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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

189–192

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Theobald, Michael

Titel/Untertitel:

Der Römerbrief.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. XVIII, 339 S. 8 = Erträge der Forschung, 294. Kart. ¬ 21,50. ISBN 3-534-10912-0.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Horn

Die unmittelbar zurückliegende Zeit der Auslegung des Römerbriefs wurde durch fundamentale Verschiebungen in bisher bestimmenden Mustern begleitet. Ich erwähne nur die in den vergangenen Jahrzehnten von der sog. "new perspective on Paul" vorgetragenen Anfragen an die deutsche, vorwiegend lutherische Exegese, mit ihr die Neubesinnung auf den jüdischen Kontext christlicher Theologie, die Neuinterpretation der Rechtfertigungsaussagen und die Bestimmung des Anlasses und der Absicht des Römerbriefs als des wohl letzten Schreibens des Apostels. Hinzu kam in der jüngsten Vergangenheit noch die Diskussion über die Gemeinsame Erklärung der Röm.-kath. Kirche und des Lutherischen Weltbundes aus dem Jahr 1999.

Wer in der gegenwärtigen Situation Erträge der Forschung vorlegt, muss - wenn er nicht einfach ein Literaturreferat bieten will - nicht nur die immense Flut der Literatur überschauen, sondern vor allem eine Position gefunden haben, von der aus er sie sichtet, bewertet und das exegetische Gespräch führt. Dieser Aufgabe hat sich Michael Theobald, der seit seiner Dissertation vor 20 Jahren fortwährend zu Paulus gearbeitet und 1992/93 einen zweibändigen Kommentar zum Römerbrief vorgelegt hat, angenommen und sie glänzend bewältigt. Wer dieses Buch sorgsam gelesen hat, wird nicht nur über die Diskussion zum Römerbrief informiert worden sein, sondern zugleich profunder exegetischer Arbeit am Text begegnet sein und letztlich einer Interpretation gegenüberstehen, welche die oben angesprochenen Verschiebungen und Anfragen verarbeitet hat. Die von Th. eingeschlagene Linie lautet: "Auch heute muss m. E. die Devise lauten, daß Paulus vom Römerbrief als einem ökumenischen und auf Israel bedachten Schreiben, nicht aber von der Kampfepistel des Gal her zu lesen und zu deuten ist. Daß dies auch der Intention des Apostels selbst entspricht, möchte dieses Buch u.a. zeigen" (10). Ich empfehle das Buch allen, die über das übliche Einleitungswissen hinausgehen und die Theologie des Römerbriefs studieren wollen, mit Nachdruck.

Die dem Rez. gesetzten Grenzen lassen es nur zu, auf Weniges aufmerksam zu machen. In dem ersten Teil, der die literarischen Fragen thematisiert (3-114), werden in acht Kapiteln früheste Bezeugung und Kanonisierung, Textgeschichte, literarische Integrität, Veranlassung und Zweck des Schreibens, Struktur und Gattung des Briefs, Stil und Argumentationsmuster, verarbeitete Überlieferungen und die Stellung des Römerbriefs im Ganzen der paulinischen Korrespondenz behandelt. Aus diesem ersten Teil erwähne ich nur die Vorschläge, zwischen einer Kommunikation ersten Grades (mit den Adressaten des Briefs) und derjenigen zweiten Grades (dialogus cum Iudaeo) zu unterscheiden (72-74), in Röm 14,7-9 ein Lehrstück zu erkennen, das wohl ursprünglich unabhängig vom Römerbrief entstanden ist (109), Bausteine einer Paulus-Synopse zusammenzutragen (111), vor allem aber den Römerbrief als retractatio des Paulus zu seiner Rechtfertigungslehre zu interpretieren (65.112-114 u.ö.). Dies bedeutet etwa in Hinblick auf das Gesetz: Paulus ist bei der Abfassung des Röm auf dem Weg zu einem sachgemäßen Ort des Gesetzes im Gesamt seiner Theologie (118).

Damit ist bereits zum Herzstück des Buches, den theologischen Grundzügen, übergeleitet worden (115-310). Die Ausführungen folgen der Argumentation des Römerbriefs unter Beachtung der rhetorischen Dispositionsanalyse (54-62) und der Gesamtarchitektur des Briefs (49). Hierbei werden wohl, wo nötig, einzelexegetische Fragen angesprochen, im Zentrum der Darstellung steht aber die übergreifende theologische Argumentation des Römerbriefs, in dem Paulus den "umfangreichen argumentativen Stoff pragmatisch klug dispositionell verarbeitet" hat (62). Daher zögert Th. nicht, die paulinischen Ausführungen des Galaterbriefs als Vorlauf gegenüber dem Römerbrief als "Geburtsstunde christlicher Theologie" anzusprechen (130).

