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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

193–196

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Aertsen, Jan A., Emery Jr., Kent, u. Andreas Speer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nach der Verurteilung von 1277. Philosophie und Theologie an der Universität von Paris im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. Studien und Texte. After the Condemnation of 1277. Philosophy and Theology at the University of Paris in the Last Quarter of the Thirteenth Century. Studies and Texts. Für den Druck besorgt von A. Speer.

Verlag:

Berlin-New York 2001. X, 1033 S. gr.8 = Miscellanea Mediaevalia, 28. Lw. ¬ 248,00. ISBN 3-11-016933-9.

Rezensent:

Peter Schulthess

Am 7. März 1277 verurteilte Bischof Stefan Tempier in Paris 219 Artikel. Die Interpretation dieses Aktes und der Artikel gehört zu den zentralen philosophiegeschichtlichen Topoi. Das zeigt einerseits die Dichte der Ausgaben, die an einen philosophischen Klassiker gemahnt. Neben der klassischen Ausgabe im Chartularium universitatis Parisiensis 1889 (I,543-558) ist in jüngster Zeit auf drei wichtige Ausgaben hinzuweisen: 1977 durch Roland Hissette, 1989 durch Kurt Flasch und 1999 durch David Piché. Die Bedeutung zeigt andererseits auch der Band 26 der Miscellanea Medievalia über das allgemeine Thema "Was ist Philosophie im Mittelalter?" (Berlin/New York 1998), der, obwohl gegenwärtig eher die Tendenz besteht, dem Ereignis etwas von der grossen Signifikanz zu nehmen, sich in einem sehr hohen Ausmaß mit der Verurteilung von 1277 befasst.

Standardthemen der Diskussion sind: die Anordnung der Sätze, auf wen sie zurückgehen und welches ihre philosophische Relevanz ist - auch im Zusammenhang mit der Deutung des Prologes, in dem Bischof Stefan Tempier seine Intention erläutert. In Bezug auf Ersteres haben einige die originale Anordnung im Chartularium als chaotisch und irrational bezeichnet, neuerdings übernimmt man sie aber wieder. In Bezug auf die verurteilte Zielgruppe wurde von den einen ein Phantom konstruiert: der sog. Averroismus. Andere waren der Auffassung, die Verurteilung ziele direkt auf bestimmte Mitglieder der Artistenfakultät in Paris, welche Aristoteles im Blick auf die christliche Doktrin auf eine radikale Weise interpretierten; und als indirekte Zielgruppe fügte man Mitglieder der theologischen Fakultät hinzu (z. B. Thomas oder Aegidius, der die theologische Fakultät in den Jahren1278-1285 verlassen musste; vgl. R. Hissettes Beitrag). Wieder andere sind der Meinung, die verurteilten Thesen seien zum Teil einfach eine Erfindung oder versuchen, die verurteilte intellektuelle Bewegung in Paris durch ihre Folgebewegung zu identifizieren, z. B. die männlichen und weiblichen Vertreter der sog. mystique rhénane in der deutschen Provinz des Dominikanerordens. Ebenso breit ist das Spektrum der Interpretationen der philosophischen Bedeutung des Verurteilungsaktes: Ist es le plus grand événement intellectuel du 13ème siècle (de Libera) oder eher eine interne Angelegenheit, z. B. ein Streit zwischen zwei Fakultäten oder den darin vertretenen Nationen oder zwischen dem päpstlichen Legaten und der Universität (vgl. den Beitrag von G.-R. Tewes)? Viele gegenwärtige Interpretationen deuten die Verurteilungen mit späteren Kategorien, z. B. als Konflikt zwischen freier autonomer Aufklärungsphilosophie und autoritärer dogmatischer Religion, sodass die Verurteilung als ein autoritärer Eingriff in die wissenschaftliche Forschung erscheint. Einige deuten sie als "Geburt der modernen Wissenschaft" (Duhem) - was dann Konsequenzen für die Epochenabgrenzung Mittelalter/Neuzeit hätte; andere als eine erkenntnistheoretische Lehre von der doppelten Wahrheit, wieder andere als ethischen Intellektualismus oder schließlich als intellektuelle Krise, in der wissenschaftliche und epistemische Haltungen der aristotelischen Philosophie bzw. des ethischen Averroismus mit der augustinischen Idee der sapientia christiana (die A. Speer in seinem Beitrag austariert) kollidieren.

