufgrund der dritten Studie über die anglikanische Parochie fruchtbares Material auch für die praktisch-theologische Reflexion enthalten zu sein. Vieles das der Autor beim Studium der britischen Religionskultur entdeckt, dürfte auch auf die deutsche Situation in den alten Bundesländern zutreffen.