Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

187–189

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reinbold, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Propaganda und Mission im ältesten Christentum. Eine Untersuchung zu den Modalitäten der Ausbreitung der frühen Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. IX, 386 S. gr.8 = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 188. Lw. ¬ 74,00. ISBN 3-525-53872-3.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Ausgehend von dem verbreiteten Urteil, die Frühzeit der Kirche sei eine Zeit intensiver Mission gewesen, und dem unscharfen Gebrauch des Begriffs "Mission" bzw. "missionarisch" in aktuellen ökumenischen oder ekklesiologischen Stellungnahmen, widmet sich die vorliegende Untersuchung (HabSchr. Göttingen 1998) den "konkreten Phänomene[n]" (2) der Ausbreitung des frühen Christentums. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Zeit "bis zum Ende der Verfolgungen", freilich für das 2./3. Jh. lediglich in Gestalt einer Skizze (Kap. 6, 284-341). Die Untersuchung folgt einer "prosopographische[n] Gliederung", ordnet also den Stoff nach "Personen und Gruppierungen innerhalb der ältesten Kirche ..., die in Propaganda und Mission eine wesentliche Rolle gespielt haben oder doch gespielt haben könnten" (5).

In der zuletzt zitierten Wendung deutet sich das Forschungsinteresse an, das im Fortgang der Untersuchung zu einer klar profilierten These entfaltet wird: Die Ausbreitung des Christentums sei weit weniger als bisher angenommen Ergebnis des gezielten Wirkens von Missionspredigern. Die Weltmission des Paulus sei "ein singuläres Phänomen", der Apostel selbst eine "atypische Figur". Vielmehr "verdankt sich die Ausbreitung der Kirche ... in entscheidendem Maße der individuellen Propaganda der einzelnen Schwester und des einzelnen Bruders, die ... durch ihre alltäglichen Kontakte die Gemeinschaft der Heiligen langsam aber stetig wachsen lassen" (280 f.).

Der Hauptteil der Untersuchung gliedert sich in fünf Kapitel, unter denen die letzten drei eher wie Anhänge wirken (3. Die Boten der Logienquelle und Verwandtes, 226-240; 4. Die Sieben, 241-252; 5. Weitere Missionare?, 253-278). Die maßgeblichen Befunde werden in den ersten beiden Kapiteln erhoben. Ausführlicher dargestellt werden in Kap. 1 (32-116) Petrus und Barnabas, knapper die Zwölf, der Herrenbruder Jakobus sowie die "Super-" bzw. "Falschapostel" (2Kor 11,5. 13), eher summarisch schließlich "weitere Apostel" (Andronikus und Junia, Röm 16,7; die Apostel in 1Kor 9,5; Gal 1,19; Apk 2,2; Did 11,3-6). Zu Petrus und Barnabas werden jeweils zunächst die betreffenden Abschnitte der Apg paraphrasiert und anschließend traditionskritisch analysiert. Belege aus anderen Quellen, z. B. den Paulusbriefen, werden je nach Bedarf entweder in die traditionskritische Analyse einbezogen oder im Anschluss daran behandelt. Als Fazit dieses Kapitels ergibt sich, "daß es einen klar umrissenen Begriff vom Wesen und den Aufgaben eines ,Apostels' nicht gegeben hat" (114). Das einzig Verbindende zwischen den verschiedenen Gestalten, die Apostel genannt werden, sei ihr Anspruch, zu ihrem Tun berufen zu sein, ganz unabhängig davon, worin ihr "Werk" jeweils bestanden hat.

Auch Kap. 2 zu Paulus (117-225) folgt zunächst der Darstellung der Apg, die freilich sofort traditionskritisch destruiert wird (die "erste Missionsreise" ist schon im Barnabas-Kapitel behandelt worden, das "Apostelkonzil" im Petrus-Kapitel, und 7,58-8,3 wird gar nicht berücksichtigt). Erst im zweiten Schritt wird gefragt, wie "sich der Bericht der Apostelgeschichte mit den Eigenzeugnissen des Apostels vereinbaren" lasse (117), allerdings lediglich im Zusammenhang der Frage nach der Zielgruppe der paulinischen Mission. Der Sache nach geht es dabei um die Auseinandersetzung mit neueren Arbeiten, die das Wirken des Heidenapostels in den Kontext des synagogalen Lebens der Diaspora stellen. Schließlich folgt der Versuch einer Synthese bezüglich der Modalitäten der Mission des Paulus, und zwar hinsichtlich der Kontaktaufnahme mit potentiellen Täuflingen, der Mittel der Mission, der dabei auftretenden Gegenwirkungen und Konflikte sowie paulinischer Spezifika. Insbesondere der letztgenannte Aspekt bringt wichtige Eigenarten der paulinischen Mission wie die programmatisch weltweite Ausrichtung, die Konzentration auf städtische Zentren oder die Einbeziehung einer großen Zahl von selbständig tätigen Mitarbeitern zur Geltung.