Wie kann man die Bedeutsamkeit und auch die zentrale Tendenz von 1277 unabhängiger von den Neigungen und Interessen der gegenwärtigen Historiographen und der für eine Philosophie der Philosophiegeschichte äußerst aufschlussreichen mannigfachen Projektionen, unter denen das Ereignis gesehen wird, messen? Indem man sich z. B., wie das der vorliegende Band tut, der Frage annimmt, ob nicht die Historiker des 20. Jh.s die Verurteilungen von 1277 als wichtiger beurteilt haben als die damals betroffenen magistri an der theologischen und Artistenfakultät in Paris selber. Man hat bisher zudem vorab über die Zielgruppe der Verurteilten gerätselt und zu wenig auf die Veränderungen post festum in der nachfolgenden intellektuellen Landschaft geschaut. Die Erforschung der Philosophie des letzten Viertels des Jahrhunderts an der Universität von Paris lag zu Unrecht im Schatten der Untersuchungen zu 1277. Diese Lücke sollte ein dreijähriges Forschungsprojekt des Medieval Institute der University of Notre Dame und des Thomas-Instituts der Universität Köln unter der Leitung der Herausgeber schließen. Die in diesem Rahmen frei entstandenen und keine unité de doctrine bildenden 35 Beiträge werden, nach einer Übersicht durch A. Speer und K. Emery jr. über neue Ansätze, unter sechs übergreifenden Themenstellungen eingereiht: Intellekt und Erkenntnis, Theologie und Philosophie, Metaphysik in der theologischen Fakultät und bei den Artisten, Naturphilosophie in der Artesfakultät und im theologischen Kontext, Ethik und Moraltheologie, die Verurteilung von 1277 und ihre Nachwirkungen.

Das in diesem Band versuchte Unterfangen einer historisch adäquaten Beurteilung von 1277 im Lichte der intellektuellen Aktivität an der Universität Paris im letzten Viertel des Jahrhunderts - z. B. durch Eruierung dessen, was man wirklich an diesen Fakultäten gelehrt hat - ist auch insofern an der Zeit, als neuerdings viele interessante einschlägige Texte der vier großen Gestalten des letzten Viertels des Jahrhunderts: Heinrich von Gent, Gottfried von Fontaine, Aegidius Romanus und Dietrich von Freiberg ediert worden sind, die alle auch mit den Verurteilungen zu tun hatten. Zu nennen wäre neben den Werkausgaben von Heinrich von Gent und Dietrich von Freiberg insbesondere die von Wielockx edierte Verteidigungsschrift (apologia) des Aegidius Romanus, der im März 1277 vor Tempier zitiert wurde.

Editionen von Texten aus der verhandelten Periode vermehrt verdankenswerterweise auch der vorliegende Band, dessen Untertitel lautet: "Texte und Studien". W. Goris und M. Pickavé edieren eine quaestio zur Erkenntnis der Engel aus einem anonymen dominikanischen Sentenzenkommentar der 90er Jahre des 13. Jh.s (Ms. in Brügge), von dem Koch meinte, es handle sich um ein Reportatum der Sentenzen des Meister Eckhart - eine Zuschreibung, die die Autoren als "problematisch" einschätzen (159). Auszüge aus dem Kommentar von Guillelmus Petri de Godino (ca. 1260-1336), die sog. lectura thomasina, die damit mittelbar zusammenhängt, werden ebenfalls gedruckt. St. Brown ediert Prosper von Reggio in Emilia's Aufzeichnung einer Debatte um den intellectus agens und das Studium der Theologie in Paris 1311-1314, insbesondere im Buch I des Sentenzenkommentars (6-10). Einige Quaestiones aus dem Metaphysik-Kommentar, den er in "all likelihood" (456) Radulphus Brito zuschreibt, publiziert St. Ebbesen. Griet Galle ediert zwei Quaestiones von Petrus de Alvernia über De caelo und Richard Newhauser einige Auszüge aus dem Tractatus moralis de oculo des Pariser Perspektivisten Peter von Limoges. Sehr viel bisher unediertes Material aus mittelalterlichen Physikkommentaren bietet der Beitrag von Silvia Donati zur Frage, ob Akzidenzen ohne Substanz sein können, was das Dogma über die Transsubstantiation erforderte, Aristoteles aber verneinte. Die Frage, ob der Syllabus von 1277 indirekt nicht nur Thomas, sondern auch Albertus anvisiert, untersucht R. Hissette anhand von Kommentaren zu den Verurteilungen von 1277 (desjenigen des Konrad von Megenburg und desjenigen eines unbekannten Autors des 15. Jh.s (quod deus), den Lafleur und Piché in ihrem Beitrag edieren).