Th. führt die Leserin und den Leser folglich dahin, den Römerbrief nicht perikopenweise, sondern in toto zu lesen. Die propositio 1,16 f. wird als axiomatischer Einsatzpunkt für die Theologie des gesamten Schreibens gewertet (115). In dem vierten Kapitel ,Das Evangelium als Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes' werden die Dimensionen deutlich (186-223). Die Rechtfertigungslehre "dient ... der theologischen Legitimierung bzw. Rechenschaftsablegung über gewählte ekklesiologische Optionen: konkret über die Entscheidung zur bedingungslosen Heidenmission im Angesicht Israels!" (187 f.). Hierbei greift der Paulus des Römerbriefs zurück auf die "mutmaßliche antiochenische Matrix" (197), nämlich in der Bestimmung der Konstituenten des endzeitlichen Gottesvolks auf die sog. jüdischen identity markers zu verzichten (vgl. etwa Gal 2,16). Die besondere theologisch-argumentative Leistung, die Paulus bei seiner Interpretation des Grundsatzes im Römerbrief erbringt, dürfte dann darin bestehen, dass er hier versucht, "die zwangsläufige Erfolglosigkeit des Torawegs angesichts der faktischen, ,fleischlichen' Konstitution des Menschen einsichtig zu machen" (197f.). Davon wiederum ist zu unterscheiden die in Eph 2,5. 8f. vertretene Position. Hier gerät der rechtfertigungstheologische Basissatz Röm 3,28 "in das Gefälle einer individuell-anthropologischen Fragestellung der Soteriologie und verliert seine ekklesiologische Potenz, die ursprünglich seinen Impetus ausmachte" (202). Konsequent trägt Paulus diesen Basissatz im Römerbrief in sein Gottesbild ein, was in der Verwendung des Topos von der Gerechtigkeit Gottes im Sinne eines Genitivus subjectivus im Gegensatz zum Sprachgebrauch in den Briefen vor Abfassung des Römerbriefs zum Ausdruck kommt (208). Damit ist gegen Bultmann wiederum der Macht-Charakter und der apokalyptische Hintergrund dieses Topos angesprochen. Die Rechtfertigungslehre wird in Röm 9-11 über die angesprochene ekklesiologische Matrix und ihre soteriologische Vertiefung auf Israels Weg angewendet (258-285). Th. spricht der sog. Sonderweg-Hypothese das Recht zu, am ehesten dem paulinischen Text in Röm 11 zu entsprechen. Th. begreift die negative Formulierung in Röm 11,23 ,wenn sie nicht beim Unglauben bleiben' als offen für die Annahme, "daß ein erneutes, rettendes Entgegen-Kommen Gottes ein Fahrenlassen des Unglaubens erst möglich machen wird" (278). Preisgabe des Unglaubens und Bekehrung zum Evangelium werden also strikt getrennt (278). Erst unter dieser Voraussetzung kann Th. im Anschluss an Röm 1,16 f. für Juden und Heiden von ein und demselben Heilsweg des Glaubens sprechen, was "ihre tiefe Verwiesenheit aufeinander in der einen Ekklesia begründet" (289). Das Bedenken der Zuverlässigkeit des Wortes Gottes als Thema von Röm 9-11 (260) lässt Th. überkommene Auslegungsmuster verschieben. Nicht mehr die Existenz und Stellung von Röm 9-11 muss gerechtfertigt werden, vielmehr ist Röm 9-11 der Horizont, vor dem Paulus in Röm 1-8 eine theologische Explikation des Evangeliums vornimmt (118 f.).

In diesem Buch sind exegetische und theologische Auslegung hervorragend verknüpft. In gesonderten Exkursen werden spezifische Themen gelegentlich gebündelt. Die Stellungnahmen etwa zur Haltlosigkeit der Formel simul iustus et peccator im Blick auf Röm 7 (248-250), zur gegenwärtigen Hermeneutik der Sühneaussagen (181) oder zur Frage der Homosexualität im Anschluss an Röm 1,26 f. sind exegetisch präzise (,gegen die Natur' im Text wird primär auf Verweigerung vor Fortpflanzung, sekundär auf Homosexualität bezogen) und theologisch eindeutig: "Die Deutungskategorien von Röm 1 wie ,Sünde' und ,Strafe Gottes' sind damit erledigt und sollten deshalb heute aus der theologischen und kirchlichen Rede zu Fragen der gleichgeschlechtlichen Liebe verschwinden" (145).