Ein Fazit zu diesem umfangreichsten Kapitel des Buches fehlt im Unterschied zu den vorangegangenen und folgenden. Offenbar sollen die hier erarbeiteten Ergebnisse unmittelbar in die Thesen am Ende der Kapitelreihe zu den neutestamentlichen Befunden einfließen (279-283). Demnach dürfe das Bild der Apg von Paulus als Weltmissionar nicht verallgemeinert werden. Selbst bei Paulus habe man sich die Modalitäten der Mission "stärker als gewohnt im Rahmen der ... Mikrokommunikation vorzustellen: Private und berufliche Kontakte ... spielen die entscheidende Rolle bei seiner Arbeit, nicht aber Missionspredigten vor großem Publikum, Reden auf dem Marktplatz und dergleichen" (281). Erst recht gelte für die übrigen Gruppen des frühen Christentums, "daß Mission und gezielte Propaganda im Prozeß der Ausbreitung der ältesten Kirche nicht die alles überragende Rolle gespielt haben werden" (280). Vielmehr seien vielerorts die Gemeinden eher so entstanden, wie man es sich für die römische vorstellen könne: Einzelne Brüder und Schwestern, vielleicht Händler oder aus anderen Gründen Reisende, brachten ihren neuen Glauben mit nach Hause, bezogen zunächst ihre Familie, später Nachbarn, Bekannte, Berufskollegen in ihn ein, und auf diese Weise wuchs Schritt für Schritt eine neue Ekklesia. Diese Ergebnisse werden am "Schluß" (342-353) im Wesentlichen wiederholt.

Das Anliegen der Untersuchung von Wolfgang Reinbold verdient Anerkennung. Sicher besteht die Gefahr, das Paulusbild der Apostelgeschichte allein schon wegen seiner Ausführlichkeit zum Modellfall urchristlicher Mission zu machen. Paulus darf im Rahmen des Urchristentums nicht isoliert werden, weder als Randgestalt ohne Kommunikation mit anderen urchristlichen Gruppierungen und Persönlichkeiten noch als alles beherrschende Zentralgestalt. Ebenfalls zu begrüßen ist der Versuch, die Gegebenheiten des Alltags-, Berufs- und Privatlebens antiker Städte in römischer Zeit und die Rolle der "einfachen Gemeindeglieder" bei der Ausbreitung des frühen Christentums in Rechnung zu stellen. Allerdings setzt ein solcher Versuch die Einbeziehung der aktuellen althistorischen und altphilologischen Forschung voraus.

Damit sind wir bei einer Reihe von gravierenden Einwänden, die sich gegenüber der vorliegenden Untersuchung erheben. Bei seinen Überlegungen zum Alltagsleben urchristlicher Gruppen setzt der Vf. allzuoft seine Vorstellungskraft an die Stelle von antiken Belegen. Neuere Untersuchungen zur römischen Sozialgeschichte sucht man in Literaturverzeichnis und Autorenregister vergeblich. Auch methodisch wird seine These und der Weg zu ihrer Begründung nicht ausreichend reflektiert. Die knappen Bemerkungen zur Forschungsgeschichte (2-5) bieten kaum mehr als eine Liste ausgewählter Standardliteratur. Auf den hier als "unbedingt einschlägig" bezeichneten Religionssoziologen R. Stark geht der Vf. erst ganz am Schluss, nach allen Textanalysen, etwas näher ein (348 f.), und "die moderne Soziologie" präsentiert er dort lediglich mit ein paar Zitaten aus einer Untersuchung von E. Katz und F. Lazarsfeld von 1955. Zwischendurch (205 f.) hatte er noch beiläufig von dem Soziologen H. Reimann die Begriffe "Primär- und Quasiprimärkommunikation" übernommen und im Anschluss an ihn den Begriff "Mikrokommunikation" geprägt, ohne seine Untersuchung dadurch methodisch zu profilieren.