Aus der Fülle der übrigen Beiträge, die aus Platzgründen nicht alle erwähnt werden können, seien noch folgende erwähnt. Im Rahmen seines Berichts über Gottfrieds Bibliothek und sein studentisches Notizbuch aus den 70er Jahren stellt J. F. Wippel Gottfrieds Referenzen auf die Verurteilung von 1277 zusammen. Weitere Nennungen der Verurteilungen - die Franziskaner z. B. verwerteten sie argumentativ für ihre Position im sog. Korrektorienstreit - untersucht E. P. Mahoney bei mehr als 30 Autoren bis zum Ende des 16. Jh.s, H. G. Senger beschränkt sich auf Nikolaus von Kues. Der vorliegende Band bietet auch längere Abhandlungen, z. B. diejenige von K. Emery zu Heinrich von Gent (65 Seiten) und diejenige zu Duns Scotus von Stephen Dumont (75 S.), der im Zusammenhang mit dem Band XIX der Vaticana, welche ein ganz neues Licht in die Scotus-Forschung brachte, die zentrale Frage ventiliert, ob Scotus Voluntarist oder Intellektualist sei oder ob er seine Meinung im Laufe der Zeit hierzu geändert habe.

Aus der Fülle der Resultate und Anregungen für eine Neubewertung (vgl. dazu die Einleitung von A. Speer und K. Emery), die sich aus diesem Forschungsprojekt ergeben, möchte ich folgende nennen: Die Aufsätze zeigen, dass in dem den Verurteilungen folgenden Vierteljahrhundert die verurteilten Artikel mehr Bedeutung für die Theologen als für die Kommentatoren des Aristoteles gehabt haben. Als zentrale Figur dieses letzten Viertels des Jahrhunderts erweist sich Heinrich von Gent, der als Parteigänger des Bischofs bei den Verurteilungen direkt beteiligt war und als magister theologiae (ca. 1275-1293) an der Pariser Universität sowie in Oxford einen enormen Einfluss ausübte; selbst Duns Scotus wäre ohne ihn nicht denkbar. Seine Lehren wurden kritisiert von seinem Kollegen Gottfried von Fontaine (Mag. theol. Paris 1285-1303/4), der die Aufhebung einiger verurteilter Sätze erstrebte, von Aegidius Romanus und in einigen impugnationes und correctoria vom Dominikanerorden. Dass Heinrich sogar via Intellektlehre indirekt einen Einfluss auf die Mystik hatte, zeigt K. Emery in seiner Abhandlung über Heinrichs Auslegung des augustinischen abditum mentis (De trinitate) im Quodlibet IX.15. Heinrich hat auch eine philosophische und theologische Summa geschrieben, welche den Ausgleich von Theologie und Philosophie strenger noch als Thomas versuchte. Die gängige Auffassung, die Verurteilung von 1277 hätte das Fallieren der scholastischen Synthese zwischen Philosophie und Theologie verursacht, ist also nicht haltbar. Die Thesen des Thomas über die Synthese wurden nämlich erst im 15. Jh. wichtig. Es sind wohl - eher als die Bewegung der Intellektuellen, die seit 1230 anhält und bis 1330 fortdauert - die Fragen um den Intellekt und das Wissen zentrales Diskussionsthema in der Zeit um 1277. St. Marrone ventiliert die bedenkenswerte These, dass 1277 kein "departure into unexplored territory" sei, sondern ein "return to paths temporarily abandoned in the decades of mid-century" (1240-1270), wo nämlich der aristotelische Purismus versucht wurde (280).

Die wertvollen Forschungsbeiträge des vorliegenden Bandes erfüllen ein dringend empfundenes Desiderat; sie regen auch äußerst willkommene neue Forschungen an. Der gelungene Band ist von seinem Konzept als internationales Forschungsprojekt interessant, vorbildlich und setzt neue Maßstäbe. Etwas zu bedauern ist vielleicht gerade deshalb, dass diesen innovativen Forschungen kein Begriffsregister und auch kein Register über die Bezugnahmen auf die verurteilten Sätze beigefügt wurde.