Ebenso problematisch ist seine Methode der Apg-Auslegung. In Anknüpfung an die streng redaktions- und traditionskritische Acta-Forschung, wie sie klassisch durch den Kommentar von Haenchen repräsentiert ist, verbindet er radikale Kritik an der Gesamtdarstellung der Apostelgeschichte mit weitgehendem Zutrauen zu den in ihr verarbeiteten "Einzeltraditionen". Deren chronologische Einordnung und ihr Wert für die kritische Rekonstruktion der historischen Gegebenheiten muss freilich erst "mit Hilfe interner und externer Indizien ... bestimmt werden" (102 mit J. Wehnert). Hierbei sind offenbar der Kreativität des Exegeten kaum Grenzen gesetzt. Immer wieder verbindet der Vf. sein Bekenntnis zum Nichtwissen bzw. zum Schweigen der Quellen mit um so kühneren und detaillierteren Spekulationen über die Vorgänge, wie sie sich "in Wirklichkeit" abgespielt haben (Beispiele: 98 f.175 f.184 [Bekehrung des Timotheus in Lystra]; 125 f. [Lydia in Philippi]; 136-141 [Titius Justus und Krispos in Korinth]; 183 f. [der kranke Paulus in Galatien]; 222 f. [Aquila und Priska in Korinth und Ephesus]).

In diesem Zusammenhang erweist sich auch der Aufbau der Untersuchung im Paulus-Kapitel als problematisch. Zuerst wird aus der Apostelgeschichte, d. h. aus den "kritisch" aus ihr zu erhebenden Einzelüberlieferungen, ein Bild von der Paulusmission konstruiert. Dann erst werden aus den Paulusbriefen einzelne Aspekte beigebracht, die dieses Bild verdeutlichen sollen. Schließlich soll eine Synthese der beiden vorangegangenen Untersuchungsschritte erbringen, wie man sich "die Mission des Apostels konkret vorzustellen" habe (182). Bei einem solchen Vorgehen kann das paulinische Eigenzeugnis über sein Wirken und sein Selbstverständnis als Apostel nur minimiert und letztlich ignoriert werden.

Dies wird besonders deutlich, wenn man nach den theologischen Inhalten, Voraussetzungen und Zielen der Mission im frühen Christentum fragt. Zwar stellt der Vf. in der "Einleitung und Grundlegung" (1-31) Selbst- und Fremdbezeichnungen urchristlicher Gruppen zusammen und diskutiert gelegentlich auch terminologische Fragen (z. B. 167 f. zu Gal 1, 15 f.; 189 ff. zu Phil 1,12-14). Aber die Frage nach dem entscheidenden Anstoß und den treibenden Kräften der Ausbreitung der Christusbotschaft lässt er unbeantwortet. Vielleicht wird er solche Rückfragen an seine Untersuchung mit dem Argument abwehren, er wolle ja lediglich die "Modalitäten" der Ausbreitung der frühen Kirche darstellen und nicht die theologischen Anschauungen ihrer Missionare (so 6). Aber solche Ausblendung der theologischen Grundlagen der urchristlichen Mission wird weder dem Zeugnis der einzig zur Verfügung stehenden Quellen gerecht, noch kann sie auch geschichtlich die Eigenart des hier untersuchten Phänomens ausreichend erklären.

Wenn der Vf. am Schluss meint, seine These durch den Verweis auf die Verbreitung des Judentums in der antiken Mittelmeerwelt stützen zu können, die sich nach heute weitgehend geteilter Forschungsmeinung auch nicht auf organisierte Mission zurückführen lasse (347 f.), so lässt er dabei den Zeitfaktor völlig außer Acht. Während sich die jüdische Diaspora über Jahrhunderte hin ausbreitete, brauchte das Christus-Evangelium für den Weg von Jerusalem nach Rom höchstens anderthalb Jahrzehnte! Über diesen phänomenalen Befund können auch die statistischen Zahlenspiele am Ende der Untersuchung zum Wachstum der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten nicht hinwegtäuschen (349-353 im Anschluss an Lane Fox). Er wird geschichtlich nur verständlich, wenn man seine theologischen Wurzeln in Rechnung stellt.